Grenzkontrolle am Nationalfeiertag. Deutsch-französisches border making um 1900 [1]
Von Sarah Frenking
Am 14. Juli 1906 kam es am belebten modernen Grenzbahnhof der oberelsässischen Stadt Altmünsterol ( Montreux-Vieux) an der Strecke zwischen Mülhausen und Belfort zu einem Konflikt. Mit Einführung des französischen Nationalfeiertags hatte sich ab 1880 ein Festtagstourismus entwickelt, bei dem die Bevölkerung des annektierten Oberelsass die Grenze in Richtung Frankreich überquerte, um an den nationalen Festlichkeiten im französischen Belfort teilzunehmen. [2] In dem hier dargestellten Konflikt ging es um Interaktionen von GrenzgängerInnen und Grenzpolizei, den Umgang mit Gefühlsausdrücken, emotional codierten Praktiken und Dingen. [3]
In Grenzregionen waren Konflikte zwischen BürgerInnen und staatlicher Autorität besonders brisant. Während für die Grenzbevölkerung meist ein lokaler Sinn ausschlaggebend war, handelte es sich in den Augen der Verwaltung und überregionalen medialen Öffentlichkeit eben nicht nur um soziale Konflikte, sondern im Zeitalter des nation building immer auch um größere Dimensionen der Raumordnung, der Nationalisierung und Territorialisierung. Gerade in der deutsch-französischen Grenzregion, die für die Grenzbevölkerung ein in sich verflochtenes borderland mit sozialen, ökonomischen und religiösen Bezügen darstellte [4], konnten sich kleine Vorkommnisse zu großen diplomatischen Affären ausweiten. Die affektive Aufladung der Grenze, ihrer Überschreitung und des Umgangs mit Dingen trug zu dieser Brisanz bei.
Nach dem deutsch-französischen Krieg hatte das Deutsche Reich 1871 Elsass und Lothringen als „Reichsland“ annektiert, wodurch eine neue Grenze entstanden war. Während kulturhistorische Perspektiven auf Grenzen Ende des 19. Jahrhunderts in erster Linie Austausch und Verflechtung betonen [5] und migrationsgeschichtliche Studien zumeist ein „age of free migration“ in der Zeit vor 1914 konstatieren [6], sprechen sozialgeschichtliche Ansätze mitunter von einer linearen Entwicklung zur geschlossenen Grenze noch vor dem Ersten Weltkrieg. [7] Unklar bleibt jedoch in diesen Ansätzen, was „Offen-“ oder „Geschlossenheit“ überhaupt bedeutet. Nur durch den Fokus auf Situationen des Polizierens [8] lässt sich ergründen, wie Kontrollen aussahen, wer kontrollierte und kontrolliert wurde und welche Grenzerfahrungen die AkteurInnen machten.
1888 nahmen im „Reichsland“ fünf Grenzpolizeistationen ihren Dienst auf. Diese neuartige Polizei, die auf einem Transfer ähnlicher französischer Institutionen beruhte und später auch an anderen deutschen Grenzen Verwendung fand, sollte der nationalen Sicherheit dienen. [9] Bei den verantwortlichen Grenzpolizeikommissaren, die teils aus dem Elsass stammten, handelte es sich um äußerst engagierte Beamte, die einen Expertenhabitus ausbildeten und beanspruchten, den Schutz des nationalen Territoriums und der Grenze zu gewährleisten. Gemeinsam mit Gendarmen beobachteten sie Reisende und machten Verdächtige aus. Dabei nahmen sie mit Ausnahme der Jahre der Passpflichtigkeit zwischen 1888 und 1891 nur bestimmte GrenzgängerInnen – etwa Soldaten, Deserteure, der Spionage Verdächtige oder sogenannte ‚Zigeuner‘ – in den Blick, denn seit den 1860er Jahren waren Passkontrollen in Europa weitestgehend aufgehoben worden. An besonderen Tagen, wie dem 14. Juli, kontrollierten sie jedoch alle Reisenden.
