Stickmuster einer Weltkarte (1798); [Fotografie]

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Stickmuster einer Weltkarte (1798); [Fotografie][1]

Map Sampler, An Outline Map of the World for Ladies Needlework and Young Students of Geography, 1798[2]

Stickmuster


[1] Quelle zum Essay: Sünne Juterczenka, Der Globus als Stickmustertuch. Europäische Expansion, materielle Kultur und Geschlecht in der Frühen Neuzeit, in: Themenportal Europäische Geschichte, 2024, URL: <https://www.europa.clio-online.de/essay/id/fdae-135123>.

[2] Cooper Hewitt Smithsonian Design Museum (im Folgenden CH), URL: <http://cprhw.tt/o/2CB7k/> (8.3.2023).


Zugehöriger Essay: Der Globus als Stickmustertuch. Europäische Expansion, materielle Kultur und Geschlecht in der Frühen Neuzeit

Der Globus als Stickmustertuch. Europäische Expansion, materielle Kultur und Geschlecht in der Frühen Neuzeit[1]

Von Sünne Juterczenka

Zur Einführung: Gestickte Geschichte(n)

Sie stickten Menschen, Tiere, Pflanzen, Häuser – manchmal ganze Landschaften und Städte –, und sie stickten viel Text: Buchstaben- und Zahlenreihen, Verse, Gebete, Lieder und Sinnsprüche. Während der gesamten Frühen Neuzeit produzierten Mädchen und junge Frauen als Teil ihrer Erziehung Stickmuster- oder Modeltücher (engl. samplers). Im häuslichen und – vor allem im angloamerikanischen Raum – auch im schulischen Handarbeitsunterricht diente das Anfertigen von Stickmustertüchern dazu, Techniken zu erlernen, Muster zu memorieren und handwerkliches Geschick unter Beweis zu stellen. Aus bunten Seiden-, Leinen- oder Wollgarnen, manchmal auch aus anderen Materialien wie Metallfäden oder Haar gefertigt, sind die Stickereien nicht selten fehlerhaft oder unfertig, mitunter aber auch akkurat und formvollendet; einige wirken schematisch und steif, andere wiederum phantasievoll und ausdrucksstark. Viele sind nach Vorlagen gearbeitet – oft gleichen sich Formate und Motive, wiederholen sich die Botschaften.

Manche erzählen allerdings Geschichten: Das Victoria & Albert Museum in London verwahrt z.B. eine Arbeit des Kindermädchens Elizabeth Parker, das zu Beginn des 19. Jahrhunderts als Teenager in winzigen, rot gestickten Buchstaben seine vermeintlichen „Sünden“ beichtete, von Misshandlungen durch die Arbeitgeber berichtete und einen geplanten, aber nicht umgesetzten Suizid gestand.[2] Solche Stücke haben ausnahmsweise über spezialisierte Fachkreise hinaus Aufmerksamkeit erregt, doch die meisten Stickmustertücher schlummern unbeachtet in den Magazinen der Sammlungen. Dabei lohnen sie allein wegen ihrer Vielzahl einer näheren Betrachtung.

Anhand der Stickmustertücher eröffnet dieser Beitrag eine geschlechtergeschichtliche Perspektive auf die europäische Expansion; zugleich erkundet er die materielle Dimension dieses frühneuzeitlichen Fundamentalprozesses, an dem – das wird derzeit immer deutlicher – alle gesellschaftlichen Gruppen inklusive der Mädchen und Frauen auf die eine oder andere Weise teilhatten. Die Forschung zur Materialität hat zuletzt Güteraustausch, Warenökonomie und Konsum in der Frühen Neuzeit verstärkt in den Blick gerückt.[3] Umgekehrt betrachtet die Frühneuzeitforschung die Zirkulation der „Dinge“ mehr und mehr als Epochenkennzeichen.[4] Hier möchte ich anknüpfen und werde dazu folgendermaßen vorgehen: Erstens soll die Relevanz der Stickmustertücher als geschlechtsspezifische Zeugnisse der Expansion deutlich werden. Zweitens werde ich Stickmustertücher als Ausdruck transkultureller Perzeption und Interaktion lesen. Drittens wird ein Beispiel konkrete Verbindungen der Stickmustertücher zu Forschungsexpeditionen des 18. Jahrhunderts aufzeigen.[5] Am Ende werde ich noch einmal zusammenfassen, warum gerade die Partizipation von Frauen historische Narrative begünstigte, die als frühneuzeitliche Tiefendimension der europäischen Expansion bis in unsere eigene Zeit prägend blieben.

