Psychiatrische Diagnostik und klinische Praxis im Ersten Weltkrieg[1]
Von Heike Karge
[Frühere Version des Artikels: 2016]
Gab es in und nach dem Ersten Weltkrieg im kroatisch-slawonisch, später jugoslawischen Raum Soldaten, die psychisch am Krieg erkrankten? Die wie in West- und Mitteleuropa als Kriegsneurotiker, als Kriegszitterer oder als shell-shocked soldier bezeichnet, mit einer vom Krieg gezeichneten Seele von den Fronten zurückkehrten? Anders als im angloamerikanischen, west- und mitteleuropäischen und russischen Raum sind in der südosteuropäischen Historiografie solche psychiatriegeschichtlichen Fragestellungen bislang ausgesprochen rar.[2] Mittlerweile gibt es erste Forschungen zum jugoslawischen Raum. Sie zeigen, dass es zwar Soldaten gab, die in die königliche ‚Irrenanstalt‘ Stenjevec bei Zagreb eingeliefert wurden, bei ihnen aber äußerst selten kriegspsychiatrische Diagnosen wie die oben genannten gestellt wurden.[3] Anders als bei den deutschen, britischen, russischen oder französischen Soldaten finden sich in den kroatisch-slawonischen Akten kaum spezifische Kriegsleiden, dafür werden in den Akten die Symptome von Soldaten mit Begriffen der Zivilpsychiatrie beschrieben.
Im vorliegenden Beitrag soll daher die Frage diskutiert werden, was es für das Verständnis einer psychischen Störung bei Soldaten bedeutete, wenn es kriegsspezifische psychiatrische Diagnosen gab oder nicht. Lassen sich während des und nach dem Ersten Weltkrieg gemeinsame europäische Entwicklungslinien im Umgang mit seelisch dekompensierten Soldaten erkennen, und wie verhalten sich hierzu die unterschiedlichen Begrifflichkeiten für die Bezeichnung soldatisch-psychischer Versehrtheit? Ich möchte zeigen, dass die Analyse des Umgangs mit psychischer Kriegsversehrtheit einen ambivalenten Europäisierungsprozess sichtbar machen kann. Er erschließt sich aber nicht nur über die Analyse gemeinsamer, unterschiedlicher oder – wie im kroatisch-slawonischen Fall – fehlender Terminologien zur Bezeichnung von spezifisch im Krieg entwickelten psychischen Störungen, sondern wird erst im mikrohistorischen Zugriff auf die Patientenakten sichtbar, weil hier die konkret angewendeten klinischen Praktiken festgehalten wurden.
Beispielhaft für die in Kroatien-Slawonien angewendete Diagnostik stehen die Patientenakten von Nikola und Franz. Beide Quellen stammen aus dem Jahr 1917, einem Zeitpunkt, als die „Irrenanstalt“ Stenjevec, die einzige im ganzen Raum Kroatien-Slawonien, zur österreichisch-ungarischen Monarchie gehörte.[4] Weder in der einen noch in der anderen Patientenakte wird eine kriegspsychiatrische Diagnose erteilt. Denn die in Stenjevec eingewiesenen Soldaten, die nicht an einem nachweisbar organisch bedingten neurologischen Leiden wie dem Spätstadium der Syphilis oder an Alkoholismus litten, erhielten überwiegend eine Diagnose wie Katatonie (wie im Falle von Nikola) und Hebephrenie (wie im Falle von Franz) oder Dementia praecox. Während bei der Katatonie motorische Störungen im Vordergrund standen, war für die Hebephrenie das jugendliche Alter des Erkrankten ausschlaggebend. Dementia praecox schließlich war das Vorgängerkonzept für die im Entstehen begriffene Diagnose Schizophrenie. Der deutsche Psychiater Eugen Bleuler hatte diese drei Krankheitsbilder kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges in der „schizophrenen Gruppe“ zusammengefasst.[5] Und es ist bemerkenswert, wie hoch der Anteil dieser „Schizophrenen“ unter den 1914–1920 eingelieferten (ehemaligen) Militärangehörigen war, die nicht an einem nachgewiesenen neurologischen Leiden litten: Im Jahre 1917 betraf das in Stenjevec knapp die Hälfte der hier eingewiesenen Soldaten, 1920 waren es bereits mehr als 60 Prozent. Auch die Diagnostiken in den einweisenden Militärspitälern unterschieden sich nicht von denen der Zivilanstalt Stenjevec – im Jahre 1919 erhielten gar drei Viertel aller in Stenjevec eingewiesenen Soldaten, die vorher in Militärspitälern behandelt wurden, in Letzeren eine Diagnose der schizophrenen Gruppe.