Anhand der Interaktionen zwischen Grenzpolizeikommissaren und Reisenden ist das deutsch-französische border making auf den verschiedenen Ebenen der Praktiken, Konzeptionen und medialen Echos [10] nachvollziehbar. Dabei lässt sich beobachten, wer dem Nationalen welche Bedeutung beimaß und wie es das Handeln strukturierte. Politische und wissenschaftliche Konzeptionen begriffen die Grenze als klare Linie und Schutzwall, was sich auch in den Vorstellungen der Grenzpolizeikommissare findet. Auf der Ebene der Praktiken zeigt sich das Polizieren nach nationalen Kriterien, entlang von Staatsangehörigkeit und Loyalität, sowie die vielfältigen Umgangsweisen der verschiedenen AkteurInnen. Die medialen Verständigungsprozesse darüber, was an der Grenze geschah, wozu sie diente und wie ihre Kontrolle stattfinden sollte, waren vielfältig und kontrovers. Deutsche und französische Zeitungen unterschiedlicher Reichweite kommentierten rege die Funktion und Gestaltung von Kontrollen und prägten öffentliche Deutungen, auch indem sie bestimmte Emotionen transportierten.
Über jenen 14. Juli 1906 schrieb L'Alsace, eine lokale Zeitung im Territoire de Belfort: „Tout c'est passé dans la plus grande gaieté“, alles habe in größter Fröhlichkeit stattgefunden. [11] Zahlreiche ElsässerInnen seien in Sonderzügen nach Belfort gereist, denn die Entfernung zwischen Mülhausen und Belfort betrug mit dem Zug lediglich 50 km. Der Bahnhof war mit dem Schriftzug „Vive la France“ geschmückt, um die Ankommenden zu begrüßen. [12] Es fand eine revue militaire statt, die mit Militärmusik, Kanonen von der Zitadelle und Fanfaren bis zu 40.000 ZuschauerInnen anlockte. Die Feierlichkeiten waren somit auch eine sinnliche Erfahrung; sie schufen die Atmosphäre einer theatralischen Masseninszenierung und eines großen militärischen Schauspiels, um Nation und Armee miteinander zu verschränken. [13] Die Anwesenheit ziviler und militärischer Autoritäten sowie 12.000 Soldaten und Flugzeuge machten das Spektakel perfekt. Der Nationalfeiertag war darauf angelegt, öffentlich Emotionen zu produzieren, Ergriffenheit und Begeisterung zu erzeugen und eine nationale Gefühlsgemeinschaft herzustellen, in die die ElsässerInnen integriert werden sollten. [14] Elsässische, aber auch sogenannte ‚altdeutsche‘ [15], aus Preußen, Baden oder Bayern zugewanderte BewohnerInnen des „Reichslands“ ließen sich das Spektakel in Belfort nicht entgehen. Doch auch wenn das Fest die affektive Bindung an die Nation stärken sollte, lässt sich über die Zugehörigkeitsgefühle der BesucherInnen, die bei bestem Wetter den Attraktionen, Tanz- und Trinkveranstaltungen beigewohnt und das Fest nach „Herzenslust“ genossen hatten [16], nichts aussagen. Zwar ist deutlich, dass sie mit der Reise ein Bewusstsein für die nationale Grenze und die Bedeutung des Nationalfeiertages in der Grenzregion besaßen, doch waren auch lokale und regionale Identifikationen in diesem Zeitraum wichtig und die Nation nur eine Möglichkeit im Gefühlshaushalt. [17]
