Ein deutsches Asylrecht am Ende der Weimarer Republik? Das Auslieferungsasyl in Westeuropa und seine Grenzen[1]
Von Jochen Oltmer
[Frühere Version des Artikels: 2017]
Der vorliegende Beitrag soll einen knappen Einblick in die Diskussion um die Formulierung eines Asylrechts in der Endphase der Weimarer Republik geben und diese in die Geschichte des westeuropäischen Auslieferungsasyls einordnen.[2] Im 19. Jahrhundert nahmen grenzüberschreitende Fluchtbewegungen als Ergebnisse des Ausweichens von Menschen vor der Androhung oder Anwendung von Gewalt im Kontext von Kriegen, Bürgerkriegen und Maßnahmen autoritärer politischer Systeme nur vergleichsweise geringe Dimensionen ein. Das änderte sich mit dem Ersten Weltkrieg. Nun stieg die Zahl politisch bedingter räumlicher Bewegungen erheblich an. Das machte eine rechtliche Festlegung der Stellung von Nicht-StaatsbürgerInnen erforderlich. Ähnlich wie in späteren Jahrzehnten standen Forderungen nach einem breiten Zugang zu politischem Asyl Positionen gegenüber, die darauf drängten, umfangreiche Möglichkeiten zur Abweisung, Ausweisung und Auslieferung beizubehalten. Die zweite Lesung des Deutschen Auslieferungsgesetzes am 2. Dezember 1929 im Reichstag dokumentiert die gegensätzlichen politischen Grundpositionen und veranschaulicht den Zusammenhang von Auslieferungs- und Asylrecht am deutschen Beispiel. Auszüge aus den Ansprachen der Abgeordneten Dr. Ludwig Marum (SPD) und Dr. Eduard Ludwig Alexander (KPD) aus der 106. Sitzung des Reichstages verdeutlichen wichtige Positionierungen, die im Folgenden eingeordnet werden.[3]
Die Aufnahme von politisch Verfolgten wurde bereits im 19. Jahrhundert in der Regel als Schutz vor Auslieferung an den Verfolgerstaat gesetzlich fixiert. Vorbildcharakter für Westeuropa entwickelte dabei vor allem das belgische Auslieferungsgesetz von 1833, dem ähnliche Regelungen in den Niederlanden 1849, Luxemburg und Großbritannien 1870 sowie in der Schweiz 1892 folgten. Von den Staaten Mittel- und Osteuropas gingen demgegenüber im 19. Jahrhundert die meisten politisch motivierten Migrationen aus, und ihre Haltung blieb asylfeindlich. Die Staaten des Deutschen Bundes hatten sich 1832 in Reaktion auf das Hambacher Fest auf den Grundsatz geeinigt, politische StraftäterInnen gegenseitig auszuliefern – während sie dies für gewöhnliche Straftaten erst mehr als zwei Jahrzehnte später, 1854, festlegten. Auf die innerdeutsche Auslieferungsverpflichtung folgte 1834 ein Vertrag Preußens, Österreichs und Russlands über die gegenseitige Auslieferung bei Delikten, die als politisch galten.[4]
In den 1880er-Jahren aktivierten Deutschland, Russland und Österreich-Ungarn ihre Zusammenarbeit in dieser Hinsicht erneut, zunächst durch eine verstärkte informelle Abstimmung der Polizeibehörden.[5] Ein von Reichskanzler Otto von Bismarck angeregtes Abkommen des Reiches mit Russland 1885 sah die gegenseitige Auslieferung von MigrantInnen vor, denen politisch motivierte Straftaten zur Last gelegt wurden. Der Reichstag widersetzte sich der Ratifizierung, Preußen und Bayern aber schlossen den Vertrag separat. Mehrfach scheiterten bis zum Ersten Weltkrieg in Länderparlamenten und im Reichstag Versuche, die Aufkündigung dieser beiden Verträge zu erzwingen.[6] Seit 1892 beschäftigte sich der Reichstag zudem mehrfach mit einem Auslieferungsgesetz, das den westeuropäischen Regelungen folgend auch die Asylgewährung ermöglichen sollte: Die Reichsleitung blockierte diese Gesetzesinitiativen oder die Reichstagsmehrheit lehnte sie ab.[7]