Aus diesem Befund ergibt sich zunächst eine deutliche Diskrepanz zur militärpsychiatrischen Diagnostik anderer europäischer Länder. Im Ersten Weltkrieg gab es beispielsweise in Großbritannien mit der Bezeichnung shell-shock oder in Deutschland mit der Bezeichnung Kriegsneurose Begriffe, die einen Zusammenhang zwischen Krieg und Psyche auszuloten suchten. Im Zweiten Weltkrieg sprach man dann im angloamerikanischen Raum unter anderem von anxiety syndroms (dt. Angststörungen) und Psychoneurosen, in der Sowjetunion von kontuzija (dt. Quetschung).[6]
Die Verwendung unterschiedlicher Begrifflichkeiten weist darauf hin, dass der Zusammenhang zwischen Krieg und Psyche jeweils verschieden ausgelegt wurde. Allerdings gibt es immerhin einen kleinsten gemeinsamen Nenner für diese außerhalb Kroatien-Slawoniens verwendeten Begriffe: nämlich ihre schiere Existenz, über die versucht wurde, das Zusammenbrechen von Soldaten im Krieg zu erklären; von Soldaten, die keine äußeren Anzeichen einer körperlichen Verletzung aufwiesen, aber trotzdem unfähig waren weiterzukämpfen. Wie dieses Zusammenbrechen konkret erklärt wurde, war sehr unterschiedlich. Den größten Streitpunkt bildete im Ersten Weltkrieg die Frage, ob es mit organischen Gehirnveränderungen, ausgelöst z.B. durch eine nahe Granatexplosion, oder mit rein psychisch zu verstehenden Veränderungen einhergehe. Hans-Georg Hofer hat eindringlich nachgezeichnet, wie diese Debatte inmitten des Ersten Weltkrieges in verschiedenen Ländern West- und Mitteleuropas ausgetragen wurde.[7] Man einigte sich darauf, dass es sich a) um eine psychische Erkrankung handele, aber dass b) nicht der Krieg, sondern andere Faktoren (z.B. individuelle Vorerkrankungen der Soldaten) Auslöser dafür seien. Diese Ansicht blieb über den Zweiten Weltkrieg hinaus weitgehend gültig.
Im Januar 1917 heißt es im Stenjevecer ärztlichen Gutachten über Franz, dass er an „Angstgefühlen, Sinnestäuschungen und nachfolgenden manisch-depressiven Erregungszuständen“ leide. Nikola wiederum sei „ängstlich, scheinbar halluzinant“, habe eine „eigentümliche starre Körperhaltung“ und leide unter „Erregungszuständen“. Franz’ Diagnose wurde zweimal revidiert. Auf dem Aufnahmeblatt sind zunächst „Imbecillitas“, was so viel wie geistige Beschränktheit, aber auch Schwäche heißen konnte, und Manie notiert. Beides wurde durchgestrichen, die dritte und finale Diagnose lautete hebephrenische Demenz.[8] Nikolas Gutachten ist, was die psychiatrische Qualifikation der behandelnden Ärzte betrifft, besonders aufschlussreich – seine Diagnose Katatonie wird in Klammern mit „Jugendirresein“ erläutert, was aber damals eigentlich die Hebephrenie war. Diese Unsicherheit in der Diagnoseerstellung angesichts von Symptomen, bei denen einmal starre Körperhaltungen, ein anderes Mal Halluzinationen, ein drittes Mal Erschöpfung im Vordergrund standen, und meistens alles zusammen auftrat, ist nicht nur für die Spitäler und Anstalten in der südöstlichen Hälfte der Donaumonarchie kennzeichnend. Hofer, der sich ausführlich mit Neurasthenie und Nervosität im österreichischen psychiatrischen Diskurs unter anderem während des Ersten Weltkrieges befasst hat, argumentiert in Bezug auf beide Diagnosen, dass sie „Teil eines medizinisch-wissenschaftlichen Erklärungssystems [waren], die diese Erfahrungen benennbar und plausibel machten, sie aber nicht ‚authentisch‘ erfassten oder ‚objektiv‘ repräsentierten“.[9] Für die in Stenjevec verwendeten Diagnosen trifft dies zweifelsohne ebenfalls zu.
