Auszüge aus den Ansprachen der Abgeordneten Dr. Ludwig Marum (SPD) und Dr. Eduard Ludwig Alexander (KPD) (2. Dezember 1929).

"Im Zusammenhang mit diesen Fragen der Auslieferung wegen politischen Mordes spielte die Frage des politischen Asylrechts eine Rolle. Es liegen auch heute wieder Anträge der Kommunistischen Partei vor, dieses politische Asylrecht in das Gesetz einzuarbeiten. Wir sind der Meinung, daß das nicht in dieses Gesetz gehört, daß vielmehr ein besonderes Gesetz gemäß Artikel 7 der Reichsverfassung geschaffen werden muß, durch welches das Fremdenrecht einschließlich des politischen Asylrechts geregelt wird. [...]"

Auszüge aus den Ansprachen der Abgeordneten Dr. Ludwig Marum (SPD) und Dr. Eduard Ludwig Alexander (KPD) anlässlich der Zweiten Beratung des Deutschen Auslieferungsgesetzes, 106. Sitzung des Reichstages, Montag, den 2. Dezember 1929[1]

[Inhaltlich unveränderte Version: 2017]

Auszug aus der Rede des Abgeordneten Dr. Marum, SPD[2]:

„Im Zusammenhang mit diesen Fragen der Auslieferung wegen politischen Mordes spielte die Frage des politischen Asylrechts eine Rolle. Es liegen auch heute wieder Anträge der Kommunistischen Partei vor, dieses politische Asylrecht in das Gesetz einzuarbeiten. Wir sind der Meinung, daß das nicht in dieses Gesetz gehört, daß vielmehr ein besonderes Gesetz gemäß Artikel 7 der Reichsverfassung[3] geschaffen werden muß, durch welches das Fremdenrecht einschließlich des politischen Asylrechts geregelt wird.

Bei der Besprechung des politischen Asylrechts hat der Fall Trotzki eine Rolle gespielt[4], der für sich ein politisches Asylrecht in Deutschland in Anspruch genommen hat. Die Sachlage ist hier so, daß begrifflich im Falle Trotzki die Frage des politischen Asylrechts eigentlich gar nicht vorliegt. Von einem politischen Asylrecht kann man doch nur dann sprechen, wenn es sich um einen politischen Flüchtling handelt. Das ist aber bei Trotzki nicht der Fall, sondern hier handelt es sich um einen aus seinem Vaterlande Verbannten, der nicht freiwillig aus seinem Vaterlande geflüchtet ist, um sich politischen Verfolgungen zu entziehen. Außerdem aber ist es ein starkes Stück von Trotzki, der selbst das politische Asylrecht nicht anerkennt, sondern allen politisch Andersdenkenden, solange er an der Macht war, in jeder Weise mit den schärfsten Gewaltmitteln, sei es auch mit Todesurteil, Verbannung und Vertreibung, entgegengetreten ist, wenn er heute verlangt, ihm müsse aus demokratischen Prinzipien ein Asylrecht gegeben werden. Wäre etwa in Rußland ein politisches Asylrecht für Sozialdemokraten auch nur denkbar? In gar keiner Weise! Trotzdem bedaure ich, daß die deutsche Regierung ebenso wie andere europäische Regierungen Trotzki kein Asyl gegeben hat. Ich habe zwar volles Verständnis dafür, daß die Regierung aus Gründen der Sicherheit der demokratischen Republik ihre Entscheidungen getroffen hat, bin aber der Meinung, daß es auch bei Anwesenheit Trotzkis möglich gewesen wäre, sich vor Mißbrauch des Aufenthaltsrechts zu schützen. Auf jeden Fall glaube ich, daß die Frage des politischen Asylrechts in dem Ausführungsgesetz zu Artikel 7 der Reichsverfassung geregelt werden muß.“

Auszug aus der Rede des Abgeordneten Dr. Alexander, KPD[5]

„Herr Marum hat gemeint, man müsse das Asylrecht vom Auslieferungsrecht trennen; denn beide seien verschiedene Sachen. Wir sind auch hierin anderer Meinung. Wir glauben, wie wir das auch im Ausschuß betont haben, daß grundsätzlich vom Asylrecht auszugehen ist, wenn man Auslieferungsrecht regeln will, daß nicht das Asyl, die Nichtauslieferung, eine Ausnahme von der grundsätzlich allgemein zugelassenen Auslieferung sein soll, sondern umgekehrt die Auslieferung eine Ausnahme von dem grundsätzlich zugelassenen Asyl. Sie haben diesen unseren Standpunkt abgelehnt. […]

Besteht ein Asyl in Deutschland? Nein! Es besteht weder rechtlich – alle bürgerlichen Staaten lehnen ja überhaupt das Recht des Aufenthalts eines Fremden in ihrem Lande ab – noch besteht es tatsächlich. In den meisten Fällen ist es so, daß überhaupt nicht das Schicksal eines Fremden, eines politisch Verfolgten in Deutschland bis zur Auslieferung gedeiht, daß er vielmehr schon vorher abgeschoben wird, nicht mit Hilfe des langwierigen Auslieferungsverfahrens, sondern mit Hilfe der Polizeiwillkür, mit Hilfe der Ausweisung durch die Polizei. Dabei kann es gar keinem Zweifel unterliegen, das heute für die Masse der Werktätigen die Frage des Schutzes in einem fremden Lande, die Frage des Rechts auf Asyl viel brennender ist, als sie in früheren Jahrzehnten war. Die politische Emigration von Werktätigen ist zu einer Massenerscheinung geworden. Sehen Sie nur nach Italien, wo unter der Herrschaft Mussolinis jeder, der auch nur versucht, Opposition gegen den Faschismus zu machen, verfolgt, gemartert, gehetzt wird, so daß er schließlich flüchten muß, wenn er überhaupt noch politisch tätig sein will. Genau so ist es in Polen, genau so in den Terrorländern des Balkans, in Rumänien, in Bulgarien. Überall werden diejenigen, die für die Interessen der Werktätigen gegen das herrschende Regime auftreten, verfolgt und über die Grenze gejagt.