Mit dem Ersten Weltkrieg und seinen Folgen gewann politisch bedingte Migration erheblich an Gewicht. Abwanderungen in großem Umfang begleiteten vor allem den Bürgerkrieg auf dem Gebiet des ehemaligen Zarenreichs und die Staatenbildungen in Ost-, Ostmittel- und Südosteuropa. Die Bewegungen zielten in erster Linie auf West- und Mitteleuropa. Schätzungen belaufen sich auf etwa zehn Millionen Menschen, die aufgrund der politischen Veränderungen nach dem Ersten Weltkrieg in Europa bis Mitte der 1920er-Jahre Grenzen überschritten.[8] Die größte Gruppe umfasste wahrscheinlich ein bis zwei Millionen Menschen und stammte aus dem Russland von Revolution und Bürgerkrieg. Hinzu kamen Hunderttausende ArmenierInnen aus dem Osmanischen Reich beziehungsweise der Türkei, es wanderten aber auch Menschen ab, deren Siedlungsgebiete nach den Pariser Vorortverträgen an andere Staaten abgetreten worden waren. Außerdem wuchs die Zahl derer, die sich durch eine restriktive Minderheitenpolitik in den jungen Nationalstaaten verfolgt sahen, sowie der Oppositionellen, die im Kontext der vielen Staatsstreiche, gewaltsamen Umstürze und Militärputsche in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg flohen.
Die Weimarer Republik entwickelte sich in ihren Anfangsjahren zu einem wichtigen Ziel für Menschen, die aus anderen Staaten vor Gewalt im Kontext von Kriegen, Bürgerkriegen, Staatszerfall oder Maßnahmen autoritärer politischer Systeme ausgewichen waren. Bekannt ist vor allem die Rolle Deutschlands als Exil für russländische Flüchtlinge oder osteuropäische Jüdinnen und Juden.[9] Allerdings bot die Weimarer Republik den Schutzsuchenden bis in ihre Endphase keinen spezifischen Status. Sie wurden geduldet, durften ihren Lebensunterhalt in Deutschland meist nicht legal verdienen und damit die Voraussetzung schaffen, von Fürsorgeleistungen der Hilfsorganisationen unabhängig zu werden oder die Flüchtlingslager zu verlassen.[10]
Im Kontext eines Europäisierungsverständnisses, das von Ambivalenz geprägt ist, wird deutlich, dass die Erweiterung von Schutzrechten nicht nur zu einer Verbesserung des Status und der Lebenssituation der Schutzsuchenden führte. Vielmehr konkretisierten sich auch die Abwehrrechte des Staates, insbesondere der Polizei, und konnten als nunmehr verrechtlichte Grundlage zur Auslieferung schutzbedürftiger Personen genutzt werden.
Die Debatte um das deutsche Auslieferungsgesetz 1929
Nach fast vier Jahrzehnten der Auseinandersetzung seit dem ersten Antrag zur Verabschiedung eines Auslieferungsgesetzes im Jahr 1892 setzte der Reichstag am 23. Dezember 1929 schließlich das Deutsche Auslieferungsgesetz in Kraft[11], das sich in der Tradition des belgischen Auslieferungsgesetzes von 1833 sah.[12] Mit dem Deutschen Auslieferungsgesetz wurde der Asylschutz durch die Festschreibung eines Verbots der Auslieferung bei politischen Straftaten erstmals auf eine gesetzliche Grundlage gestellt.[13] Zudem entzog das neue Gesetz das Auslieferungsverfahren dem unmittelbaren Einfluss der Verwaltungsbehörden und machte es zu einer gerichtlichen Angelegenheit; den Entscheidungen der Gerichte wiederum setzte es enge Grenzen. Vornehmlich geschah dies durch eine im Vergleich zu anderen Auslieferungsgesetzen eindeutigere Definition jener Straftaten, die den deutschen Behörden eine Auslieferung an einen fremden Staat verbot: „Die Auslieferung ist nicht zulässig, wenn die Tat, welche die Auslieferung veranlassen soll, eine politische ist oder mit einer politischen Tat derart im Zusammenhang steht, daß sie diese vorbereiten, sichern, decken oder abwehren sollte“ (§ 3, Abs. 1). Als politische Taten sollten dem Deutschen Auslieferungsgesetz zufolge solche gelten,
„die sich unmittelbar gegen den Bestand oder die Sicherheit des Staates, gegen das Oberhaupt oder gegen ein Mitglied der Regierung des Staates als solches, gegen eine verfassungsmäßige Körperschaft, gegen die staatsbürgerlichen Rechte bei Wahlen oder Abstimmungen oder gegen die guten Beziehungen zum Ausland richten“ (§ 3, Abs. 2).