Selbst wo Begrifflichkeiten zur Bezeichnung eines Zusammenhanges von Krieg und soldatischer Psyche vorhanden waren, konnte eine regelrechte „diagnostic confusion“ herrschen, wie z.B. Laura Phillips am Beispiel der russischen Militärpsychiatrie im Ersten Weltkrieg diskutiert.[10] Bruna Bianchi wiederum zeigt anhand der italienischen Kriegspsychiatrie, dass Verwirrtheit, Depressionen oder Tremores der Soldaten oft als Amentia (Geistesschwäche), Epilepsie oder Hysterie beschrieben wurden.[11] Auch in Deutschland waren Begriffe wie die Kriegsneurose oder der ebenfalls verwendete Begriff der Kriegshysterie keine etablierten Diagnoseeinheiten, „sondern fassten eine Vielzahl an psychischen Erkrankungen als Sammelbegriff zusammen“.[12] Welche Erkrankungen das konkret waren, lässt sich ansatzweise, aber nicht mit letzter Gewissheit bestimmen. Daraus ergibt sich ein nicht ganz unerhebliches methodisches Problem, das sich in der Frage kristallisiert, wen wir heute rückwirkend als nicht nur im, sondern am Krieg psychisch erkrankt bezeichnen können. Denjenigen, der in der deutschen Armee die Diagnose Kriegsneurose erhielt? In gewisser Weise wäre das ahistorisch, da spätestens ab 1917 diese Diagnose nicht mehr transportieren durfte, dass ein Soldat am Krieg psychisch erkrankt war. Denjenigen, der die Diagnose shell-shock erhielt? Dann müssten kulturhistorische Arbeiten zu Großbritannien im Krieg – überspitzt formuliert – mit dem Jahr 1916 enden, denn ab Jahresbeginn 1917 wurde der Gebrauch des Begriffes in der Armee faktisch untersagt.
Das Vorhandensein von zunächst scheinbar klaren Begrifflichkeiten schließt folglich nicht aus, dass es auch weitere Möglichkeiten gab (oder gefunden werden mussten) um psychiatrisch zu bezeichnen, dass ein Soldat während des Krieges psychisch auffällig geworden war. Dazu gehört zweifelsohne die zivilpsychiatrische Diagnose Dementia praecox bzw. Schizophrenie. Dass ein Soldat aber am Krieg psychisch erkrankt war, sollten in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts die wenigsten Begriffe transportieren, weder die Schizophrenie im südslawischen Raum, noch ab der zweiten Kriegshälfte die Kriegsneurose im deutschen oder shell-shock im britischen Sprachraum. Dem Vorhandensein kriegspsychiatrischer Diagnosen in weiten Teilen West- und Mitteleuropas und in Russland steht also die Nichtverwendung solcher Diagnosen im südslawischen, speziell dem kroatisch-slawonischen Raum gegenüber. Aber das sagt noch nichts über die Behandlungen der Soldaten und die Konsequenzen, die sich für sie daraus ergaben.