Vier Tage später forderte der Kreisdirektor des oberelsässischen Kreises Altkirch den Grenzpolizeikommissar Steinmetz in Altmünsterol zum Bericht auf. [18] In der Akte dokumentiert sind zwei am selben Tag erschienene Zeitungsartikel, denn innerhalb der „reichsländischen“ Verwaltung wurden elsässische und französische Zeitungen sehr genau gelesen, um sich ein Bild von der „Stimmung“ machen zu können. Dies hängt zum einen damit zusammen, dass die Presse um 1900 immer wichtiger für die internationalen Beziehungen wurde. [19] Zum anderen ging es der Verwaltung um Loyalität im Kontext der „Germanisierungsbestrebungen“. Damit sind die Versuche, das „Reichsland“ in eine „deutsche Kulturprovinz“ umzuwandeln, gemeint, die etwa im Austausch von Beamten, Sprachregelungen und dem Verbot pro-französischer Ausrucksformen bestanden. [20] Die Loyalität der BewohnerInnen, die durch die Annexion deutsche Staatsangehörige geworden waren, unterlag Zweifeln. [21]
Die Straßburger Bürgerzeitung, eine der wichtigen liberalen Zeitungen des Elsass, berichtete unter dem Titel „Lieb' Vaterland, magst ruhig sein!“, dass eine große Anzahl Mülhäuser anlässlich der Truppenparade nach Belfort gereist sei, wo sich viele „zum Andenken […] ein Trikolorschleifchen für 10 Cts. [kauften] und […] dasselbe bei der Rückkehr an ihre Brust“ steckten. Daraufhin habe in Altmünsterol der Grenzpolizeikommissar Steinmetz einer „großen Zahl Zurückkehrender das dreifarbige Schleifchen vom Knopfloch“ gerissen. Dies griff auch der Artikel „Das gerettete Vaterland!“ der katholischen Oberelsässischen Landeszeitung[22] auf. Damit erschien die Grenzkontrolle als körperlicher Eingriff, und der Artikel betonte die demütigende Erfahrung der Reisenden, die allerdings durch Beschwerden auch ihre Handlungsfähigkeit gezeigt hatten. Darüber hinaus versah der Artikel dieses unverhältnismäßige Vorgehen mit Empörung, die mit dem Verweis auf die deutsch-französischen Beziehungen noch verstärkt wurde: „so geschehen am 14. Juli 1906 in Friedenszeit!“ Damit betonte er zum einen die Möglichkeit, dass sich auch kleine Vorfälle zu Affären ausweiten und den Frieden gefährden konnten, zum anderen aber vor allem, dass derartige Polizeimaßnahmen als unverhältnismäßig erschienen. Seit den Passmaßnahmen zwischen 1888 und 1891 standen die Grenzpolizeikommissare als stereotype Figuren nicht nur in der französischen, sondern auch in der liberalen deutschen Presse in der Kritik. Dies hing zum einen mit einer allgemeineren Polizeikritik in diesem Zeitraum zusammen. [23] Seit den 1890er Jahren befasste sich eine breite, vor allem liberale, (Presse-)Öffentlichkeit vermehrt mit Klagen über polizeiliche Brutalität. [24] Zum anderen waren Grenzkontrollen, zumal entlang der Nationalität, als unmodern kritisiert worden und hatten bei den Reisenden Empörung hervorgerufen. Ähnlich wurde jetzt die polizeiliche Praxis an der Grenze kritisch diskutiert.
Ironisch fragte die Straßburger Bürgerzeitung: „Welch schreckliches Unheil hätte auf deutschem Boden das armselige Trikolorbändchen wohl angerichtet.“ Der Bericht persiflierte also die Idee, das nationale Territorium schützen zu müssen. Auch der Bezug auf die Wacht am Rhein („Lieb’ Vaterland, magst ruhig sein / Fest steht und treu die Wacht am Rhein!“), eine der nationalen Hymnen des Kaiserreichs, die um 1900 vielfach parodiert wurde, kritisierte deutlich die Praktiken und das Selbstverständnis des Grenzpolizeikommissars. Als antifranzösisches Lied, gerade im Kontext des deutsch-französischen Kriegs, stand es für Aggression. [25] Zugleich erinnerte es an die Rheinkrise von 1840 und griff damit eine Konzeption der Grenze auf, die vor allem als Schutz des (zukünftigen) nationalen Territoriums diente. [26] Diese Konzeption, die auch bei der Annexion des „Reichslands“ zum Tragen gekommen war, stellte die Straßburger Bürgerzeitung grundlegend in Frage.