Straftaten mit Tötungsabsicht allerdings wurden ausgenommen, abgesehen von Fällen, in denen sie „im offenen Kampfe“ verübt worden waren (§ 3, Abs. 3).[14]
Das Deutsche Auslieferungsgesetz vermittelte also insgesamt kein positives Recht auf individuelles Asyl. Es legte in § 1 die umfassenden Auslieferungsbefugnisse des Staates fest und formulierte in § 3 deren Beschränkung. Es verhinderte zwar eine Auslieferung eines politisch Verfolgten; zugleich schützte es ihn aber nicht vor Abschiebung oder Ausweisung; auch die behördliche Zurückweisung an der Grenze verhinderte das Auslieferungsgesetz nicht. Damit ging das Deutsche Auslieferungsgesetz als begrenztes sogenanntes Auslieferungsasyl nicht über die westeuropäischen Vorbilder des 19. Jahrhunderts hinaus.[15]
Die Frage der Einführung eines eigenständigen individuellen Asylrechts war allerdings im Rechtsausschuss des Reichstages intensiv diskutiert worden. Die Kommunistische Partei Deutschlands (KPD) hatte in der Generaldebatte den Antrag gestellt, anstelle eines Deutschen Auslieferungsgesetzes ein „Gesetz über die Ausübung des völkerrechtlichen Asyls und die Auslieferung“ zu entwerfen; denn „das Recht zur Auslieferung sei durch die Gewährung des Asyls für die vom Ausland Verfolgten begrenzt, nicht umgekehrt das Asyl durch die Pflicht zur Auslieferung“. Deshalb sei „die Voraussetzung für die Regelung des Auslieferungsrechts die gesetzliche Regelung des Asylrechts“ und die Einführung eines positiven Asylrechts als „Recht des Verfolgten auf Aufenthalt und Niederlassung im Inland“.
Der Antrag der KPD wurde in der Debatte im Plenum des Reichstags im Dezember 1929 noch einmal eingebracht. Bei einem Recht auf Asyl für politisch Verfolgte müsse nicht nur die Auslieferung geregelt werden, sondern auch die Ausweisung, argumentierte Dr. Eduard Ludwig Alexander als Redner der KPD: Ein Verbot der Auslieferung hindere die Polizeibehörden nicht daran, Schutzsuchende als „lästigen Ausländer“ abzuschieben. Zudem sei es gängige Praxis der Grenzpolizeibehörden, ausländische Staatsangehörige an der Grenze sofort zurückzuweisen, wenn sie nicht über ausreichende Personalpapiere verfügten, was bei politisch Verfolgten die Regel sei. Selbst wenn es ihnen gelänge, die Grenze irregulär zu überschreiten, um in Deutschland Schutz zu suchen, sei eine Abschiebung aufgrund des Fehlens ordnungsgemäßer Papiere und einer Einreiseerlaubnis die Regel.
Politisch Verfolgte dürften aber dem Antrag der KPD-Reichstagsfraktion zufolge „unter keinen Umständen an den deutschen Grenzen abgewiesen und nach erfolgter Grenzüberschreitung ausgewiesen werden“, ansonsten verstoße die Schutzbestimmung gegen ihren Sinn. Die Gewährung von Asyl müsse im Einzelfall durch einen besonderen Ausschuss geprüft werden, Asylberechtigte sollten ein Aufenthaltsrecht in Deutschland bekommen und besondere Ausweise erhalten.