Die Praxis der überwiegend zivilpsychiatrischen Diagnosen für Soldaten des Ersten Weltkrieges im kroatisch-slawonischen Raum weicht deutlich von den entsprechenden Praktiken in anderen europäischen Räumen ab. Sie weist jedoch eine erstaunliche Parallele zu einem anderen europäisch-peripheren Raum auf. Der Historiker Yücel Yanıkdağ hat sich mit der osmanischen Kriegs- und der türkischen Nachkriegspsychiatrie auseinandergesetzt.[13] Er stößt auf eine ähnliche Problematik wie die vorliegende Analyse, nämlich auf das weitgehende Fehlen von medizinisch-psychiatrischem Vokabular, mit dem ein Zusammenhang zwischen Krieg und Psyche hätte diskutiert werden können. Und er stößt ebenso auf die stattdessen so häufig vergebene Diagnose der Dementia praecox. Er erklärt dies mit der geringen Anzahl ausgebildeter osmanischer und türkischer Psychiater und mit dem Mangel an fachpsychiatrischem Wissen. Faktisch also wird hier die Rückständigkeit der psychiatrischen Profession in der osmanisch-türkischen Peripherie Europas zum Erklärungsfaktor für die diagnostischen Praktiken in der osmanischen Armee. Auch in der südslawisch-europäischen Peripherie Kroatien-Slawonien gab es zu der Zeit nicht einmal eine Handvoll Psychiater – allerdings waren sie exzellent ausgebildet. Denn kroatische und serbische ÄrztInnen erhielten ihre Ausbildung in Graz, Wien, Passau, Leipzig oder Paris. Es kann also anders als bei den osmanisch-türkischen Ärzten davon ausgegangen werden, dass sich deutschsprachige und südslawische ÄrztInnen in einem gemeinsamen medizinischen Wissensraum bewegten. Dies trifft insbesondere für die Psychiatrie zu, da dies eine Disziplin war, die im jugoslawischen Raum bis zum Ende des Ersten Weltkrieges keine eigene akademisch-universitäre Tradition besaß. Die wenigen serbischen oder kroatischen Ärzte, die eine psychiatrische Zusatzausbildung absolviert hatten, hatten zumeist mehrere Monate an renommierten österreichischen psychiatrischen Anstalten wie denen in Feldhof oder in Graz bzw. in den oben genannten europäischen Zentren verbracht.
In der kroatisch-slawonischen Psychiatrie lagen die Ursachen für die Spezifika der diagnostischen Praxis also nicht in einer Rückständigkeit, einem Mangel an psychiatrischem Wissen. Vielmehr, und das soll an dieser Stelle thesenhaft angedeutet werden, waren die Besonderheiten in den Adaptionsmechanismen begründet, mit denen das in West- und Mitteleuropa angeeignete Fachwissen im südosteuropäischen Raum eingesetzt wurde.[14] Adaptiert wurde dieses Fachwissen in erster Linie in den wenigen Anstalten in diesem Raum.[15] Die hier tätigen Psychiater aber, die sich selbst aufgrund ihrer Ausbildung und ihres sozialen Standes als urban und als Teil der modernen Welt wahrnahmen, reproduzierten seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts bis in die Zwischenkriegszeit hinein in ihren Schriften beständig ein Bild, das von der Dichotomie der modernen, aber sehr kleinen Enklave Stadt und dem sie umgebenden, und von den Modernisierungsprozessen vermeintlich unberührten Umland – der bäuerlichen Welt – lebte. Die „Irrenanstalt“ war in dieser Sichtweise einer der wenigen Orte, an dem sich die beiden Welten berührten – über die modern ausgebildeten und sich auch so wahrnehmenden behandelnden Ärzte und die als moderne-fern betrachteten bäuerlichen PatientInnen, die bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges den überwiegenden Teil der PatientInnenschaft in den Anstalten stellte.