Beide Artikel, obwohl sie aus politisch unterschiedlichen Zeitungen und verschiedenen Städten stammten, waren sich also nicht nur einig, sondern bezogen sich fast gleichlautend auf den Vorfall, dessen Schilderung sie „Blättermeldungen“, konkreter der Mülhauser Bürgerzeitung, entnommen hatten. Diese Einigkeit hängt damit zusammen, dass elsässische Zeitungen regionaler Reichweite im Gegensatz zu überregionalen deutschen oder französischen immer wieder die nationale Bedeutung von Grenzzwischenfällen schmälerten und stattdessen die alltäglichen Erfahrungen der Grenzbevölkerung schilderten. Was beide Zeitungen jedoch nicht erwähnten oder durch das Diminutiv „Schleifchen“ herunterspielten: Aufgrund der „Germanisierungsbestrebungen“ war neben dem Singen der Marseillaise in Elsass-Lothringen im Sinne nationaler Loyalität auch die Verwendung französischer Hoheitssymbole verboten. Auf den Grenzpolizeikommissar hatten die Schleifen und Fahnen als „nationale Dinge“ dementsprechend handlungsauffordernd gewirkt. [27]
Mit den Zeitungsartikeln gab es nunmehr eine bestimmte Perspektive auf den Konflikt, die einer Reaktion bedurfte. Der Grenzpolizeikommissar Steinmetz musste sich für die öffentliche Kritik innerhalb der Verwaltung rechtfertigen. Neben seinem Bericht schickte er die „abgenommenen Fahnen und Trikolorschleifchen“ an den Kreisdirektor und unterstrich so die Faktizität der Ereignisse durch die beigefügten Objekte des Anstoßes. Er begann den Bericht, indem er eine Vermutung über die emotionalen Motive des Artikelschreibers voranstellte: Der „Geschäftsagent“ aus Altmünsterol wolle sich an ihm rächen, weil Steinmetz gegen ihn als Zeuge in einem Prozess ausgesagt hatte. [28] Er nahm also den Vorgang an der deutsch-französischen Grenze aus seinem symbolisch hoch aufgeladenen (inter-)nationalen Kontext heraus und brach ihn auf das Verhältnis zweier Männer zueinander herunter, um dem Vorfall gleich zu Beginn seiner Schilderungen die politische Brisanz zu nehmen. Dies stellte einen Versuch dar, die Rechtmäßigkeit seines Vorgehens zu bekräftigen, wie es sich in den Berichten der Grenzpolizeikommissare immer wieder finden lässt. Es war nicht ungewöhnlich für Polizeiberichte, dass es zu Trivialisierungen kam, um sich der Manöverkritik und dem Rechtfertigungsdruck der vorgesetzten Stellen zu entziehen. [29]
Im Anschluss schilderte Steinmetz die entscheidende Situation: Am Ausgang des Zollrevisionssaales habe einer der Gendarmen Personen, „welche mit Trikolorschleifchen an der Brust […] eintrafen“, aufgefordert, diese abzunehmen. Der „Aufforderung leisteten auch die […] Leute, an deren Bartschnitt man erkennen konnte, daß sie früher in französischen Diensten gestanden hatten, Folge“. Steinmetz betonte also, dass selbst französische Veteranen oder ehemalige Beamte mit dem Vorgehen der Grenzpolizei kein Problem hatten und zeichnete das Bild einer unkomplizierten, besonnenen Situation. Deutlich wies er die Verantwortung für den Konflikt ganz bestimmten Personen, „zweifelhaften Frauenzimmern“ und „kaum vom deutschen Militär zugelassenen Burschen“ zu. Er schrieb den Reisenden Trotz, Provokation und nicht zuletzt eine bewusste Störung seiner Autorität und der nationalstaatlichen Ordnung zu. Dabei stellte er einen gezielten polizeilichen Blick zur Schau, mit dem er die problematischen GrenzgängerInnen aufgrund seiner Expertise zu erkennen vorgab. Steinmetz inszenierte sich so als wachsamen, integren und professionellen Beamten, der gegenüber illoyalen ElsässerInnen verhältnismäßig gehandelt habe.
Doch dass einige der nationalfarbenen Objekte nicht „entfernt“ werden konnten und nicht „verschwanden“, bedeutete, dass die Kontrolle fehlgeschlagen war. Zwar sicherte der Grenzpolizeikommissar einige „Fahnen“ und „Schleifchen“ als Beweise des Vergehens, um sie schließlich an den Kreisdirektor zu schicken. Doch die Kontrolle, die nicht nur darin bestand, das Symbol zu unterdrücken, sondern auch die „französischen Dinge“ zurückzuweisen, sowie die damit verbundenen Praktiken des „sich an die Brust Steckens“ und „Winkens“ beim Grenzübertritt zu unterbinden, scheiterte und wurde noch dazu mit dem Ausruf des eindeutigsten Bekenntnisses, trotz Anwesenheit von Autoritäten, untergraben: „Vive la France“.