Der Antrag der KPD auf die Einführung eines individuellen Asylrechts wurde ohne grundsätzliche Diskussion von den VertreterInnen der anderen Parteien im Rechtsausschuss abgelehnt. Die Abgeordneten der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD) wandten sich zwar nicht grundsätzlich gegen die Einführung eines Asylrechts, verwiesen aber darauf, ein Auslieferungsgesetz sei nicht der rechte Ort für die Diskussion eines Asylrechts.[16] Am Schluss der Debatte forderte die SPD im Rechtsausschuss die Reichsregierung auf, ein „Reichs-Fremdenrecht“ zu schaffen, das sich auch der Aufgabe widmen sollte, das Asylrecht zu regeln. Der Antrag wurde knapp, bei Stimmengleichheit, abgelehnt.[17]
Dieser Antrag der SPD auf Einführung einer Asylregelung im Rahmen eines reichseinheitlichen „Fremdenrechts“ spielte erneut in der Reichstagsdebatte um das Deutsche Auslieferungsgesetz eine Rolle, vermochte allerdings auch in diesem Gremium keine Mehrheit zu finden. Besonders vor dem Hintergrund der Konflikte um die Aufnahme von Leo Trotzki, der 1929 aus der UdSSR ausgewiesen und dem in Europa kein Asyl gewährt worden war, zeige sich wieder die Dringlichkeit der Einführung eines Asylrechts in Deutschland, betonte Dr. Ludwig Marum als Vertreter der SPD-Reichstagsfraktion.
In der Asylgesetzgebung gelang zwar Ende der 1920er-Jahre mit dem Deutschen Auslieferungsgesetz eine Angleichung an den westeuropäischen Rechtsstandard, der bereits 50 bis 100 Jahre zuvor erreicht worden war. Das begrenzte Auslieferungsasyl aber erfasste überhaupt nur einen sehr kleinen Teil der Schutzsuchenden. Insgesamt blieb die Zahl der Auslieferungsverfahren in Deutschland relativ gering, der Anteil politischer Hintergründe minimal. 1927 waren 215 Auslieferungsbegehren beim Auswärtigen Amt eingegangen, 14 wurden abgelehnt, 153 bewilligt. Anderweitig oder noch nicht erledigt blieben am Jahresende 48 Auslieferungsersuchen. Der größte Teil der Auslieferungsersuchen kam aus den östlichen und südöstlichen Nachbarstaaten Deutschlands, aus denen zugleich auch die überwiegende Zahl ausländischer ArbeitsmigrantInnen stammte: aus der Tschechoslowakei 64, aus Österreich 47 und aus Polen 16.[18] In der ersten Jahreshälfte 1928 lag das Verhältnis bei 111 Auslieferungsersuchen zu sieben Ablehnungen, in der ersten Jahreshälfte 1929 bei 140 Ersuchen zu vier Ablehnungen.[19] Angaben für Bayern zeigen die geringe Bedeutung politischer Straftaten: Die 337 Auslieferungsersuchen zwischen 1921 und 1928 führten in 328 Fällen zur Auslieferung. Nur in einem einzigen Fall wurde ein politischer Hintergrund anerkannt – bei einem Ungarn, der nach der Niederschlagung der ungarischen Räterepublik von 1919 geflohen war.[20]
Das preußische Asylrecht 1932
Ein weitergehendes Asylrecht im Sinne des Antrags der sozialdemokratischen und kommunistischen VertreterInnen im Rechtsausschuss des Reichstags 1929 wurde erst kurz vor dem Ende der Weimarer Republik und wenige Wochen vor der verfassungswidrigen Absetzung der sozialdemokratisch geführten Minderheitsregierung des preußischen Ministerpräsidenten Otto Braun entwickelt. In der „Polizeiverordnung über die Behandlung der AusländerInnen (Ausländer-Polizeiverordnung)“ des Preußischen Innenministers vom 27. April 1932, die am 1. Juli 1932 in Kraft trat, legte § 15, Abs. 4 die „vornehme Pflicht Preußens fest, politischen Flüchtlingen Asyl zu gewähren“.[21] Ein „Angehöriger eines anderen Staates“ dürfe nicht ausgewiesen werden, „wenn er glaubhaft macht, daß er als politischer Flüchtling bei der Rückkehr in seinen Heimatstaat der Verfolgung ausgesetzt sein würde“. Diese Vorschrift verbot auch die Abschiebung von in den Grenzbezirken angetroffenen AusländerInnen ohne ordnungsgemäße Papiere.[22] Das war eine zukunftsweisende Neuerung, die über das westeuropäische Auslieferungsasyl deutlich hinausging.