Mit den Worten „Bei uns hat nicht der Fluch der Kultur, sondern der Fluch der Unkultur diese ganze Armee von Geisteskrankheiten geschaffen“ brachte der jugoslawische Militärmediziner Andrija Deak im Jahre 1930 auf den Punkt, was die wenigen Psychiater bereits seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts, dem Beginn der dortigen Anstaltspsychiatrie, immer wieder resigniert beklagten. Diese Klage bestand in der zur Gewissheit geronnenen Annahme, dass hier nicht die um die Jahrhundertwende anderswo in Europa aufscheinende nervöse Moderne sondern deren durch „Un-Kultur“ verursachte Abwesenheit die Menschen – also die bäuerlichen PatientInnen – in die Anstalten treibe.[16]
Dass also die bäuerliche Bevölkerung in überwiegender Mehrheit die PatientInnenschaft bildete, bedingte noch nicht die Dominanz einer primär organisch begründenden Psychiatrie, die sich in den Diagnosen Dementia praecox und Schizophrenie spiegelte. Aber dass die Ärzte die Welt ihrer Patienten für unkultiviert, unzivilisiert und unmodern hielten, macht es zu einer logischen Deutung. Es ist also die Art, wie die kroatisch-slawonischen Psychiater die Welt um sich herum und vor allem ihre PatientInnen wahrnahmen, die ihre Entscheidungen prägte. Dazu gehörte zum Beispiel, bestimmte psychiatrische Konzepte für die Behandlung dieser PatientInnen zu präferieren – oder eben nicht. Dies wiederum ermöglichte und bedingte bis in den Krieg hinein die Marginalisierung psychiatrischer Erklärungsansätze, die von psychischen Überforderungen der modernen Welt ausgingen. Seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert, angestoßen von den Diskussionen um Oppenheims Konzept der traumatischen Neurose, konnte auch ein von außen eindringender psychischer Schock ein Auslöser sein. Dass an Soldaten diese diagnostischen Praktiken nicht angewendet wurden, hängt wohl damit zusammen, dass im hier untersuchten Raum sich die Vorstellung vergleichsweise spät entwickelte, dass die moderne Welt – und der moderne Krieg – nicht nur bei der städtischen, sondern auch bei der ruralen Bevölkerung psychische Krankheiten verursachen können. Erst über den Begriff der „sozialen Neurose“ begann sich in der späten Zwischenkriegszeit diese Ansicht allmählich zu etablieren. Aber selbst dann erlangte die Vorstellung, dass psychische Erkrankungen sozial generiert mit den Schattenseiten der Moderne in Verbindung stünden, keinen Mainstreamcharakter. Dass ein Arbeiter oder gar ein Soldat an einer Neurose erkranken könnte, galt bis über die Zwischenkriegszeit hinaus als eher zweifelhaft. Das „nervöse Zeitalter“, das in west- und mitteleuropäischen Gesellschaften um die Jahrhundertwende seinen ersten und mit den psychischen Ausfällen der Soldaten im Ersten Weltkrieg seinen zweiten Höhepunkt erlebte, sollte in Jugoslawien erst mit den Umwälzungen zur sozialistischen Moderne anbrechen.
In der Diagnostik von Stenjevec zeigt sich also, dass die Vorstellung eines von außen einwirkenden heftigen, unerwarteten und verstörenden Ereignisses als Auslöser einer psychischen Erkrankung nicht verbreitet war, anders als in vielen anderen europäischen Ländern in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Dass Geisteskrankheiten hier eher organisch begründet wurden, führte dazu, dass auch die Soldaten der Weltkriege in diese psychiatrische diagnostische Tradition einbezogen wurden.
In dieser Diagnostik zeigt sich also nicht, dass es im südosteuropäischen Raum im Vergleich zu anderen europäischen Räumen weniger Verständnis für eine soldatisch-psychische Versehrtheit gab, zumal dieses Verständnis im Untersuchungszeitraum so gut wie nirgends vorhanden war. Das Vorhandensein kriegspsychiatrischer Diagnosen sagt zudem auch nichts über die sich daraus ableitenden Konsequenzen für die Soldaten aus. Erst an diesem Punkt also, wenn die Konsequenzen in den Blick genommen werden, werden etwaige Ambivalenzen im Umgang mit psychischer Kriegsversehrtheit im Ersten Weltkrieg sichtbar. Die Ambivalenzen liegen, so war ja meine These, weniger in den von den akademischen Psychiatrien einzelner europäischer Länder entwickelten militärpsychiatrischen Terminologien, sondern eher in den konkret angewendeten Praktiken in den klinischen Anstalten.
Eine Konsequenz dieser Praxis deutet sich an, nämlich dass die überwiegende Verwendung einer Diagnose aus der schizophrenen Gruppe bereits während des Krieges und vermutlich bis zum Jahre 1929 die Option eines militärischen Versorgungsanspruchs zumindest nicht ausschloss[17], was ganz massive Folgen für die behandelten Soldaten hatte. Und das ist nun wirklich erstaunlich, denn die Debatte, die kurz nach Kriegsbeginn in Deutschland, Österreich-Ungarn oder Großbritannien entbrannt war, beruhte auf der Befürchtung, den Unterhalt hunderttausender psychisch versehrter Soldaten langfristig aus militärischen Haushaltsmitteln begleichen zu müssen. Deshalb war zum Beispiel in der Donaumonarchie, zu der auch Kroatien-Slawonien gehörte, bereits im Sommer 1916 eine „institutionalisierte Behandlung der Kriegsneurosen eingeleitet worden, die primär auf militärische Interessen hin ausgerichtet war“.[18] Renten- und andere Versorgungsansprüche sollten durch spezifische Diagnosestellungen und Behandlungen in psychiatrischen Spitälern und Speziallazaretten niedrig gehalten werden.