Was sagen die Zeitungsartikel und Steinmetz' Bericht über das Verhältnis von Emotionen und grenzpolizeilicher Kontrolle? Es ist nicht möglich zu ergründen, was die GrenzgängerInnen wirklich fühlten, aber es lässt sich etwas darüber aussagen, wie Steinmetz es interpretierte. Zunächst ist sein Bericht in einen emotionalisierten Diskurs über die „Konkurrenz nationaler Repräsentationsformen“ in der Grenzregion einzuordnen. [30] Deutlich wird in dem Zusammenhang auch, dass er emotionale Semantiken verwendete, was dem eigentlich typischen Jargon von Verwaltungsberichten widerspricht. Darüber hinaus zeigt sich, dass er den Konflikt so wahrnahm, dass dieser seine Schärfe vor allem aus praktischen Gefühlsbekundungen zog und dass es ihm um die Präsenz der „nationalen Dinge“ ging. Da der Grenzpolizeikommissar nur in Ausnahmefällen Reisende befragen durfte, konnte er sich kein Bild über ihre Einstellungen und ihren Gefühlshaushalt machen, sondern nur Symbole, Objekte, Reden und Handeln deuten [31], um adäquat zu können. Für Steinmetz verwiesen demnach die Symbole Fahnen und Trikoloren, der Ausruf „Vive la France“ und das Fahnenschwenken als eine expressive Geste [32] auf unerwünschte Emotionen, nämlich nationale Gefühlsbekundungen. Seine Einschätzung beruhte auf der Annahme, dass diesen Praktiken ein bestimmtes Gefühl zugrunde lag: französisches Nationalgefühl.
Doch ist Nationalgefühl eine Konstruktion, kein analytischer Begriff, der die tatsächlichen Gefühle von Menschen beschreibt. [33] Hier aber wurde es für den Grenzpolizeikommissar handlungsleitend. So zeigt sich am Vorsatz, die Praktiken und die Grenzüberschreitung der „nationalen Dinge“ zu unterbinden, der Versuch, die Identifikation mit der Nation, das Zugehörigkeitsgefühl und die Loyalität zu kontrollieren. Dies war insbesondere an diesem Tag von Bedeutung: Durch den Grenzübertritt der Trikoloren, drohten die Reisenden die klare Grenze zwischen den Nationen zu verwischen, sodass Steinmetz umso stärker darauf achten musste, die „Gefühlsgrenze“ aufrecht zu erhalten und eine emotionale Trennung durchzusetzen, um klar unterscheidbare Gefühlsgemeinschaften und die Ordnung der imagined emotional community[34] durch die Grenze zu gewährleisten. So fungierte die Grenzpolizeistelle im Bahnhof als emotionale Schwelle zum Territorium des Deutschen Reichs, das sich der Loyalität seiner elsässischen EinwohnerInnen immer wieder versichern musste, und als Transitbereich, wo die Zurückkehrenden die Zeichen und Dinge der Loyalität mit Frankreich ablegen sollten. Als materielle Objekte des Nationalen konnten die Grenzpolizeibeamten sie konfiszieren und als Beweise eines Gefühlsausdrucks der höheren Verwaltung zukommen lassen. Mit der Kontrolle von Gefühlspraktiken [35] und damit verbundenen Dingen ließ sich vermeintlich die Inkohärenz zwischen Staatsgebiet und dem Ausdruck nationaler Gefühle beseitigen und eine Form nationalstaatlicher Ordnung herstellen.