Was erwarten sie nun, wenn sie an der Grenze in ein fremdes Land kommen? Werden sie aufgenommen? In dieser Beziehung ist, glaube ich, eine große Wandlung gegenüber der Zeit vor dem Kriege zu konstatieren. Selbst diejenigen Länder, die als die klassischen Länder des Asyls in der liberalen Zeit der kapitalistischen Staaten galten, selbst England, selbst die Schweiz, haben in der Frage des Asyls eine wesentliche Wandlung durchgemacht. Soweit es sich um Werktätige handelt, verweigern sie das Asyl und weisen aus. Die politische Emigration des Vormärzes, die nach dem Jahre 1848 war ihrer Klassenzusammensetzung nach ja eine ganz andere als die von heute. Diejenigen, die damals nach England kamen oder die in die Schweiz oder in Belgien Asyl suchten, waren die Anhänger der fortgeschrittenen Bourgeoisie, die gegen das feudale Preußen, gegen das feudale Rußland kämpften. Sie fanden in England Aufnahme als Fleisch vom Fleische der englischen Bourgeoisie. Oder es waren sozialistische Wissenschaftler, die man zuließ, weil sie für Träumer, für Utopisten gehalten wurden. Alles das ist heute ganz anders geworden. Inzwischen haben diese Utopisten, diese Träumer gezeigt, daß sie die Staatsmacht erobern können, und sie haben die Staatsmacht mit eiserner Faust festgehalten. Nun sehen wir auf einmal, wie die Frage des Asyls eine andere wird, selbst in England, selbst in der Schweiz und auch in Deutschland. Die Werktätigen, die Anhänger der Befreiung der Werktätigen, der proletarischen Revolution finden nirgendwo mehr ein Asyl, denn sie sind Klassenfeinde der bürgerlichen Gesellschaft und ihres Staats. Die Frage des Asyls wird eben von der Bourgeoisie trotz aller Redensarten von dem allgemeinen Menschenrecht auf Schutz vor politische Verfolgung durchaus als eine Klassenfrage behandelt.

Wenn ein solcher politischer Flüchtling sich an der deutschen Grenze meldet, weil er wegen einer politischen Straftat verfolgt wird […], was geschieht dann mit ihm unter der Herrschaft sozialdemokratischer Innenminister, Polizei- und Regierungspräsidenten? Er wird sofort verhaftet, und zunächst, weil er keine Papiere und keine Einreiseerlaubnis hat, zu 14 Tagen Gefängnis verurteilt. Wenn er dann seine Haft abgesessen hat und freigelassen worden ist, wird er ausgewiesen. Mir scheint es eine freche Verhöhnung des politischen Flüchtlings zu sein, wenn man von ihm beim Grenzübertritt einen Paß oder Ausweis fordert; denn er bekommt ja keinen in seinem Heimatstaat, weil er doch wegen gerade seiner politischen Betätigung flüchten muß.

Gewiß; Sie liefern ihn nach § 3 des Auslieferungsgesetzes nicht aus. Sie machen sich das bequemer: Sie lassen es gar nicht zu einem Auslieferungsverfahren kommen. Sie machen eine feine juristische Unterscheidung. Daß juristische Gewissen des Herrn Marum mag sich damit beruhigen. Tatsächlich aber bedeutet dieses ganze Verhalten, von dem wir jeden Monat, ja jede Woche fast zahlreiche Fälle erleben, gegenüber dem politischen Flüchtling, der wegen Fehlens eines Passes verurteilt und dann über die Grenze abgeschoben wird, die willkürliche Verweigerung des Asyls durch die Polizei, ohne daß überhaupt das Auslieferungsgesetz […] in Bewegung gesetzt zu werden braucht. Sie brauchen gar nicht die Oberlandesgerichte, um zu Ihrem Ziel der Nichtaufnahme politischer Flüchtlinge zu kommen. Das ist das Entscheidende. […]

Wir sind der Meinung, daß zunächst das Asyl vor der Auslieferung zu regeln ist, wie ich das vorhin schon dargelegt habe, und daß es darum verboten sein muß, daß ein Fremdling, der wegen politischer Gründe verfolgt wird und über die Grenze kommt, deshalb bestraft werden kann, weil er keine Ausweispapiere hat. Nach unseren Anträgen soll er nicht ausgewiesen werden dürfen, soll er ein Recht auf Aufenthalt bekommen.

Unsere Anträge richten sich vor allem gegen die Willkür der Polizei; denn die Willkür der Polizei, die durch das Auslieferungsverfahren nicht gehemmt wird, bringt es mit sich, daß die politischen Fremdlinge keine Ruhe, keinen Aufenthalt in Deutschland finden, daß sie von Grenze zu Grenze durch ganz Europa gehetzt werden.“


[1] Verhandlungen des Deutschen Reichstags. Stenographische Berichte, 4. Wahlperiode 1928/30, S. 3375–3381, URL: http://www.reichstagsprotokolle.de/Blatt2_w4_bsb00000110_00267.html (08.06.2017). Transkribiert und kommentiert von Jochen Oltmer; Quelle zu dem Essay, Jochen Oltmer, Ein deutsches Asylrecht am Ende der Weimarer Republik? Das Auslieferungsasyl in Westeuropa und seine Grenzen, in: Themenportal Europäische Geschichte, 2021, .

[2] Ebd., S. 3376. Der SPD-Reichstagsabgeordnete Dr. Ludwig Marum wurde am 5. November 1882 im pfälzischen Frankenthal geboren und verstarb am 29. März 1934 im Konzentrationslager Kislau (bei Karlsruhe). Nach einem Studium der Rechtswissenschaften in Heidelberg arbeitete Marum als Rechtsanwalt in Karlsruhe. Seit 1914 wirkte er als SPD-Abgeordneter im Badischen Landtag, fungierte nach der Revolution 1918 kurzzeitig als Justizminister in der provisorischen Landesregierung und arbeitete an der Ausarbeitung der badischen Landesverfassung mit. Von 1919 bis 1928 saß Marum der SPD-Fraktion im badischen Landtag vor. Mitglied des Reichstages war Marum (für den Wahlkreis Karlsruhe) seit 1928.