Stickmustertücher sind spezifisch weibliche Zeugnisse, denn durch sie wurden weiblich konnotierte Fertigkeiten eingeübt und tradiert, die für die kaum zu überschätzende heimische Textilproduktion benötigt wurden und daher auf dem Heiratsmarkt nachgefragt waren. Das Anfertigen der Tücher sollte Mädchen und junge Frauen auf eine Rolle als Ehefrauen und Mütter vorbereiten. Allerdings wurden Textilien in der Frühen Neuzeit nicht ausschließlich von Frauen verarbeitet. Auch wurden sie etwa im religiösen Kontext durchaus als Kunstform wertgeschätzt, und manche hatten liturgische Bedeutung, etwa die Paramente.[6] In Kirchen und Klöstern hatten Textilien seit dem Mittelalter eine wichtige Memorialfunktion, wie Heide Wunder in einem einflussreichen Aufsatz über „gewirkte Geschichte“ gezeigt hat.[7] Im säkularen Kontext waren Stickereien, auch Stickmustertücher, ein Mittel sozialer Distinktion; oft wurden sie signiert, waren damit ihren Urheberinnen und deren Familien zuzuordnen und ein Ausweis von Wohlstand und Ansehen. Für die Zurschaustellung gedacht, sind sie seltene Zeugnisse aus einer Zeit, die Mädchen und Frauen nur wenig Raum für eine kreative Selbstthematisierung ließ. Das gestickte Selbstzeugnis von Elizabeth Parker zeigt, wie dabei bisweilen Konventionen durchbrochen und die Bandbreite weiblicher Äußerungen mit der Nadel in der Hand erweitert werden konnten.

1. Die Expansion des Musterstickens

Das Mustersticken war in der Frühen Neuzeit von Skandinavien bis zum Mittelmeer gebräuchlich. Aus dem deutschsprachigen Raum stammen bekannte gedruckte Vorlagen, wie ein Schön Neues Modelbuch von allerleÿ lustigen Mödeln naczunehen Zuwürcken unn Zustikken des Nürnberger Kupferstechers, Wappenmalers und Verlegers Johann Siebmacher.[8] Es wurde mehrfach aufgelegt und war auch in anderen Ländern beliebt. Die Praxis des Musterstickens fand durch Kolonisierung und Migration über Europa hinaus geografische Verbreitung. Die ältesten amerikanischen Stickmustertücher stammen aus den Familien jener puritanischen Siedler:innen, die 1620 mit der „Mayflower“ den Atlantik überquerten und die Kolonie Plymouth im heutigen Massachusetts gründeten. Die besonders reiche Sammlung des Cooper Hewitt Smithsonian Design Museum in New York enthält zudem Exemplare aus Mexiko, Marokko und Indien.

Auch in sozialer Hinsicht breitete sich das Mustersticken im Lauf der Frühen Neuzeit aus. Frühe Arbeiten stammen fast ausschließlich von Mädchen und Frauen aus gehobenen Verhältnissen, weil Unterricht und Material zunächst noch recht kostspielig waren. Diese anfängliche Exklusivität verdeutlicht das Titelkupfer von Siebmachers Modelbuch aus dem 16. Jahrhundert, das vornehme Damen mit ihren Handarbeiten zeigt. Im 17. und 18. Jahrhundert wurde das Mustersticken durch die bessere Verfügbarkeit erschwinglicher Textilien und in Großbritannien und den britischen Kolonien auch durch den Ausbau des Schulwesens zu einem Bestandteil von Bildungsbiografien der unteren Schichten.