Doch das Handeln der Reisenden am Bahnhof und der Besuch der Feier in Belfort waren viel ambivalenter. Das Fest war in erster Linie ein Schauspiel, das der Unterhaltung diente. Und auch die gemeinsame Fahrt dorthin und von dort zurück in Sonderzügen produzierte gewiss eine emotionale Dynamik der Reisenden. Allerdings wurde „Vive la France“ an der Grenze häufig gerufen und bei weitem nicht nur von französischen Patrioten: Auch „Altdeutsche“, die die Grenzüberschreitung zum aufregenden Spektakel werden ließen, verwendeten diesen Ausruf. Für die Reisenden war die Grenze somit ein Ort, der sich auf vielfältige Weise nutzen ließ. Sie bedienten sich der Grenze und ihres Personals und inszenierten die Überschreitung als Spektakel. Ähnlich verhielt es sich mit den Andenken, als das hier auch eine „Dame aus Berlin“ eine Trikolore über die Grenze brachte. [36] Die Dinge, die die Grenze überquerten, konnten demnach unterschiedlich genutzt und verstanden werden: Sie stellten als Souvenirs für TouristInnen den Beweis dar, auf der anderen Seite gewesen zu sein, für den Grenzpolizeikommissar handelte es sich hingegen um „gefährliche“ Objekte. Während sie für ihn eine Handlungsaufforderung darstellten, machten die Reisenden einen mitunter eigensinnigen Gebrauch von ihnen. [37] Die vermeintlich eindeutigen „nationalen Dinge“ hatten somit keine festgelegte Bedeutung. [38]
Dennoch erfuhren die Reisenden die Grenze und ihre Polizeibeamten als handfeste Begegnung mit einer Institution und als körperlichen Eingriff. Sie kamen hier mit einer Grenze in Kontakt, an der nicht nur die Kontrolle der Staatsangehörigkeit, sondern auch der (unerwünschten) Gefühle – Ausdrucksformen der Illoyalität, pro-französischer oder anti-deutscher Einstellungen – stattfand. Als nationalstaatliche Grenze fungierte sie insofern, als dass es hier um eine symbolische Ordnung ging, die nationale Unterschiede zwischen Menschen, ihrem Zugehörigkeitsgefühl und den damit verbundenen Praktiken markierte und das grenzpolizeiliche Personal entsprechend handeln ließ. Der Fall zeigt, dass die komplexe und widersprüchliche Nationalisierung der Grenze sich nur mit einem genauen Blick auf die beteiligten AkteurInnen, ihre Praktiken und ihre Dinge begreifen lässt.
[1] Essay zur Quelle: Quellen Grenzkontrollen 14. Juli 1906, in: Themenportal Europäische Geschichte, 2020, .
[2] Es ist von etwa 1000 bis 2500 GrenzgängerInnen auszugehen, vgl. Annette Maas, „À l'extrême frontière...“, Grenzerfahrungen in Lothringen nach 1870, in: Lieselotte Kugler (Hg.), GrenzenLos. Lebenswelten an Saar und Mosel seit 1840, Saarbrücken 1998, S. 54–77, hier S. 65.
[3] Die Literatur zum Verhältnis von Nation und Emotion konzentriert sich vor allem auf die Repräsentation des Nationalen, vgl. Étienne François, Hannes Siegrist, Jakob Vogel (Hg.), Nation und Emotion. Deutschland und Frankreich im Vergleich. 19. und 20. Jahrhundert, Göttingen 1995.
[4] Vgl. Michiel Baud, Willem van Schendel, Toward a Comparative History of Borderlands, in: Journal of World History 8 (1997) 2, S. 211–242; Kathrin Lehnert, Die Un-Ordnung der Grenze. Mobiler Alltag zwischen Sachsen und Böhmen und die Produktion von Migration im 19. Jahrhundert, Leipzig 2017.
[5] Etwa Günter Riederer, Staatsgrenze, touristisches Ausflugsziel und Ort der Begegnung. Deutsche und französische Grenzerfahrungen am Col de la Schlucht im Elsass, 1871–1918, in: Christophe Duhamelle, Andreas Kossert, Bernhard Struck (Hg.), Grenzregionen. Ein europäischer Vergleich vom 18. bis zum 20. Jahrhundert, Frankfurt am Main 2007, S. 203–224.
[6] Etwa Jan Lucassen, Leo Lucassen, Migration, Migration History, History. Old Paradigms and New Perspectives, Bern 2005.
[7] Etwa Jürgen Osterhammel, Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, München 2009, S. 180.
[8] Alf Lüdtke, Einleitung. „Sicherheit“ und „Wohlfahrt“. Aspekte der Polizeigeschichte, in: ders. (Hg.), „Sicherheit und Wohlfahrt“. Polizei, Gesellschaft und Herrschaft im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt am Main 1992, S. 7–36, hier S. 26.
[9] 16. Februar 1888 Anweisung betreffend den Dienstbetrieb der Grenzpolizeistellen, ADBR 69 AL 313; Dienstanweisung von 1907, ADHR 01 AL 1 2094.