[3] Artikel 7 der Reichsverfassung regelt die Gesetzgebungskompetenz des Reiches. Hier wird unter anderem darauf verwiesen, dass „das Paßwesen und die Fremdenpolizei“ in der Verantwortung des Reiches liegen.

[4] Leo Trotzki (Lev Trockij) geboren am 26. Oktober 1879 in Janowko/Ukraine, gestorben am 21. August 1940 in Coyoacán, Mexiko, verlor nach dem Tod Lenins 1924 im Machtkampf mit Stalin sukzessive seinen Einfluss in der KPdSU und seine Positionen in der UdSSR. 1926 wurde Trotzki aus dem Politikbüro der KPdSU ausgeschlossen, 1927 aus der Partei. 1928 nach Alma-Ata/Kasachstan verbannt, folgten Ausweisung sowie Exil in der Türkei. Weitere Stationen des Exils bildeten Frankreich, Norwegen und schließlich Mexiko, wo Trotzki von einem Agenten des sowjetischen Geheimdienstes ermordet wurde.

[5] Alexander, Eduard Ludwig, Rede 106. Sitzung des Reichstages (2. Dezember 1929), in: Verhandlungen des Deutschen Reichstags, S. 3379–3381; Dr. Eduard Ludwig Alexander wurde am 14. März 1881 in Essen/Ruhr geboren und starb am 1. März 1945 auf einem Transport zwischen den Konzentrationslagern Sachsenhausen und Bergen-Belsen. Nach einem Studium der Rechtswissenschaften in Berlin, Freiburg i.Br. und Lausanne war er als Rechtsanwalt tätig. Als Gründungsmitglied von Spartakusbund und KPD fungierte er 1921 bis 1925 als Stadtverordneter in Berlin und war Leiter des Pressedienstes der KPD. Alexander saß seit 1928 im Reichstag, konnte aber als an einer Verständigung mit der SPD interessierter ‚Versöhnler‘ 1930 nicht erneut bei der Reichstagswahl antreten. 1931 wurde er zum Bürgermeister der mecklenburgischen Kleinstadt Boizenburg gewählt



Zugehöriger Essay: Ein deutsches Asylrecht am Ende der Weimarer Republik? Das Auslieferungsasyl in Westeuropa und seine Grenzen

Ein deutsches Asylrecht am Ende der Weimarer Republik? Das Auslieferungsasyl in Westeuropa und seine Grenzen[1]

Von Jochen Oltmer

[Frühere Version des Artikels: 2017]

Der vorliegende Beitrag soll einen knappen Einblick in die Diskussion um die Formulierung eines Asylrechts in der Endphase der Weimarer Republik geben und diese in die Geschichte des westeuropäischen Auslieferungsasyls einordnen.[2] Im 19. Jahrhundert nahmen grenzüberschreitende Fluchtbewegungen als Ergebnisse des Ausweichens von Menschen vor der Androhung oder Anwendung von Gewalt im Kontext von Kriegen, Bürgerkriegen und Maßnahmen autoritärer politischer Systeme nur vergleichsweise geringe Dimensionen ein. Das änderte sich mit dem Ersten Weltkrieg. Nun stieg die Zahl politisch bedingter räumlicher Bewegungen erheblich an. Das machte eine rechtliche Festlegung der Stellung von Nicht-StaatsbürgerInnen erforderlich. Ähnlich wie in späteren Jahrzehnten standen Forderungen nach einem breiten Zugang zu politischem Asyl Positionen gegenüber, die darauf drängten, umfangreiche Möglichkeiten zur Abweisung, Ausweisung und Auslieferung beizubehalten. Die zweite Lesung des Deutschen Auslieferungsgesetzes am 2. Dezember 1929 im Reichstag dokumentiert die gegensätzlichen politischen Grundpositionen und veranschaulicht den Zusammenhang von Auslieferungs- und Asylrecht am deutschen Beispiel. Auszüge aus den Ansprachen der Abgeordneten Dr. Ludwig Marum (SPD) und Dr. Eduard Ludwig Alexander (KPD) aus der 106. Sitzung des Reichstages verdeutlichen wichtige Positionierungen, die im Folgenden eingeordnet werden.[3]

Die Aufnahme von politisch Verfolgten wurde bereits im 19. Jahrhundert in der Regel als Schutz vor Auslieferung an den Verfolgerstaat gesetzlich fixiert. Vorbildcharakter für Westeuropa entwickelte dabei vor allem das belgische Auslieferungsgesetz von 1833, dem ähnliche Regelungen in den Niederlanden 1849, Luxemburg und Großbritannien 1870 sowie in der Schweiz 1892 folgten. Von den Staaten Mittel- und Osteuropas gingen demgegenüber im 19. Jahrhundert die meisten politisch motivierten Migrationen aus, und ihre Haltung blieb asylfeindlich. Die Staaten des Deutschen Bundes hatten sich 1832 in Reaktion auf das Hambacher Fest auf den Grundsatz geeinigt, politische StraftäterInnen gegenseitig auszuliefern – während sie dies für gewöhnliche Straftaten erst mehr als zwei Jahrzehnte später, 1854, festlegten. Auf die innerdeutsche Auslieferungsverpflichtung folgte 1834 ein Vertrag Preußens, Österreichs und Russlands über die gegenseitige Auslieferung bei Delikten, die als politisch galten.[4]