Selbst an konfessionellen Grenzen machte die Verbreitung des Musterstickens nicht Halt. Viele Stickmustertücher zeigen christliche Bilder und Texte protestantischer oder katholischer Provenienz. Außerdem gibt es Beispiele aus dem jüdischen Kontext. Hinzu kommen Stickereien aus kleinen Gemeinschaften jenseits des religiösen Mainstreams, die sich im Zuge der konfessionellen Ausdifferenzierung nach der Reformation in ganz Europa formierten. So produzierten Frauen und Mädchen aus den Reihen der Quäker oder Herrnhuter viele Stickmustertücher mit eigenen Motiven und Stilelementen, die die theologische Programmatik dieser Gemeinschaften widerspiegeln. Insgesamt kann man sagen, das Mustersticken war ein geografisch, sozial und konfessionell expandierendes Phänomen. Gemessen an der sozialen Position der stickenden Mädchen und Frauen ist die Überlieferungsdichte der Stickmustertücher beachtlich. Wie alle Textilien sind sie fragil und gelten als „ephemer“. Wenn sie dennoch erhalten blieben, dann wohl vor allem durch die Wertschätzung von Familien, die sie über Generationen hinweg als Erinnerungsstücke aufbewahrten. Verlässliche Angaben über ihre Zahl gibt es zwar nicht, doch zweifellos sind es viele Tausend.

Stickmustertücher sind also europaweit und darüber hinaus verbreitete geschlechtsspezifische Objekte. Die Kategorie Geschlecht war in der Frühen Neuzeit nicht nur für die Struktur europäischer Gesellschaften wesentlich, sondern – verbunden mit sexuellen Praktiken – auch für die europäische Expansion, wie beispielsweise Richard Trexler, Ann Laura Stoler oder Kathleen Wilson am Beispiel kultureller Kontaktzonen der atlantischen Kolonisierung gezeigt haben.[9] Doch in der Erforschung zeitgenössischer Wahrnehmungen und Deutungen der Expansion spielt die Kategorie Geschlecht bisher eher eine untergeordnete Rolle. Dies gilt gleichermaßen für jene Gebiete, wo Versuche der Europäisierung mehr oder minder erfolgreich, jedenfalls aber folgenreich waren, wie für Europa selbst, wo Rezeption und Rückwirkungen dieser Vorgänge ebenfalls tiefgreifende Wandlungen mit sich brachten. Immer wieder betont die Forschung zur europäischen Expansion, dass sie auf einer einseitigen Quellengrundlage fußt, nämlich vorwiegend auf Schriftquellen, die von europäischen Männern verfasst wurden. Stickmustertücher können dazu beitragen, diesem Ungleichgewicht zu begegnen und einen Zugang zur Sicht derjenigen zu finden, die bisher nur selten als Akteurinnen der Expansion hervorgetreten sind.

2. Textile Transfers

Wie gesagt: Manche Stickmustertücher erzählen Geschichten. Greifen sie Themen wie Kolonisierung und Migration auf, dann verweisen sie auf die globalen Bezüge der europäischen Frühen Neuzeit. Schiffe, die wichtigsten Verkehrsmittel der transozeanischen Expansion, gehörten schon früh zum Motivkanon der Stickvorlagen, auch weit im Binnenland. Einige Mädchen stickten fremdländische Tiere und Pflanzen. Besonders auf britischen Stickmustertüchern findet man auch Menschen unterschiedlicher Herkunft und Hautfarbe. So zeigt das Tuch von Judith Clarke (1706) im Stil einer Chinoiserie zwei Personen mit asiatischem Aussehen.[10] Eine von Ann Bell gestickte Paradiesszene mit Adam und Eva, Baum und Schlange (1788) wird von Figuren im Lendenschurz bevölkert. Alle (einschließlich der darüber schwebenden Engel und einer Justitia) haben glattes schwarzes Haar, und einige tragen einen kronenähnlichen Kopfputz – vielleicht dachte Ann beim Sticken an die Federkronen indigener Bevölkerungen Nordamerikas.[11] Die zehnjährige Margret Begbie aus Schottland stickte 1790 „Botany Bay“; die Bezeichnung war ein gängiges pars pro toto für die kurz zuvor gegründete britische Strafgefangenenkolonie in Australien. Auf ihrem Tuch sind drei dunkelhäutige Gestalten zu sehen, die das Einlaufen der europäischen Schiffe beobachten, vermutlich sollten sie indigene Australier darstellen.[12] Das Tuch der Italienerin Marianna Bacci (1801) schließlich zeigt einen Reiter mit Turban sowie eine Person mit dunkler Hautfarbe und buntem Federschmuck, die eine Giraffe an der Leine führt.[13]