Bis dahin hatten im deutschen Ausweisungsrecht politische Motive explizit nicht als Hinderungsgründe für eine Ausweisung, Abschiebung oder Abweisung an den Grenzen durch die Polizeiverwaltungen gegolten. Vielmehr agierte in Preußen, so der Rechtswissenschaftler Ernst Isay 1923, ebenso wie in den anderen Ländern des Reiches[23], in Bezug auf Ausweisungsrecht und Ausweisungspraxis „noch der Polizeistaat“. Die Möglichkeiten der Ausweisung für die Polizeibehörden blieben beinahe unbegrenzt: „Der Ausländer kann ausgewiesen werden, wenn er sich ‚lästig macht‘, ‚unliebsam‘, ‚unerwünscht‘ ist“. Zugleich war der Katalog der Ausweisungsgründe fast unüberschaubar:
„Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung (mag nun der Ausländer durch strafbares oder durch bloß normwidriges Verhalten, z.B. durch Schieber- oder Valutageschäfte, durch Nichtbesitz eines ordnungsmäßigen Ausweises usw. jene Güter bedrohen), Gefahren politischer Art, kulturelle Gefahren (Überschwemmung des inländischen Gebiets durch Ausländermassen geringen Kulturgrads), wirtschaftliche Gefahren (Wohnungsnot, Überangebot an Arbeitskräften, Mangel einer ‚nutzbringenden Beschäftigung‘ des Ausländers, Ernährungsschwierigkeiten).“
Auch ein fester Wohnsitz und eine dauerhafte Niederlassung standen einer Ausweisung nicht entgegen.[24]
Die Ausweisung blieb bis zur preußischen Ausländer-Polizeiverordnung von 1932 eine kaum beschränkte Maßnahme der Polizeibehörden, gegen die der Rechtsweg über eine Verwaltungsklage nicht eingeschlagen werden konnte.[25] Verwaltungsbeschwerden waren zwar möglich, hatten aber keine aufschiebende Wirkung. Der Willkür bei den Ausweisungen war auch deshalb kaum eine Schranke gesetzt, weil die Ausweisungsbefugnis bei den Orts- und Kreispolizeibehörden lag – anders als in anderen europäischen Staaten, wo ausschließlich die Innen- oder Justizministerien, teilweise auch das Staatsoberhaupt die Ausweisungsbefugnis innehatte. Damit war in Preußen eine einheitliche Ausweisungspolitik faktisch unmöglich, zumal häufig die Begründungen für Ausweisungen nur auf lokale Interessen zurückgeführt werden konnten, denen allein schon durch die Ortsverweisung Genüge getan worden wäre.
Die eindeutige Beschränkung des Ausweisungskatalogs durch die preußische Ausländer-Polizeiverordnung von 1932 bei politisch Verfolgten, aber auch in anderen Fällen (mehr als fünf- beziehungsweise zehnjährige Anwesenheit im Reichsgebiet, Alter unter 15 Jahren; unbillige Härte für EhepartnerIn und minderjährige Kinder, erfolgloses Auslieferungsgesuch des Staates, in den abgeschoben werden sollte) sowie die Entwicklung eines beschränkten Kanons von Straftaten, die mit einer Ausweisung geahndet werden konnten, stellte demgegenüber eine wesentliche Verbesserung der Rechtsstellung von Angehörigen anderer Staaten und insbesondere von Schutzsuchenden dar. Das galt auch deshalb, weil erstmals mit der Aufenthaltserlaubnis (§ 1) ein Recht auf Aufenthalt formuliert worden war.
Nach Einschätzung des Rechtswissenschaftlers Günter Renner legte die preußische Ausländer-Polizeiverordnung von 1932 „mit ihrer Systematik und ihren Bestands- und Schutzvorschriften […] den Grundstein für die spätere Ausländergesetzgebung in Deutschland“. Sie sei „trotz einiger restriktiver Bestimmungen […] im Grunde genommen von weitsichtiger Liberalität gekennzeichnet“ gewesen.[26] Angesichts der wenige Monate später folgenden nationalsozialistischen Machtübernahme erwiesen sich die asylrechtlichen Bestimmungen allerdings als für die Praxis belanglos.