In Nikolas Patientenakte – und in der überwiegenden Zahl der untersuchten Akten – gibt es jedoch folgenden Satz: „Das Leiden entstand während der aktiven militärischen Dienstleistung & besteht Anspruch auf Militärversorgung.“ Nikola, der in Stenjevec verstarb, erwarb sich bzw. seinen Angehörigen durch genau diese Formulierung einen militärischen Versorgungsanspruch. Wir erfahren in der Akte jedoch fast nichts über die Zeit der „aktiven militärischen Dienstleistung“, also über den Krieg. Nikola wird beschrieben als ein 1888 geborener Landsturminfanterist und Bauer aus Koljani bei Sinj, der am 30. Juni 1917 an Tuberkulose verstarb. Die wenigen Aufzeichnungen des kroatisch-sprachigen Pflegepersonals datieren von Februar bis Juni 1917, auch hier ist nur wenig zum Krieg verzeichnet, das Leiden lässt sich dennoch erahnen: „3.2. spricht nicht, reagiert auf gar nichts; 5.2. liegt stocksteif im Bett; 8.2. spricht unablässig mit sich selbst; 9.2. weint den ganzen Nachmittag, spricht kein Wort; 3.3. heute Nacht schlief er nicht, sprach über den Krieg; 30.6. starb am Abend.“
Franz aus Brünn wurde im November 1916 nach Stenjevec eingewiesen, war zunächst in Bosnien stationiert, später in Mitrovica und kam im Frühjahr 1916 schließlich nach Albanien. Bereits 1914 sei er in Bosnien an einem „Herzleiden“ mit Atembeklemmungen erkrankt. Anders als bei Nikola erfahren wir von Franz immerhin die Stationen seines Weges im Krieg, aber nicht, was er dort erlebte. Für die Diagnoseerstellung scheinen solche Details keinerlei Informationswert besessen zu haben. Der Krieg kommt nur am Rande vor, als ein Raum, der in geografischen Variationen durchschritten wird. Dieser Befund gemeinsam mit den kriegsunspezifischen Diagnosen aus der schizophrenen Gruppe ließe sich so deuten, dass das Erleben im Krieg als unwichtig für die Diagnoseerstellung betrachtet wurde. Aber die Standardformulierung „Das Leiden entstand während der aktiven Dienstzeit“ oder, wie im Falle von Franz, die ärztliche Schlussfolgerung, dass er „noch einer mehrmonatlichen Erholung“ bedürfe, eröffnet auch eine andere Interpretation: Die Schrecken und Strapazen des Krieges, durch die die Patienten gegangen waren, wurden zwar von den Ärzten nicht notiert, aber zumindest diejenigen, die in den Militärspitälern und in Stenjevec arbeiteten, vermuteten wenigstens, dass es der Krieg war, der die Patienten krankgemacht hatte. Diese Überlegung folgt einer Interpretation des Historikers Philipp Rauh, der bei seiner Analyse deutscher Patientenakten des Ersten Weltkrieges statt eines von patriotischer Ideologie durchdrungenem ein eher „pragmatisches Arzt-Patient-Verhältnis“ konstatiert.[19] Solch eine eher pragmatische Position wäre zwar den offiziell geltenden militärpsychiatrischen Richtlinien absolut entgegengesetzt gewesen, wurde aber von zeitgenössischen Autoren wie z.B. dem Psychiater Ernst Meyer unter anderem auch im ostpreußischen Königsberg beobachtet.