Alterität wurde hier offenbar zu dekorativen Zwecken in Szene gesetzt. Doch andererseits wurden auch gewaltsame und in der Rückschau zutiefst problematische Konsequenzen von Expansion und globaler Verflechtung auf den Stickmustertüchern festgehalten. Zwei Exemplare aus dem Cooper Hewitt Museum kommentieren kritisch die atlantische Plantagenwirtschaft mit versklavten Arbeitskräften. Eines der beiden Stücke stammt von Mary Emiston (1803), einer afroamerikanischen Schülerin der African Free School in New York, und ist mit einem abolitionistischen Gedicht bestickt.[14]

In der Missionierung wurde das Mustersticken, wie Lynne Anderson an nordamerikanischen Beispielen gezeigt hat, zur „Zivilisierung“ indigener Mädchen anhand christlicher Moralvorstellungen genutzt. Die so entstandenen Stickmustertücher gehören zum Kontext der zwangsweisen Assimilierung, später auch der Ausbeutung von Arbeitskraft lokaler Bevölkerungen im Zuge europäischer Kolonisierung.[15] Für das 19. Jahrhundert hat Silke Strickrodt eine Reihe von samplers aus britischen Missionsschulen in Sierra Leone als „textile Dokumente“ gelesen. Auch wenn sie nur wenig über die Biografien ihrer Urheberinnen preisgeben, zeugen sie doch von weiblichen Netzwerken des Austauschs. Sie dokumentieren die Beziehungen zwischen Schülerinnen und Lehrerinnen, die durch koloniale Hierarchien und Abhängigkeiten, aber auch durch den Transfer von Wissen und Fertigkeiten geprägt waren.[16]

Als Gegenstände solcher Transfers verselbständigten sich manchmal die Motive der Stickmustertücher und anderer Handarbeiten im Transferprozess. So zeigen in einer Schule in Boston (Massachusetts) angefertigte Arbeiten von Töchtern europäischer Migrant:innen aus dem frühen 18. Jahrhundert die populäre Paradiesszene, wie sie später auch Ann Bell stickte. Das Motiv gehörte zum Kernrepertoire christlich geprägter Stickmuster; die spezifische Bildkomposition der Bostoner Arbeiten kommt jedoch in europäischen Arbeiten nicht vor – möglicherweise wurde sie in Boston von einer Handarbeitslehrerin entworfen.[17] Wie Anderson betont, boten in amerikanischen Missionsschulen vermittelte Handarbeitstechniken wie das Quilten später auch eine Grundlage für andere Formen kultureller Aneignung. Angesichts von Missionierung, Kolonisierung und Verdrängung dienten sie indigenen Frauen als Medium kultureller Selbstvergewisserung.[18]

Durch textile Transfers kam im 18. Jahrhundert schließlich auch eine spezielle Form von Stickmustertüchern nach Nordamerika, die sich nur dort sowie in Großbritannien und Irland findet. Eines dieser speziellen Tücher soll hier als Fallbeispiel dienen, um weibliche Partizipations- und Gestaltungsmöglichkeiten im Kontext der Expansion zu beleuchten.

