Das „neue Europa“ und das „alte Amerika“. Die Geschichte der Todesstrafe in Deutschland, Frankreich und den USA und die Erfindung der zivilisatorischen Tradition Europas
Armin Heinen
Wenige Themen US-amerikanischer Kultur wecken in Europa so viele Emotionen wie die Todesstrafe. Wollten die USA dem Europarat beitreten, so würde ihr Gesuch abgelehnt, und selbst der Beobachterstatus wäre umstritten. Der Beitrag untersucht die Geschichte der Todesstrafe als gemeinsame Geschichte einer , westlichen Zivilisation, zeigt, dass selbst innerhalb der USA ganz unterschiedliche Traditionslinien zu beobachten sind, und entwickelt die These einer „Neuerfindung“ der USA und Europas seit dem Ende der 1960er bzw. 1980er Jahre. In beiden Fällen geht es um die „Erfindung von Tradition“, aber während die USA an das Referenzmodell der „Siedlergemeinschaft“ anknüpft, ist die Erfahrung totalitärer Staatsmacht für Europa maßgebend geworden. So stehen sich heute das „alte Amerika“ und das „neue Europa“ in der Frage der Todesstrafe „verständnislos“ gegenüber.
Peu de sujets liés à la culture des Etats-Unis provoquent autant d’émotions en Europe que la peine de mort. Si les Etats-Unis voulaient devenir membre du Conseil de l’Europe, leur requête serait refusée et même le statut d’observateur leur serait contesté. La présente contribution examine l’histoire de la peine de mort comme histoire commune de la civilisation occidentale, de l’Europe et des Etats-Unis. Elle montre que même au sein des Etats-Unis des lignes de tradition très diverses sont observables, et elle développe la thèse d’une « réinvention » des Etats-Unis et de l’Europe depuis la fin des années 1960 et, respectivement, des années 1980. Dans les deux cas, il s’agit de l’ « invention d’une tradition ». Mais tandis que les Etats-Unis se réfèrent au modèle de la « communauté des colons », l’expérience du pouvoir totalitaire de l’Etat est déterminant en Europe. Ainsi, sur la question de la peine de mort, la « vieille Amérique » et la « nouvelle Europe » se font face sans se comprendre.
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Einleitung: These und Antithese
22 Hinrichtungen lautet die Bilanz der US-amerikanischen Gefängnisse für die ersten drei Monate des Jahres 2004. Und wie es sich für die US-Statistik gehört, gliedert sie nach Hautfarbe: ein Asiate, 9 Schwarze und 12 Weiße. Alle waren Männer, alle waren verurteilte Mörder, alle starben durch eine tödliche Injektion. Wenige Themen US-amerikanischer Kultur wecken in Europa so viele Emotionen wie die Todesstrafe. Wollten die USA dem Europarat beitreten, so würde ihr Gesuch abgelehnt, und selbst der Beobachterstatus ist umstritten. Die Medien auf dem europäischen Kontinent, vor allem in Frankreich, haben die US-Hinrichtungen als schlagzeilenträchtiges Thema entdeckt und berichten immer wieder über den Sachverhalt. Der Eindruck einer zivilisatorischen Differenz zwischen Europa und den USA entsteht, einer strukturellen Andersartigkeit, die das Fundament einer gemeinsamen atlantischen Verbindung, einer unteilbaren westlichen Zivilisation in Frage stellt.
Eine hier thesenartig vorzutragende Geschichte der Todesstrafe in Frankreich, Deutschland und den USA mag daher Auskunft geben über vergleichbare oder differierende Menschenrechtsdiskurse in den betrachteten Staaten, vergleichbare und differierende Erfahrungen des Umgangs mit Verbrechen, über Ähnlichkeiten und Gegensätze politischer Kulturen und Institutionen. Bis vor kurzem wäre das Unterfangen eines Vergleichs der Geschichte der Kapitalstrafen in den USA und Europa äußerst gewagt gewesen, denn umfangreiche, anspruchsvolle Synthesen lagen nicht vor. Inzwischen aber gibt es elaborierte kulturwissenschaftliche Analysen sowie sozial- und politikwissenschaftlich orientierte Studien, die das Thema umfassend entfalten und das Fundament für eine zusammenfassende Betrachtung liefern. Methodisch geht es um eine Geschichte veränderter Körperwahrnehmung, sich wandelnder Menschenbilder, der Säkularisierung und neuer Öffentlichkeitsstrukturen, aber auch um eine Analyse spezifischer politischer Kulturen und institutioneller Regelungen. Kaum neue Quellen und Argumente werde ich vorführen, statt dessen soll in einem dialektischen Verfahren die Ausgangsthese geprüft werden, wonach die Todesstrafe für den zivilisatorischen Bruch zwischen den USA und Europa steht. Diese Entzweiung ist erst jüngsten Datums und lässt sich recht genau auf die letzten 30 Jahre mit einem Schwerpunkt auf den Umbruch der letzten 15 Jahre zurückführen.