[20] Für Stenjevec, wo Soldaten eingewiesen wurden, für die die straffen österreichisch-ungarischen militärpsychiatrischen Richtlinien Anwendung hätten finden müssen, scheint also ein ganz ähnlicher Befund zu gelten. Über diese, in Anlehnung an Rauh sogenannten „pragmatischen“ Gemeinsamkeiten des Umganges mit psychischer Versehrtheit im Krieg wissen wir allerdings noch sehr wenig. Doch wird gerade hier die Ambivalenz des Umgangs mit den psychisch versehrten Soldaten des Ersten Weltkrieges sichtbar: nämlich wenn die akademische Psychiatrie und ihre militärpsychiatrischen Richtlinien mit den tatsächlichen klinischen Praktiken der militär- und zivilpsychiatrischen Institutionen konfrontiert werden. Die Parallelen, die z.B. zwischen den Praktiken deutscher und kroatisch-slawonischer Institutionen aufscheinen, ermutigen also, etwaige Ambivalenzen nicht nur innerhalb geografischer und politischer Parameter (Ost-West; Zentrum-Peripherie; oder im Ländervergleich) auszuloten. Vielmehr ist bei der Frage nach den Ambivalenzen im Umgang mit psychischer Versehrtheit im Krieg eine vergleichende lokale bzw. mikrohistorische Perspektive gewinnbringend, die nach den Behandlungspraktiken in ganz konkreten Spitälern und psychiatrischen Kliniken in verschiedenen europäischen Räumen fragt. Hier zeigen sich trotz der unterschiedlichen Diagnosen, mit denen soldatisch-psychische Erkrankungen im Krieg in europäischen Ländern bezeichnet (oder eben nicht bezeichnet) wurden, über staatliche Grenzen hinweg verblüffende Gemeinsamkeiten.
[1] Essay zur Quelle: Patientenakten aus der jugoslawischen Psychiatrie (1917/1925), in: Themenportal Europäische Geschichte 2022, URL:< https://www.europa.clio-online.de/quelle/id/q63-76543>; Essay und Quelle sind in einer früheren Fassung online erschienen im Themenportal Europäische Geschichte, URL:< https://www.europa.clio-online.de/essay/id/fdae-1695>.
[2] Als Überblick vgl. Lerner, Paul; Micale, Mark S. (Hgg.), Traumatic Pasts. History, Psychiatry and Trauma in the Modern Age, 1870–1930 (Cambridge Studies in the History of Medicine; 2), Cambridge 2001 und Hofer, Hans-Georg; Prüll, Cay-Rüdiger; Eckart, Wolfgang Uwe (Hgg.), War, Trauma and Medicine in Germany and Central Europe (1914–1939) (Neuere Medizin- und Wissenschaftsgeschichte; 26), Freiburg im Breisgau 2011. Zu Russland vgl. Sirotkina, Irina, The Politics of Etiology: Shell Shock in the Russian Army, 1914–1918, in: Brintlinger, Angela; Vinitsky, Ilya (Hgg.), Madness and the Mad in Russian Culture, Toronto 2007, S. 117–129 und Phillips, Laura L., Gendered Dis/ability. Perspectives from the Treatment of Psychiatric Casualties in Russia’s Early Twentieth-Century Wars, in: Social History of Medicine 20 (2007), H. 2/3, S. 333–350.
[3] Vgl. Karge, Heike, Making Sense of War Neurosis in Yugoslavia, in: Leese, Peter; Crouthamel, Jason (Hgg.), Psychological Trauma and the Legacies of the First World War, Basingstoke 2016, S. 217–235.
[4] Ärztlicher Bericht mit Gutachten zum Patienten Franz […], Königliche Landesirrenanstalt Stenjevec, Kroatien-Slawonien vom 30. Januar 1917, in: Arhiv Klinike za psihijatriju Vrapče (Archiv der psychiatrischen Klinik Vrapče, Kroatien) AKPV M 1917, A–L, 10180 (Quelle I); Aerztlicher Bericht & Gutachten zu Patient Nikola […], K.u.k. Festungsspital in Sarajevo, Abteilung für Geisteskranke, Österreich-Ungarn vom 25. Januar 1917, in: AKPV M 1917, A–L, 10082 (Quelle II), Übersetzung von H.K. Im Folgenden stammen alle Quellenzitate, soweit nicht anders vermerkt, aus den hier abgedruckten Quellen.
[5] Vgl. Berrios, German E.; Luque, Rogelio; Villagrán, José M., Schizophrenia: A Conceptual History, in: International Journal of Psychology and Psychological Therapy 3 (2003), H. 2/2, S. 111–140.