3. Der Globus als Stickmustertuch

Die Tücher, um die es geht, zeigen als Motive geografische Karten; sie werden daher auch map samplers genannt. Sie entstanden vor dem Hintergrund eines allgemein wachsenden Interesses an Geografie und einer zunehmenden Verwendung von Karten im Schulunterricht. Auf den map samplers arbeiteten Schülerinnen Grenzen und Ortsnamen mit Nadel und Faden, teilweise auch in einer Mischtechnik mit Federkiel und Pinsel nach. Map samplers sind besonders fragil, da sie überwiegend auf dünnem Seidenstoff gearbeitet wurden. Trotzdem konnten die Geografin Judith A. Tyner und andere allein von diesem Typ rund 200 britische und 70 nordamerikanische Exemplare ermitteln; angefertigt wurden sie wahrscheinlich in weit höherer Zahl.

Britische map samplers zeigen meist die britischen Inseln, irische Irland, amerikanische einzelne Kolonien bzw. Bundesstaaten, nach 1801 die Hauptstadt Washington oder auch die amerikanische Westküste. Europa und die anderen Kontinente wurden ebenfalls Gegenstand der gestickten Karten. Anders als die zuvor beschriebenen Stickmustertücher, bei denen die Vermittlung von Handarbeitstechniken im Mittelpunkt stand, waren map samplers, wie Tyner festgestellt hat,offensichtlich eine geografische „learning exercise“.[19] Sie wurden dazu genutzt, Mädchen im Zeichen gewandelter Bildungsideale auf anschauliche Weise mit der Topografie vertraut zu machen.[20] Die weibliche Beteiligung an der Geschichte der Kartografie ist allgemein unterbelichtet, doch wir wissen, dass einige Frauen schon früh als Kartografinnen tätig waren. Das Kartenzeichnen war als Tätigkeit für Frauen akzeptiert, auch wenn ihre Expertise auf diesem Gebiet bisher wenig gewürdigt wurde.[21]

In der Mitte des 18. Jahrhunderts begannen renommierte, auf Kartenwerke spezialisierte Londoner Verlage, kartografische Lehr- und Lernmittel wie Puzzles, Karten- und Brettspiele sowie Globen aus Karton anzubieten. Seit den 1770er-Jahren druckten sie auch Vorlagen für map samplers, darunter eine textile „Map of the World from the Latest Discoveries“ aus dem Verlag von Robert Sayer, die auf einer Karte des Mathematikers Richard Dunn beruhte. Nachdem Sayers’ Verlag von Robert Laurie und James Whittle übernommen worden war, brachten diese 1798 eine weitere Stickvorlage auf den Markt. Sie verweist schon im Titel auf ihre Doppelfunktion: „An Outline Map of the World for Ladies Needlework and Young Students of Geography“.[22] Das Beispiel zeigt: Map samplers waren keine kurzlebige Modeerscheinung. Sie blieben mindestens bis ins zweite Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts populär und repräsentieren Tyner zufolge als „transitional objects in the material culture of women’s education“ den Moment, als „educational technologies“ vermehrt auf kindgerechte Vermittlung abgestimmt und die Erziehung von Mädchen inhaltlich teilweise an die der Jungen angeglichen wurde.[23]

Dieser Wandel vollzog sich nicht zufällig gerade um die Jahrhundertwende. Seit den 1760er-Jahren hatten Großbritannien und Frankreich nämlich eine Reihe von Forschungsexpeditionen in die Pazifikregion entsandt. Über diese Region war in Europa vergleichsweise wenig bekannt, und die Expeditionen hatten nicht zuletzt den Auftrag, die Region kartografisch zu erschließen. Angesichts territorialer Verluste, vor allem durch die Amerikanische Revolution und den Siebenjährigen Krieg, nahmen die Kolonialmächte nun Australien und Ozeanien für Besiedelung und ökonomische Nutzung ins Visier. In ganz Europa wurden die Expeditionen durch Presseberichte, Reisebeschreibungen und nicht zuletzt durch Kartenwerke publik gemacht. Zeitgenössische Gelehrte und Publizisten feierten die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts als „zweites Entdeckungszeitalter“. In diesem Zeitalter, so die Vorstellung, würden die letzten weißen Flecken in den Weltmeeren getilgt, das im 16. Jahrhundert begonnene Werk europäischer Erderkundung würde vollendet und die „Geschichte der Entdeckungen“ würde ihren Ziel- und Höhepunkt erreichen. Die Karten dieser Zeit zeigen neben Gebieten der südlichen Hemisphäre auch den Verlauf bekannter Expeditionen wie derjenigen des britischen Weltumseglers James Cook; ihre Fahrtrouten waren häufig als gepunktete oder gestrichelte Linien eingezeichnet.