Das geringe Interesse der europäischen Staaten am Schutz von MigrantInnen, die vor Kriegen, Bürgerkriegen und Maßnahmen autoritärer politischer Systeme in der Zwischenkriegszeit geflohen waren, führte seit Anfang der 1920er-Jahre zu intensiven Diskussionen über zwischenstaatliche Hilfen und zu ersten Ansätzen internationaler Verantwortungsteilung in Europa. Vor diesem Hintergrund begann der Völkerbund – zunächst sehr zögerlich – Initiativen zur Etablierung supranationaler Hilfsorganisationen zu lancieren. Die nationalsozialistische Austreibung von Hunderttausenden sollte allerdings bald beweisen, dass diese Ansätze in der Internationalisierung der Flüchtlingspolitik unzureichend waren. Die ohnehin sehr restriktive Ausrichtung der Zuwanderungs- und Asylpolitik in den europäischen Staaten der 1920er-Jahre wurde angesichts der globalen ökonomischen Desintegration in der Weltwirtschaftskrise in den 1930er-Jahren noch übertroffen.
Das 1933 vom Völkerbund in Lausanne eingerichtete Hochkommissariat für Flüchtlinge aus Deutschland war deshalb in einer sehr schwachen Position. Alle weiteren zwischenstaatlichen Initiativen blieben am Ende ebenfalls mehr oder minder folgenlos.
Ausblick
Die enge Bindung von Auslieferungsrecht und Asylrecht blieb auch nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs noch belangvoll. Das lassen die Debatten des Parlamentarischen Rates um die Formulierung eines individuellen Asylrechts 1948/49 erkennen. 1948 hatte die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen erstmals ein individuelles Asylrecht formuliert. Artikel 14, Absatz 1 lautet: „Jeder Mensch hat das Recht, in anderen Ländern vor Verfolgungen Asyl zu suchen und zu genießen.“[27] Nur selten allerdings wurde diese Formel in nationales Recht überführt.[28] Eine Ausnahme bildete die Bundesrepublik Deutschland. Artikel 16, Absatz 2, Satz 2 des Grundgesetzes bietet mit der (den Wortlaut der Menschenrechtserklärung aufnehmenden) Formulierung „Politisch Verfolgte genießen Asylrecht“ ein im internationalen Vergleich weitreichendes Grundrecht auf Schutz.[29]
Der Parlamentarische Rat band dabei das Asylrecht unmittelbar an das Auslieferungsrecht, denn Satz 1 von Absatz 2 des Artikels 16 lautete: „Kein Deutscher darf an das Ausland ausgeliefert werden.“[30] Die Debatten des Parlamentarischen Rates um die Formulierung des Asylrechts kreisten sogar ganz vornehmlich um das Thema Auslieferung: Die Mitglieder glaubten, dass diejenigen, die das Asylrecht im Westen zukünftig in Anspruch nehmen würden, vornehmlich aus der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) im Osten Deutschlands kämen. Um eine Auslieferung, Abweisung oder Ausweisung von in der SBZ politisch Verfolgten zu verhindern, gelte es, ein möglichst offenes Asylrecht zu entwickeln; jede Präzisierung des Asylartikels könne eine Beschränkung der Möglichkeit der Aufnahme von Deutschen aus der SBZ mit sich bringen. Die Konkurrenz der politischen Systeme in Ost und West im Kontext des Kalten Krieges und die bevorstehende Teilung Deutschlands bildeten mithin die wesentliche Perspektive für eine Abkehr vom begrenzten Auslieferungsasyl hin zur Formulierung eines offenen Grundrechts auf Asyl.[31]
[1] Essay zur Quelle: Ansprachen der Abgeordneten Dr. Ludwig Marum (SPD) und Dr. Eduard Ludwig Alexander (KPD) anlässlich der Zweiten Beratung des Deutschen Auslieferungsgesetzes (2. Dezember 1929). Essay und Quelle sind in einer früheren Fassung online erschienen im Themenportal Europäische Geschichte, URL: <www.europa.clio-online.de/essay/id/fdae-1706>.