In den 1880er-Jahren aktivierten Deutschland, Russland und Österreich-Ungarn ihre Zusammenarbeit in dieser Hinsicht erneut, zunächst durch eine verstärkte informelle Abstimmung der Polizeibehörden.[5] Ein von Reichskanzler Otto von Bismarck angeregtes Abkommen des Reiches mit Russland 1885 sah die gegenseitige Auslieferung von MigrantInnen vor, denen politisch motivierte Straftaten zur Last gelegt wurden. Der Reichstag widersetzte sich der Ratifizierung, Preußen und Bayern aber schlossen den Vertrag separat. Mehrfach scheiterten bis zum Ersten Weltkrieg in Länderparlamenten und im Reichstag Versuche, die Aufkündigung dieser beiden Verträge zu erzwingen.[6] Seit 1892 beschäftigte sich der Reichstag zudem mehrfach mit einem Auslieferungsgesetz, das den westeuropäischen Regelungen folgend auch die Asylgewährung ermöglichen sollte: Die Reichsleitung blockierte diese Gesetzesinitiativen oder die Reichstagsmehrheit lehnte sie ab.[7]

Mit dem Ersten Weltkrieg und seinen Folgen gewann politisch bedingte Migration erheblich an Gewicht. Abwanderungen in großem Umfang begleiteten vor allem den Bürgerkrieg auf dem Gebiet des ehemaligen Zarenreichs und die Staatenbildungen in Ost-, Ostmittel- und Südosteuropa. Die Bewegungen zielten in erster Linie auf West- und Mitteleuropa. Schätzungen belaufen sich auf etwa zehn Millionen Menschen, die aufgrund der politischen Veränderungen nach dem Ersten Weltkrieg in Europa bis Mitte der 1920er-Jahre Grenzen überschritten.[8] Die größte Gruppe umfasste wahrscheinlich ein bis zwei Millionen Menschen und stammte aus dem Russland von Revolution und Bürgerkrieg. Hinzu kamen Hunderttausende ArmenierInnen aus dem Osmanischen Reich beziehungsweise der Türkei, es wanderten aber auch Menschen ab, deren Siedlungsgebiete nach den Pariser Vorortverträgen an andere Staaten abgetreten worden waren. Außerdem wuchs die Zahl derer, die sich durch eine restriktive Minderheitenpolitik in den jungen Nationalstaaten verfolgt sahen, sowie der Oppositionellen, die im Kontext der vielen Staatsstreiche, gewaltsamen Umstürze und Militärputsche in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg flohen.

Die Weimarer Republik entwickelte sich in ihren Anfangsjahren zu einem wichtigen Ziel für Menschen, die aus anderen Staaten vor Gewalt im Kontext von Kriegen, Bürgerkriegen, Staatszerfall oder Maßnahmen autoritärer politischer Systeme ausgewichen waren. Bekannt ist vor allem die Rolle Deutschlands als Exil für russländische Flüchtlinge oder osteuropäische Jüdinnen und Juden.[9] Allerdings bot die Weimarer Republik den Schutzsuchenden bis in ihre Endphase keinen spezifischen Status. Sie wurden geduldet, durften ihren Lebensunterhalt in Deutschland meist nicht legal verdienen und damit die Voraussetzung schaffen, von Fürsorgeleistungen der Hilfsorganisationen unabhängig zu werden oder die Flüchtlingslager zu verlassen.[10]

Im Kontext eines Europäisierungsverständnisses, das von Ambivalenz geprägt ist, wird deutlich, dass die Erweiterung von Schutzrechten nicht nur zu einer Verbesserung des Status und der Lebenssituation der Schutzsuchenden führte. Vielmehr konkretisierten sich auch die Abwehrrechte des Staates, insbesondere der Polizei, und konnten als nunmehr verrechtlichte Grundlage zur Auslieferung schutzbedürftiger Personen genutzt werden.

Die Debatte um das deutsche Auslieferungsgesetz 1929

Nach fast vier Jahrzehnten der Auseinandersetzung seit dem ersten Antrag zur Verabschiedung eines Auslieferungsgesetzes im Jahr 1892 setzte der Reichstag am 23. Dezember 1929 schließlich das Deutsche Auslieferungsgesetz in Kraft[11], das sich in der Tradition des belgischen Auslieferungsgesetzes von 1833 sah.[12] Mit dem Deutschen Auslieferungsgesetz wurde der Asylschutz durch die Festschreibung eines Verbots der Auslieferung bei politischen Straftaten erstmals auf eine gesetzliche Grundlage gestellt.[13] Zudem entzog das neue Gesetz das Auslieferungsverfahren dem unmittelbaren Einfluss der Verwaltungsbehörden und machte es zu einer gerichtlichen Angelegenheit; den Entscheidungen der Gerichte wiederum setzte es enge Grenzen. Vornehmlich geschah dies durch eine im Vergleich zu anderen Auslieferungsgesetzen eindeutigere Definition jener Straftaten, die den deutschen Behörden eine Auslieferung an einen fremden Staat verbot: „Die Auslieferung ist nicht zulässig, wenn die Tat, welche die Auslieferung veranlassen soll, eine politische ist oder mit einer politischen Tat derart im Zusammenhang steht, daß sie diese vorbereiten, sichern, decken oder abwehren sollte“ (§ 3, Abs. 1). Als politische Taten sollten dem Deutschen Auslieferungsgesetz zufolge solche gelten,

„die sich unmittelbar gegen den Bestand oder die Sicherheit des Staates, gegen das Oberhaupt oder gegen ein Mitglied der Regierung des Staates als solches, gegen eine verfassungsmäßige Körperschaft, gegen die staatsbürgerlichen Rechte bei Wahlen oder Abstimmungen oder gegen die guten Beziehungen zum Ausland richten“ (§ 3, Abs. 2).