[10] Vgl. dazu die raumtheoretischen Überlegungen von Henri Lefebvre, La Production de l'Espace, Paris 1974.
[11] L'Alsace, 14. Juli 1906.
[12] Vgl. Jean-Christophe Tamborini, Un territoire de défense. Dix siècles de présence militaire dans le département, Belfort 2010, S. 45.
[13] Vgl. Jakob Vogel, Militärfeiern in Deutschland und Frankreich als Rituale der Nation (1871–1914), in: Étienne François, Hannes Siegrist, ders. (Hg.), Nation und Emotion. Deutschland und Frankreich im Vergleich, Göttingen 1995, S. 199–214, hier S. 205.
[14] Vgl. Étienne François, Hannes Siegrist, Jakob Vogel, Einleitung. Die Nation. Vorstellungen, Inszenierungen, Emotionen, in: dies. (Hg.), Nation und Emotion. Deutschland und Frankreich im Vergleich, Göttingen 1995, S. 13–38, hier S. 26.
[15] Sie stellten einen Großteil der neuen Beamtenschaft, vgl. Günter Riederer, Feiern im Reichsland. Politische Symbolik, öffentliche Festkultur und die Erfindung kollektiver Zugehörigkeiten in Elsaß-Lothringen (1871–1918), Trier 2004, S. 219, S. 405–410.
[16] L'Alsace, 14. Juli 1906.
[17] Vgl. Günter Riederer, Zwischen „Kilbe“, „coiffe“ und Kaisergeburtstag. Die Schwierigkeiten nationaler und regionaler Identitätsstiftung in Elsaß-Lothringen (1870–1918), in, Michael G. Müller, Rolf Petri (Hg.), Die Nationalisierung von Grenzen. Zur Konstruktion nationaler Identität in sprachlich gemischten Grenzregionen, Marburg 2002, S. 109–136, hier S. 119; vgl. Siegfried Weichlein, Nation und Region, Integrationsprozesse im Bismarckreich, Düsseldorf 2006, S. 14–27; zum elsässischen Regionalismus vgl. Riederer, Feiern, S. 435.
[18] GPK Steinmetz an KD Altkirch, 23. Juli 1906, ADHR 01 AL 1 2094.
[19] Vgl. etwa Dominik Geppert, Pressekriege. Öffentlichkeit und Diplomatie in den deutsch-britischen Beziehungen (1896–1912), München 2007.
[20] Vgl. Roth, François, Alsace-Lorraine. Histoire d'un „pays perdu“ de 1870 à nous jours, Paris 2016, S. 48; Rehm, Max: Reichsland Elsass-Lothringen. Regierung und Verwaltung 1871-1918, Bad Neustadt 1992, S. 35.
[21] Vgl. Detmar Klein, Battleground of Cultures. Politics of Identities and the National Question in Alsace under German Imperial Rule (1870–1914), in: Revue d’Alsace 132 (2006), S. 4.
[22] Die katholische Bevölkerung des „Reichslandes“ stand meist in Opposition zur deutschen Regierung, vgl. Dan P. Silverman, Reluctant Union. Alsace-Lorraine and Imperial Germany, 1871–1918, University Park 1972.
[23] Vgl. Dominique Kalifa, Pierre Karila-Cohen, L'homme de l'entre-deux. L'identité brouillée du commissaire de police au XIXe siècle, in: dies. (Hg.), Le commissaire de police au XXe siècle, Paris 2008, S. 7–26, hier S. 13.
[24] Vgl. Lüdtke, Sicherheit und Wohlfahrt, S. 14.; Anja Johansen, Complain in Vain? The Development of a „Police Complaints Culture“ in Wilhelmine Berlin, in: Crime, Histoire & Sociétés / Crime, History & Societies 13 (2009) 2, S. 119–142, hier S. 122.
[25] Vgl. Stefan Jordan, Art. Schneckenburger, Max, in: Neue Deutsche Biographie 23 (2007), S. 279–280.
[26] Vgl. Thomas Höpel, Der deutsch-französische Grenzraum: Grenzraum und Nationenbildung im 19. und 20. Jahrhundert, in: Europäische Geschichte Online (EGO) (http://www.ieg-ego.eu/hoepelt-2012-de, letzter Zugriff am 20.08.20).