Im ersten Schritt werde ich Argumente für die grundsätzliche Differenz der amerikanischen politischen Kultur zur europäischen vorführen und daraus die Fortdauer der Todesstrafe in den USA ableiten. Im zweiten Schritt werde ich die gegenteilige These entwickeln: Demnach haben die USA und Europa eine gemeinsame, erfahrungsgeschichtlich und diskursiv verbundene Tradition der Strafpraxis und war auch für die Vereinigten Staaten ein Ende der Todesstrafe im zweiten Drittel des 20. Jahrhunderts zu erwarten, nicht anders als in Deutschland und Frankreich. In einem dritten Zugriff will ich auf die inneramerikanischen Unterschiede hinweisen, die deutlich schärfer sind als die Gegensätze zwischen den nördlichen US-Bundesstaaten und Europa. Außerdem werde ich zeigen, dass die aktive interpretatorische Aneignung von Geschichte für die institutionelle Entwicklung in der Gegenwart wichtiger ist als das direkte Einwirken der Vergangenheit auf die politische Kultur. Mit einem abschließenden vierten Schritt unterstreiche ich die Offenheit der Entwicklung, da letztlich die diskursive Verortung der USA und Europas, also die jeweilige kollektive Identitätskonstruktion in der Gegenwart, über die Zukunft der Todesstrafe in den Vereinigten Staaten entscheidet.
Amerikas politische Kultur und die Fortdauer der Todesstrafe
Beginnen möchte ich mit einem Blick auf die politische Kultur der USA. Erstaunlich ist, dass selbst viele US-Bürger, welche die Kapitalstrafe befürworten, einige der Einwände akzeptieren, die von Gegnern der Hinrichtungspraxis vorgebracht werden: Ein tatsächlicher Abschreckungseffekt lässt sich nicht feststellen. Das Risiko, einen Unschuldigen hinzurichten, ist groß. Und international stehen die USA vergleichsweise isoliert dar. Dennoch findet die Todesstrafe weithin breite Unterstützung, und als ausschlaggebendes Argument gilt die alttestamentarische Begründung des „Auge um Auge“, „Zahn um Zahn“ sowie die durchaus modernem Denken geschuldete Vorstellung einer selbst gewählten Fundamentalfeindschaft des Kapitalverbrechers gegenüber der Gemeinschaft der Staatsbürger.