Straftaten mit Tötungsabsicht allerdings wurden ausgenommen, abgesehen von Fällen, in denen sie „im offenen Kampfe“ verübt worden waren (§ 3, Abs. 3).[14]

Das Deutsche Auslieferungsgesetz vermittelte also insgesamt kein positives Recht auf individuelles Asyl. Es legte in § 1 die umfassenden Auslieferungsbefugnisse des Staates fest und formulierte in § 3 deren Beschränkung. Es verhinderte zwar eine Auslieferung eines politisch Verfolgten; zugleich schützte es ihn aber nicht vor Abschiebung oder Ausweisung; auch die behördliche Zurückweisung an der Grenze verhinderte das Auslieferungsgesetz nicht. Damit ging das Deutsche Auslieferungsgesetz als begrenztes sogenanntes Auslieferungsasyl nicht über die westeuropäischen Vorbilder des 19. Jahrhunderts hinaus.[15]

Die Frage der Einführung eines eigenständigen individuellen Asylrechts war allerdings im Rechtsausschuss des Reichstages intensiv diskutiert worden. Die Kommunistische Partei Deutschlands (KPD) hatte in der Generaldebatte den Antrag gestellt, anstelle eines Deutschen Auslieferungsgesetzes ein „Gesetz über die Ausübung des völkerrechtlichen Asyls und die Auslieferung“ zu entwerfen; denn „das Recht zur Auslieferung sei durch die Gewährung des Asyls für die vom Ausland Verfolgten begrenzt, nicht umgekehrt das Asyl durch die Pflicht zur Auslieferung“. Deshalb sei „die Voraussetzung für die Regelung des Auslieferungsrechts die gesetzliche Regelung des Asylrechts“ und die Einführung eines positiven Asylrechts als „Recht des Verfolgten auf Aufenthalt und Niederlassung im Inland“.

Der Antrag der KPD wurde in der Debatte im Plenum des Reichstags im Dezember 1929 noch einmal eingebracht. Bei einem Recht auf Asyl für politisch Verfolgte müsse nicht nur die Auslieferung geregelt werden, sondern auch die Ausweisung, argumentierte Dr. Eduard Ludwig Alexander als Redner der KPD: Ein Verbot der Auslieferung hindere die Polizeibehörden nicht daran, Schutzsuchende als „lästigen Ausländer“ abzuschieben. Zudem sei es gängige Praxis der Grenzpolizeibehörden, ausländische Staatsangehörige an der Grenze sofort zurückzuweisen, wenn sie nicht über ausreichende Personalpapiere verfügten, was bei politisch Verfolgten die Regel sei. Selbst wenn es ihnen gelänge, die Grenze irregulär zu überschreiten, um in Deutschland Schutz zu suchen, sei eine Abschiebung aufgrund des Fehlens ordnungsgemäßer Papiere und einer Einreiseerlaubnis die Regel.

Politisch Verfolgte dürften aber dem Antrag der KPD-Reichstagsfraktion zufolge „unter keinen Umständen an den deutschen Grenzen abgewiesen und nach erfolgter Grenzüberschreitung ausgewiesen werden“, ansonsten verstoße die Schutzbestimmung gegen ihren Sinn. Die Gewährung von Asyl müsse im Einzelfall durch einen besonderen Ausschuss geprüft werden, Asylberechtigte sollten ein Aufenthaltsrecht in Deutschland bekommen und besondere Ausweise erhalten.

Der Antrag der KPD auf die Einführung eines individuellen Asylrechts wurde ohne grundsätzliche Diskussion von den VertreterInnen der anderen Parteien im Rechtsausschuss abgelehnt. Die Abgeordneten der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD) wandten sich zwar nicht grundsätzlich gegen die Einführung eines Asylrechts, verwiesen aber darauf, ein Auslieferungsgesetz sei nicht der rechte Ort für die Diskussion eines Asylrechts.[16] Am Schluss der Debatte forderte die SPD im Rechtsausschuss die Reichsregierung auf, ein „Reichs-Fremdenrecht“ zu schaffen, das sich auch der Aufgabe widmen sollte, das Asylrecht zu regeln. Der Antrag wurde knapp, bei Stimmengleichheit, abgelehnt.[17]

Dieser Antrag der SPD auf Einführung einer Asylregelung im Rahmen eines reichseinheitlichen „Fremdenrechts“ spielte erneut in der Reichstagsdebatte um das Deutsche Auslieferungsgesetz eine Rolle, vermochte allerdings auch in diesem Gremium keine Mehrheit zu finden. Besonders vor dem Hintergrund der Konflikte um die Aufnahme von Leo Trotzki, der 1929 aus der UdSSR ausgewiesen und dem in Europa kein Asyl gewährt worden war, zeige sich wieder die Dringlichkeit der Einführung eines Asylrechts in Deutschland, betonte Dr. Ludwig Marum als Vertreter der SPD-Reichstagsfraktion.

In der Asylgesetzgebung gelang zwar Ende der 1920er-Jahre mit dem Deutschen Auslieferungsgesetz eine Angleichung an den westeuropäischen Rechtsstandard, der bereits 50 bis 100 Jahre zuvor erreicht worden war. Das begrenzte Auslieferungsasyl aber erfasste überhaupt nur einen sehr kleinen Teil der Schutzsuchenden. Insgesamt blieb die Zahl der Auslieferungsverfahren in Deutschland relativ gering, der Anteil politischer Hintergründe minimal. 1927 waren 215 Auslieferungsbegehren beim Auswärtigen Amt eingegangen, 14 wurden abgelehnt, 153 bewilligt. Anderweitig oder noch nicht erledigt blieben am Jahresende 48 Auslieferungsersuchen. Der größte Teil der Auslieferungsersuchen kam aus den östlichen und südöstlichen Nachbarstaaten Deutschlands, aus denen zugleich auch die überwiegende Zahl ausländischer ArbeitsmigrantInnen stammte: aus der Tschechoslowakei 64, aus Österreich 47 und aus Polen 16.[18] In der ersten Jahreshälfte 1928 lag das Verhältnis bei 111 Auslieferungsersuchen zu sieben Ablehnungen, in der ersten Jahreshälfte 1929 bei 140 Ersuchen zu vier Ablehnungen.[19] Angaben für Bayern zeigen die geringe Bedeutung politischer Straftaten: Die 337 Auslieferungsersuchen zwischen 1921 und 1928 führten in 328 Fällen zur Auslieferung. Nur in einem einzigen Fall wurde ein politischer Hintergrund anerkannt – bei einem Ungarn, der nach der Niederschlagung der ungarischen Räterepublik von 1919 geflohen war.[20]