Den jungen Stickerinnen eröffneten die Weltkarten-Stickmuster allerhand kreative Möglichkeiten. So zeigt eine Karte von Mary Ann Wood, die sie in den frühen 1770er-Jahren nach der Vorlage von Sayer anfertigte, den Verlauf von Cooks erster Weltumsegelung mit dem Schiff „Endeavour“. Anne Hammond ergänzte auf einem späteren Exemplar nach derselben Vorlage (1812) die Fahrtrouten von Cooks zweiter und dritter Expedition und beschriftete diese vor der afrikanischen Ostküste in winziger Schrift als „Cook’s Track“.[24] Wenn die Mädchen den Vorlagen Fahrtrouten und Beschriftungen hinzufügten, so deutet dies auf eine intensive Beschäftigung mit der Berichterstattung über das „zweite Entdeckungszeitalter“ hin. Offensichtlich griffen Wood und Hammond für ihre Ergänzungen auf gedruckte Karten und Reiseberichte zurück. Auch in Zeitschriften enthaltene Karten wurden nachweislich als Vorlagen für map samplers genutzt; vermutlich waren sie kostengünstiger als die seidenen Stickmuster.[25]

4. Rezeption – kulturelle Übersetzung – Geschichtsdenken

Die Auswertung (vermeintlich) „ephemerer“ Sachquellen wie der Stickmustertücher wird oft Spezialist:innen überlassen. Solche Quellen verdienen aber mehr Aufmerksamkeit, denn sie können neues Licht auf zentrale Themen der europäischen Frühen Neuzeit werfen. Als gängiger Bestandteil materieller Kultur und weiblicher Erziehung zeugen die Stickmustertücher davon, wie Mädchen und Frauen innerhalb wie außerhalb Europas die europäische Welterkundung und Kolonisierung im häuslichen bzw. schulischen Kontext mit verfolgten. Gewiss waren diese Erfahrungen durch europäische Gesellschaftsnormen und christliche Moralvorstellungen grundiert, doch das ist nicht alles.

Vielmehr dokumentieren die Stickmustertücher erstens einen Wandel der europäischen Mädchenbildung, die seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts auch den Geografieunterricht und damit zeitgenössische Vorstellungen von Europas Platz im globalen Raumgefüge umfasste. Dieser Wandel zählte zu den Rückwirkungen der Expansion auf Europa. Zweitens erhellen die Stickereien Formen und Intensität der Rezeption europäischer Expansion, im Fall der map samplers speziell der Forschungsexpeditionen im Pazifikraum. Verleger wie Sayer bzw. Laurie & Whittle produzierten zwar vorgefertigte Materialien zum Memorieren von Wissen über die Erderkundung. Dieses Wissen kombinierten Mädchen und Frauen dann aber offenbar eigenständig mit Kenntnissen, die sie aus anderen Medien gewonnen hatten. Drittens verliehen die Mädchen und Frauen diesem Wissen durch die Verarbeitung in den Stickmustertüchern eine sinnlich erfahrbare, alltagsweltliche Qualität, die in der Forschung unter dem Schlagwort „everydayness of Empire“ firmiert.[26] Man kann auch sagen: Sie leisteten eine kulturelle Übersetzungsarbeit, indem sie die Vorstellung von einem „zweiten Entdeckungszeitalter“ während der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in ihre eigene Sphäre übertrugen – eine Sphäre, die zwar häuslich definiert, aber keineswegs vom Zeitgeschehen isoliert war. Die gestickten Fahrtrouten der Expeditionen veranschaulichten dabei die sukzessiven Erfolge europäischer Erderkundung, die sich auch von zu Hause aus mitverfolgen ließen.