[2] Hierzu und zum Folgenden: Oltmer, Jochen, Protecting Refugees in the Weimar Republic, in: Journal of Refugee Studies 30 (2017), H. 2, S. 318–336.
[3] Vgl. die zu diesem Essay abgedruckte Quelle: Auszüge aus den Ansprachen der Abgeordneten Dr. Ludwig Marum (SPD) und Dr. Eduard Ludwig Alexander (KPD) (2. Dezember 1929), Verhandlungen des Deutschen Reichstags. Stenographische Berichte, 4. Wahlperiode 1928/30, S. 3375–3381, URL: <http://www.reichstagsprotokolle.de/Blatt2_w4_bsb00000110_00267.html> (21.12.2018). Im Folgenden stammen alle Quellenzitate, soweit nicht anders vermerkt, aus der hier abgedruckten Quelle.
[4] Baltzer, Christian, Die geschichtlichen Grundlagen der privilegierten Behandlung politischer Straftäter im Reichsstrafgesetzbuch von 1871, Bonn 1966, S. 34–77.
[5] Wagner, Joachim, Politischer Terrorismus und Strafrecht im Deutschen Kaiserreich von 1871, Heidelberg 1981, S. 402–406.
[6] Oswald, Karl, Der preußisch-russische und der bayerisch-russische Auslieferungsvertrag, Diss. Rostock 1914; Mettgenberg, Wolfgang, Das politische Asyl und seine Grenzen, in: Zeitschrift für Völkerrecht 16 (1932), S. 731–741, hier S. 732–735.
[7] Herbold, August, Das politische Asyl im Auslieferungsrecht, Diss. Heidelberg 1933, S. 20f.; Reucher, Willi, Das Verhältnis des Auslieferungsgesetzes und der Auslieferungsverträge zueinander unter besonderer Berücksichtigung der deutschen Rechtsprechung in Auslieferungssachen, Diss. Würzburg 1937, S. 1–5.
[8] Marrus, Michael R., Die Unerwünschten. Europäische Flüchtlinge im 20. Jahrhundert, Berlin 1999, S. 61.
[9] Maurer, Trude, Ostjuden in Deutschland 1918–1933, Hamburg 1986; Heid, Ludger, Maloche – nicht Mildtätigkeit. Ostjüdische Arbeiter in Deutschland 1914–1923, Hildesheim 1995; Saß, Anne-Christin, Berliner Luftmenschen. Osteuropäisch-jüdische Migranten in der Weimarer Republik, Göttingen 2012; Schlögel, Karl (Hg.), Der große Exodus. Die russische Emigration und ihre Zentren 1917 bis 1941, München 1994; ders. (Hg.), Russische Emigration in Deutschland 1918 bis 1941: Leben im europäischen Bürgerkrieg, Berlin 1995.
[10] Oltmer, Jochen, Migration und Politik in der Weimarer Republik, Göttingen 2005, S. 219–270.
[11] Deutsches Auslieferungsgesetz. Vom 23. Dezember 1929, in: Reichsgesetzblatt (RGBl.), 1929, Teil 1, S. 239–244.
[12] Die Reichsregierung begründete die Gesetzesinitiative folgendermaßen: „Die Bestimmung sichert das vor einem Jahrhundert schwer erkämpfte, dann aber von allen Kulturstaaten hochgehaltene sog. politische Asyl. Die Reichsregierung hat noch in den letzten Jahren mehrfach erklärt, daß sie es als ihre Pflicht betrachte, das politische Asyl zu wahren.“ Entwurf eines Deutschen Auslieferungsgesetzes, Reichsministerium der Justiz, 5.9.1928, in: Verhandlungen des Deutschen Reichstags. Stenographische Berichte, 4. Wahlperiode 1928/30, Anlagen, Bd. 431, Nr. 362, S. 10.
[13] Fraustädter, Werner, Deutsches Auslieferungsgesetz vom 23. Dezember 1929 und andere neue Vorschriften der Rechtshilfe in Strafsachen einschließlich der Auslieferung, Berlin 1930, S. 21.