Das preußische Asylrecht 1932

Ein weitergehendes Asylrecht im Sinne des Antrags der sozialdemokratischen und kommunistischen VertreterInnen im Rechtsausschuss des Reichstags 1929 wurde erst kurz vor dem Ende der Weimarer Republik und wenige Wochen vor der verfassungswidrigen Absetzung der sozialdemokratisch geführten Minderheitsregierung des preußischen Ministerpräsidenten Otto Braun entwickelt. In der „Polizeiverordnung über die Behandlung der AusländerInnen (Ausländer-Polizeiverordnung)“ des Preußischen Innenministers vom 27. April 1932, die am 1. Juli 1932 in Kraft trat, legte § 15, Abs. 4 die „vornehme Pflicht Preußens fest, politischen Flüchtlingen Asyl zu gewähren“.[21] Ein „Angehöriger eines anderen Staates“ dürfe nicht ausgewiesen werden, „wenn er glaubhaft macht, daß er als politischer Flüchtling bei der Rückkehr in seinen Heimatstaat der Verfolgung ausgesetzt sein würde“. Diese Vorschrift verbot auch die Abschiebung von in den Grenzbezirken angetroffenen AusländerInnen ohne ordnungsgemäße Papiere.[22] Das war eine zukunftsweisende Neuerung, die über das westeuropäische Auslieferungsasyl deutlich hinausging.

Bis dahin hatten im deutschen Ausweisungsrecht politische Motive explizit nicht als Hinderungsgründe für eine Ausweisung, Abschiebung oder Abweisung an den Grenzen durch die Polizeiverwaltungen gegolten. Vielmehr agierte in Preußen, so der Rechtswissenschaftler Ernst Isay 1923, ebenso wie in den anderen Ländern des Reiches[23], in Bezug auf Ausweisungsrecht und Ausweisungspraxis „noch der Polizeistaat“. Die Möglichkeiten der Ausweisung für die Polizeibehörden blieben beinahe unbegrenzt: „Der Ausländer kann ausgewiesen werden, wenn er sich ‚lästig macht‘, ‚unliebsam‘, ‚unerwünscht‘ ist“. Zugleich war der Katalog der Ausweisungsgründe fast unüberschaubar:

„Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung (mag nun der Ausländer durch strafbares oder durch bloß normwidriges Verhalten, z.B. durch Schieber- oder Valutageschäfte, durch Nichtbesitz eines ordnungsmäßigen Ausweises usw. jene Güter bedrohen), Gefahren politischer Art, kulturelle Gefahren (Überschwemmung des inländischen Gebiets durch Ausländermassen geringen Kulturgrads), wirtschaftliche Gefahren (Wohnungsnot, Überangebot an Arbeitskräften, Mangel einer ‚nutzbringenden Beschäftigung‘ des Ausländers, Ernährungsschwierigkeiten).“

Auch ein fester Wohnsitz und eine dauerhafte Niederlassung standen einer Ausweisung nicht entgegen.[24]

Die Ausweisung blieb bis zur preußischen Ausländer-Polizeiverordnung von 1932 eine kaum beschränkte Maßnahme der Polizeibehörden, gegen die der Rechtsweg über eine Verwaltungsklage nicht eingeschlagen werden konnte.[25] Verwaltungsbeschwerden waren zwar möglich, hatten aber keine aufschiebende Wirkung. Der Willkür bei den Ausweisungen war auch deshalb kaum eine Schranke gesetzt, weil die Ausweisungsbefugnis bei den Orts- und Kreispolizeibehörden lag – anders als in anderen europäischen Staaten, wo ausschließlich die Innen- oder Justizministerien, teilweise auch das Staatsoberhaupt die Ausweisungsbefugnis innehatte. Damit war in Preußen eine einheitliche Ausweisungspolitik faktisch unmöglich, zumal häufig die Begründungen für Ausweisungen nur auf lokale Interessen zurückgeführt werden konnten, denen allein schon durch die Ortsverweisung Genüge getan worden wäre.

Die eindeutige Beschränkung des Ausweisungskatalogs durch die preußische Ausländer-Polizeiverordnung von 1932 bei politisch Verfolgten, aber auch in anderen Fällen (mehr als fünf- beziehungsweise zehnjährige Anwesenheit im Reichsgebiet, Alter unter 15 Jahren; unbillige Härte für EhepartnerIn und minderjährige Kinder, erfolgloses Auslieferungsgesuch des Staates, in den abgeschoben werden sollte) sowie die Entwicklung eines beschränkten Kanons von Straftaten, die mit einer Ausweisung geahndet werden konnten, stellte demgegenüber eine wesentliche Verbesserung der Rechtsstellung von Angehörigen anderer Staaten und insbesondere von Schutzsuchenden dar. Das galt auch deshalb, weil erstmals mit der Aufenthaltserlaubnis (§ 1) ein Recht auf Aufenthalt formuliert worden war.

Nach Einschätzung des Rechtswissenschaftlers Günter Renner legte die preußische Ausländer-Polizeiverordnung von 1932 „mit ihrer Systematik und ihren Bestands- und Schutzvorschriften […] den Grundstein für die spätere Ausländergesetzgebung in Deutschland“. Sie sei „trotz einiger restriktiver Bestimmungen […] im Grunde genommen von weitsichtiger Liberalität gekennzeichnet“ gewesen.[26] Angesichts der wenige Monate später folgenden nationalsozialistischen Machtübernahme erwiesen sich die asylrechtlichen Bestimmungen allerdings als für die Praxis belanglos.