[6] Vgl. Zajicek, Benjamin, Scientific Psychiatry in Stalin’s Soviet Union. The Politics of Modern Medicine and the Struggle to Define „Pavlovian“ Psychiatry, 1939–1953, Chicago 2009, S. 123–126.
[7] Zum Kriegsneurosenverständnis in verschiedenen Ländern während des Ersten Weltkrieges vgl. Hofer, Hans-Georg, Was waren „Kriegsneurosen“? Zur Kulturgeschichte psychischer Erkrankungen im Ersten Weltkrieg, in: Kuprian, Hermann J. W.; Überegger, Oswald (Hgg.), Der Erste Weltkrieg im Alpenraum. Erfahrung, Deutung, Erinnerung, Innsbruck 2006, S. 309–321.
[8] Aufnahmeblatt, in: Quelle I, Übersetzung von H.K.
[9] Vgl. Hofer, Hans-Georg, Nervenschwäche und Krieg. Modernitätskritik und Krisenbewältigung in der österreichischen Psychiatrie (1880–1920), Wien 2004, S. 28.
[10] Phillips, Gendered Dis/ability, S. 335.
[11] Vgl. Bianchi, Bruna, Psychiatrists, Soldiers, and Officers in Italy During the Great War, in: Lerner/Micale, Traumatic Pasts, S. 222–252, hier S. 228.
[12] Neuner, Stephanie, Politik und Psychiatrie. Die staatliche Versorgung psychisch Kriegsbeschädigter in Deutschland 1920–1939 (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft; 197), Göttingen 2011, S. 66.
[13] Zur osmanischen Armee im Ersten Weltkrieg vgl. Yanıkdağ, Yücel, Ottoman Psychiatry in the Great War, in: Farschid, Olaf; Kropp, Manfred; Dähne, Stephan (Hgg.), The First World War as Remembered in the Countries of the Eastern Mediterranean (Beiruter Texte und Studien; 99), Würzburg 2006, S. 163–178. Zur türkischen Militärpsychiatrie in der Zwischenkriegszeit vgl. Yanıkdağ, Yücel, Healing the Nation. Prisoners of War, Medicine and Nationalism in Turkey, 1914–1939, Edinburgh 2013, S. 171–242.
[14] Vgl. dazu Karge, Heike, Der Charme der Schizophrenie. Psychiatrie, Krieg und Gesellschaft im kroatisch-serbischen Raum (Südosteuropäische Arbeiten), Berlin (i.E. 2020).
[15] Wie auch in Kroatien-Slawonien gab es z.B. in Serbien bis zum Ersten Weltkrieg nur eine einzige psychiatrische Anstalt.
[16] Deak, Andrija P., Neke pouke iz rekrutacije, in: Vojno-Sanitetski Glasnik 1 (1930), H. 1/4, S. 260–273, hier S. 270.
[17] Erst im 1929 verabschiedeten jugoslawischen Kriegsinvalidengesetz stellten Erkrankungen, die während des Krieges aufgetreten waren (wie zum Beispiel Rheumatismus, Tuberkulose oder eben eine diagnostizierte Geisteskrankheit) keine Berücksichtigungsgrundlage mehr dar. Vgl. Karge, Making Sense.
[18] Hofer, Nervenschwäche, S. 248.
[19] Vgl. Rauh, Philipp, Die militärpsychiatrischen Therapiemethoden im Ersten Weltkrieg. Diskurs und Praxis, in: Schmuhl, Hans-Walter; Roelcke, Volker (Hgg.), „Heroische Therapien“. Die deutsche Psychiatrie im internationalen Vergleich, 1918–1945, Göttingen 2013, S. 29–47, hier S. 44.
[20] Meyer berichtet aus Königsberg, dass viele Ärzte die offiziellen Richtlinien unterliefen, indem sie den Soldaten die Diagnose Dementia praecox erteilten und zugleich festhielten, dass die Krankheit durch den Kriegsdienst verursacht wurde. Vgl. Meyer, Ernst, Kriegsdienstbeschädigung bei Psychosen und Neurosen, in: European Archives of Psychiatry and Clinical Neuroscience 58 (1917), H. 1/1, S. 616–634, hier S. 621.