[14] Hierzu siehe die Auflistung der damit verbundenen Delikte bei: Reisner, Peter, Die Voraussetzungen der Auslieferung und das Auslieferungsverfahren nach Erlaß des Auslieferungsgesetzes, Leipzig 1932, S. 71f.; siehe auch: Müller, Hans, Das politische Asyl. Eine völkerrechtliche Studie zum Problem des politischen Delikts im Auslieferungsrecht, mit einem Vorschlag zu einer modernen Klausel des politischen Asyls, Diss. Rostock 1934, S. 20–37.
[15] Hutzenlaub, Hans-Georg, Das Asyl als Begrenzung der Auslieferung, Diss. Freiburg 1976, S. 41–45.
[16] Bericht des 13. Ausschusses (Rechtspflege) über den Entwurf eines Deutschen Auslieferungsgesetzes, 12.6.1929, in: Verhandlungen des Deutschen Reichstags. Stenographische Berichte, 4. Wahlperiode 1928/30, Anlagen, Bd. 473, S. 2, 5–7.
[17] Ebd., S. 33.
[18] Auslieferungsstatistik für die Zeit vom 1. Januar bis 31. Dezember 1927, in: Reichsministerialblatt 56 (1928), H. 51, S. 658–660.
[19] Roesner, Auslieferungsstatistik für das 1. Halbjahr 1929, in: Deutsche Juristen-Zeitung 35 (1930), Sp. 156; Auslieferungsstatistik für die Zeit vom 1. Januar bis 30. Juni 1928, in: Reichsministerialblatt 56 (1928), H. 52, S. 680–683.
[20] Bericht des 13. Ausschusses (Rechtspflege) über den Entwurf eines Deutschen Auslieferungsgesetzes, 12.6.1929, in: Verhandlungen des Deutschen Reichstags. Stenographische Berichte, 4. Wahlperiode 1928/30, Anlagen, Bd. 473, S. 28.
[21] Gutmann, L., Rechte und Pflichten der Ausländer, Berlin 1932, S. 5.
[22] Die neue Preußische Polizeiverordnung über die Behandlung der Ausländer (Ausländer-Polizeiverordnung ab 1. Juli 1932). Textausgabe, abgedruckt in: ebd., S. 7–22, hier S. 11, 13.
[23] Die Regelungen in den anderen deutschen Staaten entsprachen weitgehend den preußischen Vorschriften; Kobarg, Werner, Ausweisung und Abweisung von Ausländern, Berlin-Grunewald 1930, S. 77f.; Behr, Wilhelm A., Die Auslieferung im Deutschen Rechts- und Bundesstaat. Eine staats- und verwaltungsrechtliche Untersuchung zum Deutschen Auslieferungsrecht vom 23.12.1929, Diss. Bonn 1931, Abschnitt B.
[24] Isay, Ernst, Das deutsche Fremdenrecht. Ausländer und Polizei, Berlin 1923, S. 214f.
[25] Reinecke, Christiane, Grenzen der Freizügigkeit. Migrationskontrolle in Großbritannien und Deutschland, 1880–1930, München 2010, S. 327–339.
[26] Renner, Günter, Ausländerrecht in Deutschland. Einreise und Aufenthalt, München 1998, S. 18.
[27] Vereinte Nationen, Resolution der Generalversammlung. 217 A (III). Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, 10. Dezember 1948, URL: <http://www.un.org/depts/german/menschen-rechte/aemr.pdf> (21.12.2018).
[28] Keßler, Stefan, Der Einfluss der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte auf die Aufnahme des Grundrechts auf Asyl in das Grundgesetz, in: MenschenRechtsMagazin (2010), H. 1, S. 22–30.
[29] Seit 1993 finden sich die Bestimmungen in Art. 16a des Grundgesetzes.
[30] Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland vom 23. Mai 1949, URL: <http://www.do-cumentarchiv.de/brd/1949/grundgesetz.html> (21.12.2018).
[31] Protokoll der Debatte: Pikart, Eberhard; Werner, Wolfram (Bearb.), Der Parlamentarische Rat 1948–1949, Bd. 5/I: Ausschuß für Grundsatzfragen, Boppard am Rhein 1993, S. 83–87.