Das geringe Interesse der europäischen Staaten am Schutz von MigrantInnen, die vor Kriegen, Bürgerkriegen und Maßnahmen autoritärer politischer Systeme in der Zwischenkriegszeit geflohen waren, führte seit Anfang der 1920er-Jahre zu intensiven Diskussionen über zwischenstaatliche Hilfen und zu ersten Ansätzen internationaler Verantwortungsteilung in Europa. Vor diesem Hintergrund begann der Völkerbund – zunächst sehr zögerlich – Initiativen zur Etablierung supranationaler Hilfsorganisationen zu lancieren. Die nationalsozialistische Austreibung von Hunderttausenden sollte allerdings bald beweisen, dass diese Ansätze in der Internationalisierung der Flüchtlingspolitik unzureichend waren. Die ohnehin sehr restriktive Ausrichtung der Zuwanderungs- und Asylpolitik in den europäischen Staaten der 1920er-Jahre wurde angesichts der globalen ökonomischen Desintegration in der Weltwirtschaftskrise in den 1930er-Jahren noch übertroffen.
Das 1933 vom Völkerbund in Lausanne eingerichtete Hochkommissariat für Flüchtlinge aus Deutschland war deshalb in einer sehr schwachen Position. Alle weiteren zwischenstaatlichen Initiativen blieben am Ende ebenfalls mehr oder minder folgenlos.

Ausblick

Die enge Bindung von Auslieferungsrecht und Asylrecht blieb auch nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs noch belangvoll. Das lassen die Debatten des Parlamentarischen Rates um die Formulierung eines individuellen Asylrechts 1948/49 erkennen. 1948 hatte die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen erstmals ein individuelles Asylrecht formuliert. Artikel 14, Absatz 1 lautet: „Jeder Mensch hat das Recht, in anderen Ländern vor Verfolgungen Asyl zu suchen und zu genießen.“[27] Nur selten allerdings wurde diese Formel in nationales Recht überführt.[28] Eine Ausnahme bildete die Bundesrepublik Deutschland. Artikel 16, Absatz 2, Satz 2 des Grundgesetzes bietet mit der (den Wortlaut der Menschenrechtserklärung aufnehmenden) Formulierung „Politisch Verfolgte genießen Asylrecht“ ein im internationalen Vergleich weitreichendes Grundrecht auf Schutz.[29]

Der Parlamentarische Rat band dabei das Asylrecht unmittelbar an das Auslieferungsrecht, denn Satz 1 von Absatz 2 des Artikels 16 lautete: „Kein Deutscher darf an das Ausland ausgeliefert werden.“[30] Die Debatten des Parlamentarischen Rates um die Formulierung des Asylrechts kreisten sogar ganz vornehmlich um das Thema Auslieferung: Die Mitglieder glaubten, dass diejenigen, die das Asylrecht im Westen zukünftig in Anspruch nehmen würden, vornehmlich aus der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) im Osten Deutschlands kämen. Um eine Auslieferung, Abweisung oder Ausweisung von in der SBZ politisch Verfolgten zu verhindern, gelte es, ein möglichst offenes Asylrecht zu entwickeln; jede Präzisierung des Asylartikels könne eine Beschränkung der Möglichkeit der Aufnahme von Deutschen aus der SBZ mit sich bringen. Die Konkurrenz der politischen Systeme in Ost und West im Kontext des Kalten Krieges und die bevorstehende Teilung Deutschlands bildeten mithin die wesentliche Perspektive für eine Abkehr vom begrenzten Auslieferungsasyl hin zur Formulierung eines offenen Grundrechts auf Asyl.[31]



[1] Essay zur Quelle: Ansprachen der Abgeordneten Dr. Ludwig Marum (SPD) und Dr. Eduard Ludwig Alexander (KPD) anlässlich der Zweiten Beratung des Deutschen Auslieferungsgesetzes (2. Dezember 1929). Essay und Quelle sind in einer früheren Fassung online erschienen im Themenportal Europäische Geschichte, URL: <www.europa.clio-online.de/essay/id/fdae-1706>.

[2] Hierzu und zum Folgenden: Oltmer, Jochen, Protecting Refugees in the Weimar Republic, in: Journal of Refugee Studies 30 (2017), H. 2, S. 318–336.

[3] Vgl. die zu diesem Essay abgedruckte Quelle: Auszüge aus den Ansprachen der Abgeordneten Dr. Ludwig Marum (SPD) und Dr. Eduard Ludwig Alexander (KPD) (2. Dezember 1929), Verhandlungen des Deutschen Reichstags. Stenographische Berichte, 4. Wahlperiode 1928/30, S. 3375–3381, URL: <http://www.reichstagsprotokolle.de/Blatt2_w4_bsb00000110_00267.html> (21.12.2018). Im Folgenden stammen alle Quellenzitate, soweit nicht anders vermerkt, aus der hier abgedruckten Quelle.

[4] Baltzer, Christian, Die geschichtlichen Grundlagen der privilegierten Behandlung politischer Straftäter im Reichsstrafgesetzbuch von 1871, Bonn 1966, S. 34–77.

[5] Wagner, Joachim, Politischer Terrorismus und Strafrecht im Deutschen Kaiserreich von 1871, Heidelberg 1981, S. 402–406.

[6] Oswald, Karl, Der preußisch-russische und der bayerisch-russische Auslieferungsvertrag, Diss. Rostock 1914; Mettgenberg, Wolfgang, Das politische Asyl und seine Grenzen, in: Zeitschrift für Völkerrecht 16 (1932), S. 731–741, hier S. 732–735.

[7] Herbold, August, Das politische Asyl im Auslieferungsrecht, Diss. Heidelberg 1933, S. 20f.; Reucher, Willi, Das Verhältnis des Auslieferungsgesetzes und der Auslieferungsverträge zueinander unter besonderer Berücksichtigung der deutschen Rechtsprechung in Auslieferungssachen, Diss. Würzburg 1937, S. 1–5.

[8] Marrus, Michael R., Die Unerwünschten. Europäische Flüchtlinge im 20. Jahrhundert, Berlin 1999, S. 61.

[9] Maurer, Trude, Ostjuden in Deutschland 1918–1933, Hamburg 1986; Heid, Ludger, Maloche – nicht Mildtätigkeit. Ostjüdische Arbeiter in Deutschland 1914–1923, Hildesheim 1995; Saß, Anne-Christin, Berliner Luftmenschen. Osteuropäisch-jüdische Migranten in der Weimarer Republik, Göttingen 2012; Schlögel, Karl (Hg.), Der große Exodus. Die russische Emigration und ihre Zentren 1917 bis 1941, München 1994; ders. (Hg.), Russische Emigration in Deutschland 1918 bis 1941: Leben im europäischen Bürgerkrieg, Berlin 1995.