Die Stickmustertücher sind nicht im herkömmlichen Sinne schriftlich, aber dafür sehr zahlreich überlieferte Zeugnisse. Sie können gleich in doppelter Hinsicht einen Weg aus der einseitigen Quellenlage bei der Erforschung von Expansion und Kolonisierung weisen, nämlich erstens als spezifisch weibliche Zeugnisse und zweitens (seltener) als Zeugnisse indigener Wahrnehmung der Expansion. So betrachtet, lassen sich die Stickmustertücher als materieller Ausdruck eines expansionistischen Verständnisses von Europas Rolle in der Welt lesen. Sie belegen, wie weitgehend und auf welche Weise sich die historiografisch unterrepräsentierten Mädchen und Frauen in Europa dieses kollektive Selbstverständnis zu eigen machten. So können sie nachvollziehen helfen, wie sich Fortschrittsoptimismus und Expansionismus der Aufklärungszeit zu einem affirmativen Narrativ verdichteten, das europäisches Geschichtsdenken nachhaltig prägte. Die Langlebigkeit des Narrativs von einem „zweiten Entdeckungszeitalter“ – diese Bezeichnung findet sich bis heute in historiografischen wie populären Darstellungen – lässt sich nicht zuletzt aus der breiten Partizipation an der Erkundung und Kolonisierung anderer Weltteile erklären, die in den Stickmustertüchern erkennbar wird. Mitunter lassen die Stickmustertücher aber auch Brüche in diesem Narrativ aufscheinen, etwa im Zusammenhang mit der Verdrängung, Ausbeutung oder zwangsweisen Assimilierung nicht aus Europa stammender Akteurinnen.



[1] Essay zur Quelle: Stickmuster einer Weltkarte (1798); [Fotografie], in: Themenportal Europäische Geschichte, 2024, URL: <https://www.europa.clio-online.de/quelle/id/q63-80620 >.

[2] Mit Literaturhinweisen: Victoria & Albert Museum: Sampler von Elizabeth Parker, ca. 1830, URL: <https://collections.vam.ac.uk/item/O70506/sampler-parker-elizabeth/> (9.3.2023).

[3] Julia A. Schmidt-Funke (Hrsg.), Materielle Kultur und Konsum in der Frühen Neuzeit, Köln 2019.

[4] Kim Siebenhüner, Die Mobilität der Dinge. Ansätze zur Konzeptualisierung für die Frühneuzeitforschung, in: Annette Cremer / Martin Mulsow (Hrsg.), Objekte als Quellen der historischen Kulturwissenschaft. Stand und Perspektiven der Forschung, Köln 2017 (Ding Materialität Geschichte 2), S. 37–48.

[5] Zu den Forschungsexpeditionen demnächst: Sünne Juterczenka, Expeditionen ins Inselmeer. Zur Rezeption von Pazifikreisen im 18. Jahrhundert, Göttingen 2024 (im Druck).

[6] Claire Canavan / Helen Smith, ‚The needle may convert more than the pen‘: Women and the Work of Conversion in Early Modern England, in: Simon Ditchfield / Helen Smith (Hrsg.), Conversions: Gender and Religious Change in Early Modern Europe, Manchester 2019, S. 105–126.

[7] Heide Wunder, ‚Gewirkte Geschichte‘: Gedenken und ‚Handarbeit‘. Überlegungen zum Tradieren von Geschichte im Mittelalter und zu seinem Wandel am Beginn der Neuzeit, in: Joachim Heinzle (Hrsg.), Modernes Mittelalter: Neue Bilder einer populären Epoche, Frankfurt am Main 1999, S. 324–353. Ich danke Ulrike Strasser für den Hinweis auf diesen inspirierenden Text. Ähnlich argumentiert auch Susan Frye, Pens and Needles: Women’s Textualities in Early Modern England, Philadelphia 2010, S. 119.

[8] Johann Siebmacher, Schön Neues Modelbuch von allerleÿ lustigen Mödeln naczunehen Zuwürcken unn Zustikken, Nürnberg 1597.