[27] Vgl. Marian Füssel, Die Materialität der Frühen Neuzeit. Neuere Forschungen zur Geschichte der materiellen Kultur, in: Zeitschrift für Historische Forschung 42 (2015), S. 433–463, hier S. 450.
[28] Ladung Amtsgericht Dammerkirch, 27. Februar 1906, ADHR 01 AL 1 2094.
[29] Vgl. Thomas Karl Ley, Polizeioperationen und Polizeiberichte, Bielefeld 1992, S. 37.
[30] Wolfgang Kaschuba, Die Nation als Körper. Zur symbolischen Konstruktion „nationaler“ Alltagswelt, in: Étienne François, Hannes Siegrist, Jakob Vogel (Hg.), Nation und Emotion. Deutschland und Frankreich im Vergleich. 19. und 20. Jahrhundert, Göttingen 1995, S. 291–299, hier S. 294.
[31] Damit sind Gefühlsausdrücke im Sinne sozialer Signale gemeint; vgl. Barbara H. Rosenwein, Problems and Methods in the History of Emotions, in: Passions in Context. Journal of the History and Philosophy of the Emotions 1 (2010), o.S.; Alexandra Przyrembel, Sehnsucht nach Gefühlen. Zur Konjunktur der Emotionen in der Geschichtswissenschaft, in: L’Homme 16 (2005) 2, S. 116–124, hier S. 122.
[32] Vgl. Ute Frevert, Vertrauen. Historische Annäherungen an eine Gefühlshaltung, in: Claudia Benthien, Anne Fleig, Ingrid Kasten, Emotionalität. Zur Geschichte der Gefühle, Köln 2000, S. 178–197, hier S. 180–182.
[33] Vgl. Benedict Anderson, Erfindung der Nation. Zur Karriere eines folgenreichen Konzepts, Frankfurt am Main 2005, S. 17. „Nationalgefühl“ war zeitgenössisch auch „das „Bewußtsein der […] Zusammengehörigkeit“, das den „Gegensatz zwischen der einen und der anderen Nation hervortreten lässt“. Art. Nation, in: Meyers Konversations-Lexikon (1895), S. 442.
[34] Rosenwein, Problems and Methods, weist darauf hin, dass die „imagined community“ der Nation (Benedict Anderson) auch als „emotional community“ gefasst werden kann.
[35] Vgl. Daniela Saxer, Mit Gefühl handeln. Ansätze der Emotionsgeschichte, in: Traverse. Zeitschrift für Geschichte 14 (2007) 2, S. 15–29.
[36] Auch Riederer, Staatsgrenze, S. 217, verweist darauf, dass „Altdeutsche“ am Grenzpass Col de la Schlucht Trikoloren zum Andenken kauften.
[37] Vgl. Füssel, Materialität, S. 452 f.
[38] Vgl. Rebekka Habermas, Peitschen im Reichstag oder über den Zusammenhang von materieller und politischer Kultur. Koloniale Debatten um 1900, in: Historische Anthropologie 3 (2015), S. 391–412, S. 393.
Literaturhinweise
Günter Riederer, Staatsgrenze, touristisches Ausflugsziel und Ort der Begegnung. Deutsche und französische Grenzerfahrungen am Col de la Schlucht im Elsass, 1871–1918, in: Christophe Duhamelle, Andreas Kossert, Bernhard Struck (Hg.), Grenzregionen. Ein europäischer Vergleich vom 18. bis zum 20. Jahrhundert, Frankfurt am Main 2007, S. 203–224.
Étienne François, Hannes Siegrist, Jakob Vogel (Hg.), Nation und Emotion. Deutschland und Frankreich im Vergleich. 19. und 20. Jahrhundert, Göttingen 1995.
Benedict Anderson, Erfindung der Nation. Zur Karriere eines folgenreichen Konzepts, Frankfurt am Main 2005.
Alf Lüdtke, Einleitung. „Sicherheit“ und „Wohlfahrt“. Aspekte der Polizeigeschichte, in: ders. (Hg.), „Sicherheit und Wohlfahrt“. Polizei, Gesellschaft und Herrschaft im 19. und 20.
Barbara H. Rosenwein, Problems and Methods in the History of Emotions, in: Passions in Context. Journal of the History and Philosophy of the Emotions 1 (2010), o. S.