[10] Oltmer, Jochen, Migration und Politik in der Weimarer Republik, Göttingen 2005, S. 219–270.

[11] Deutsches Auslieferungsgesetz. Vom 23. Dezember 1929, in: Reichsgesetzblatt (RGBl.), 1929, Teil 1, S. 239–244.

[12] Die Reichsregierung begründete die Gesetzesinitiative folgendermaßen: „Die Bestimmung sichert das vor einem Jahrhundert schwer erkämpfte, dann aber von allen Kulturstaaten hochgehaltene sog. politische Asyl. Die Reichsregierung hat noch in den letzten Jahren mehrfach erklärt, daß sie es als ihre Pflicht betrachte, das politische Asyl zu wahren.“ Entwurf eines Deutschen Auslieferungsgesetzes, Reichsministerium der Justiz, 5.9.1928, in: Verhandlungen des Deutschen Reichstags. Stenographische Berichte, 4. Wahlperiode 1928/30, Anlagen, Bd. 431, Nr. 362, S. 10.

[13] Fraustädter, Werner, Deutsches Auslieferungsgesetz vom 23. Dezember 1929 und andere neue Vorschriften der Rechtshilfe in Strafsachen einschließlich der Auslieferung, Berlin 1930, S. 21.

[14] Hierzu siehe die Auflistung der damit verbundenen Delikte bei: Reisner, Peter, Die Voraussetzungen der Auslieferung und das Auslieferungsverfahren nach Erlaß des Auslieferungsgesetzes, Leipzig 1932, S. 71f.; siehe auch: Müller, Hans, Das politische Asyl. Eine völkerrechtliche Studie zum Problem des politischen Delikts im Auslieferungsrecht, mit einem Vorschlag zu einer modernen Klausel des politischen Asyls, Diss. Rostock 1934, S. 20–37.

[15] Hutzenlaub, Hans-Georg, Das Asyl als Begrenzung der Auslieferung, Diss. Freiburg 1976, S. 41–45.

[16] Bericht des 13. Ausschusses (Rechtspflege) über den Entwurf eines Deutschen Auslieferungsgesetzes, 12.6.1929, in: Verhandlungen des Deutschen Reichstags. Stenographische Berichte, 4. Wahlperiode 1928/30, Anlagen, Bd. 473, S. 2, 5–7.

[17] Ebd., S. 33.

[18] Auslieferungsstatistik für die Zeit vom 1. Januar bis 31. Dezember 1927, in: Reichsministerialblatt 56 (1928), H. 51, S. 658–660.

[19] Roesner, Auslieferungsstatistik für das 1. Halbjahr 1929, in: Deutsche Juristen-Zeitung 35 (1930), Sp. 156; Auslieferungsstatistik für die Zeit vom 1. Januar bis 30. Juni 1928, in: Reichsministerialblatt 56 (1928), H. 52, S. 680–683.

[20] Bericht des 13. Ausschusses (Rechtspflege) über den Entwurf eines Deutschen Auslieferungsgesetzes, 12.6.1929, in: Verhandlungen des Deutschen Reichstags. Stenographische Berichte, 4. Wahlperiode 1928/30, Anlagen, Bd. 473, S. 28.

[21] Gutmann, L., Rechte und Pflichten der Ausländer, Berlin 1932, S. 5.

[22] Die neue Preußische Polizeiverordnung über die Behandlung der Ausländer (Ausländer-Polizeiverordnung ab 1. Juli 1932). Textausgabe, abgedruckt in: ebd., S. 7–22, hier S. 11, 13.

[23] Die Regelungen in den anderen deutschen Staaten entsprachen weitgehend den preußischen Vorschriften; Kobarg, Werner, Ausweisung und Abweisung von Ausländern, Berlin-Grunewald 1930, S. 77f.; Behr, Wilhelm A., Die Auslieferung im Deutschen Rechts- und Bundesstaat. Eine staats- und verwaltungsrechtliche Untersuchung zum Deutschen Auslieferungsrecht vom 23.12.1929, Diss. Bonn 1931, Abschnitt B.

[24] Isay, Ernst, Das deutsche Fremdenrecht. Ausländer und Polizei, Berlin 1923, S. 214f.

[25] Reinecke, Christiane, Grenzen der Freizügigkeit. Migrationskontrolle in Großbritannien und Deutschland, 1880–1930, München 2010, S. 327–339.

[26] Renner, Günter, Ausländerrecht in Deutschland. Einreise und Aufenthalt, München 1998, S. 18.

[27] Vereinte Nationen, Resolution der Generalversammlung. 217 A (III). Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, 10. Dezember 1948, URL: <http://www.un.org/depts/german/menschen-rechte/aemr.pdf> (21.12.2018).

[28] Keßler, Stefan, Der Einfluss der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte auf die Aufnahme des Grundrechts auf Asyl in das Grundgesetz, in: MenschenRechtsMagazin (2010), H. 1, S. 22–30.

[29] Seit 1993 finden sich die Bestimmungen in Art. 16a des Grundgesetzes.

[30] Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland vom 23. Mai 1949, URL: <http://www.do-cumentarchiv.de/brd/1949/grundgesetz.html> (21.12.2018).

[31] Protokoll der Debatte: Pikart, Eberhard; Werner, Wolfram (Bearb.), Der Parlamentarische Rat 1948–1949, Bd. 5/I: Ausschuß für Grundsatzfragen, Boppard am Rhein 1993, S. 83–87.


Quelle zum Essay
Ein deutsches Asylrecht am Ende der Weimarer Republik? Das Auslieferungsasyl in Westeuropa und seine Grenzen
( 2021 )
Citation
Auszüge aus den Ansprachen der Abgeordneten Dr. Ludwig Marum (SPD) und Dr. Eduard Ludwig Alexander (KPD) (2. Dezember 1929), in: Themenportal Europäische Geschichte, 2021, <www.europa.clio-online.de/quelle/id/q63-75146>.
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