[9] Richard Trexler, Sex and Conquest: Gendered Violence, Political Order, and the European Conquest of the Americas, Ithaca 1995; Ann Laura Stoler, Carnal Knowledge and Imperial Power: Race and the Intimate in Colonial Rule, Berkeley 2002; Kathleen Wilson, The Island Race: Englishness, Empire and Gender in the Eighteenth Century, London 2002.

[10] Cooper Hewitt Museum (CH): Sampler von Judith Clarke (England), 1701, URL: <http://cprhw.tt/o/2Dqek/> (11.9.2023).

[11] CH: Sampler von Ann Bell (England), 1788, URL: <http://cprhw.tt/o/2DpYF/> (9.3.2023).

[12] National Museum of Australia: Sampler von Margret Begbie (Schottland), 1790, URL: <https://collectionsearch.nma.gov.au/icons/piction/kaui2/index.html#/home?usr=CE&umo=22863143> (9.3.2023).

[13] CH: Sampler von Marianna Bacci (Italien), 1801, URL: <http://cprhw.tt/o/2DQ5c/> (9.3.2023).

[14] CH: Sampler von Mary Emiston (USA), 1803, URL: <http://cprhw.tt/o/2Dqfg/> (10.3.2023).

[15] Lynne Anderson, Samplers, Sewing and Star Quilts: Changing Federal Policies Impact Native American Education and Assimilation, in: Textile Society of America Symposium Proceedings 656 (2012), S. 1–10.

[16] Silke Strickrodt, African Girls’ Samplers from Mission Schools in Sierra Leone (1820s to 1840s), in: History in Africa 37 (2010), S. 189–245.

[17] Beispielsweise Metropolitan Museum of Art: Sampler von Ruth Rogers (Boston, Massachusetts), 1739, URL: <https://www.metmuseum.org/art/collection/search/14085?ft=sampler+boston&offset=0&rpp=40&pos=1> (9.3.2023).

[18] Anderson, Samplers, S. 8.

[19] Judith A. Tyner, Stitching the World: Embroidered Maps and Women’s Geographical Education (Studies in Historical Geography), London 2015, S. 3.

[20] Tyner, Stitching.

[21] Ebd., S. 5 und dies. (Hrsg.), Women in American Cartography: An Invisible Social History, Lanham u.a. 2020.

[22] An Outline Map of the World for Ladies Needlework and Young Students of Geography, London 1798. Cooper Hewitt Smithsonian Design Museum, URL: <http://cprhw.tt/o/2CB7k/> (8.3.2023).

[23] Tyner, Stitching, S. 102.

[24] Über Stickmustertücher, auf denen Cooks Expeditionen verzeichnet sind, siehe Vivien Caughley, Cook Map Samplers: Women’s Endeavours, in: Records of the Auckland Museum 50 (2015), S. 1–14; Tyner, Stitching, S. 8, S. 10, S. 60.

[25] Tyner, Stitching, S. 55, S. 57.

[26] Ruth Scobie, Celebrity Culture and the Myth of Oceania in Britain, 1770–1823, Woodbridge 2019, S. 21.



Literaturhinweise:

  • Schmidt-Funke, Julia A. (Hrsg.), Materielle Kultur und Konsum in der Frühen Neuzeit, Köln 2019.
  • Strickrodt, Silke, African Girls’ Samplers from Mission Schools in Sierra Leone (1820s to 1840s), in: History in Africa 37 (2010), S. 189
  • Tyner, Judith A., Stitching the World: Embroidered Maps and Women’s Geographical Education (Studies in Historical Geography), London 2015.
  • Wunder, Heide, ‚Gewirkte Geschichte‘: Gedenken und ‚Handarbeit‘. Überlegungen zum Tradieren von Geschichte im Mittelalter und zu seinem Wandel am Beginn der Neuzeit, in: Joachim Heinzle (Hrsg.), Modernes Mittelalter: Neue Bilder einer populären Epoche, Frankfurt am Main 1999, S. 324–353.