Wenn Ideen von „Rache“ und „Vergeltung“ die Rechtsordnung beeinflussen und eine Bereitschaft besteht, gegebenenfalls auch Unschuldige sterben zu lassen, damit die Reinheit des Sozialen sichergestellt wird, dann lässt sich dies aus europäischer Sicht kaum nachvollziehen. Erst der Rückgriff auf evangelikarische Vorstellungen oder die Idee einer grundsätzlichen und nicht zu ändernden Gefährdung des menschlichen Körpers im alltäglichen Lebenskampf vermag die Todesstrafe zu legitimieren. Bereits 1967 hat Sidney E. Mead von den USA als einer „nationwiththesoul of a church” gesprochen, und tatsächlich sind die Vereinigten Staaten weniger säkularisiert als Europa. Für mehr als 50 Prozent der Amerikaner ist Religion sehr wichtig, aber nur für 20 Prozent der Deutschen und zehn Prozent der Franzosen. Mehr noch, die USA haben eine Zivilreligion ausgebildet, wonach das Land in die göttliche Seinsordnung eingebettet ist, auserwählt zur moralischen Neuordnung der Welt. Das erklärt die Thematisierung von Verbrechen, ja von Politik insgesamt, als Kampf zwischen Gut und Böse. In einer solchermaßen religiös fundierten Ordnung gehört menschliches Fehlurteil zum Leben, freilich korrigiert durch die jenseitige unfehlbare Urteilskraft Gottes. Weiterhin ist Verbrechen nicht als fehlgeleitetes Handeln, sondern als grundsätzliche Abkehr und fundamentale Gegnerschaft zur auserwählten Gemeinschaft zu denken. Neben moralisch-religiösen Vorstellungen hat sich in den USA auch die Idee der „frontier“ erhalten, des Ringens um Land, des Fehlens verlässlicher staatlicher Macht, des Rückfalls in das einfache Ordnungsgesetz des „Du oder Ich“. Der Revolver saß im 19. Jahrhundert locker, und das Leben war nur so viel wert, wie der Schutz durch die Siedlergemeinschaft sichergestellt war. Die Todesstrafe erscheint hier als Konsequenz der erlaubten Selbstverteidigung. Bis in die Gegenwart beherrschen die Hollywoodproduktionen Mythen eines auf sich allein gestellten, zu allem entschlossenen Rächers der Gerechtigkeit.
Schließlich sind die USA eine stolze Nation. Zweifel an den Institutionen des Staates und seiner politischen Ordnung treffen kaum auf Widerhall, ganz im Unterschied zu Europa mit seiner Erfahrung totalitären Machtmissbrauchs. Motive für eine grundsätzliche Infragestellung der Rechtsordnung gibt es wenige. Dies gilt um so mehr, da das Rechtssystem viel enger als in Europa Tendenzen der öffentlichen Meinung widerspiegelt. Für das Richteramt bedarf es keiner spezifischen Ausbildung. Nur ein Jurastudium ist erforderlich. Viele Richter oder Staatsanwälte werden – teilweise auf Zeit – gewählt oder von der Politik ernannt. Vor Jahren wurden drei Richter des obersten kalifornischen Gerichtes abgewählt, weil sie Todesstrafenurteile aufgehoben hatten. Dazu kommt, dass mit den „Juries“, den Geschworenen, das „gemeine Volk“ unmittelbar in die Rechtsfindung eingreifen kann.
Alles zusammen betrachtet, könnte man die These wagen, dass die Todesstrafe tief in der politischen Kultur der USA verankert sei und die Prägung des Landes durch den Puritanismus und die Frontier-Erfahrung widerspiegele. Dazu kommt die enge Verzahnung des Rechtssystems mit dem öffentlichen Raum sowie das Fehlen der Erfahrung totalitären Machtmissbrauchs. Während in Europa selbstbewusste politische Eliten den Verzicht auf die Todesstrafe gegen die öffentliche Meinung durchgesetzt haben, sind für ein vergleichbares Szenario die Voraussetzungen in den USA denkbar ungünstig. Freilich, der Verweis auf die politische Kultur und die spezifischen institutionellen Mechanismen des amerikanischen Regierungs- und Rechtssystems erklärt mehr als eigentlich notwendig und angemessen ist. Keinesfalls ist die Todesstrafe in den USA fest zementiert. Wie in Europa hat auch in den USA die Todesstrafe ihre Karriere, lässt sich ihre Entwicklung als Fortschrittsgeschichte der Zivilisierung der Hinrichtung und deren Abschaffung beschreiben.
Bürgerliche Zivilisierung der Hinrichtungen als gemeinsame Geschichte der westlichen Gesellschaften
Weil es zur Anschaulichkeit beiträgt und den Argumentationsgang verdeutlicht, will ich sechs Phasen der Geschichte der Kapitalstrafe in Deutschland, Frankreich und den USA unterscheiden. Gewiss hat die Todesstrafe eine uralte Tradition, doch ihre neuere Geschichte ist eng mit der Herausbildung des modernen Staates verbunden. Dabei waren die Exekutionen sinnhaft eingebunden in eine kosmische Weltordnung, in der Gemeinde, Staat und Religion unauflöslich miteinander verbunden waren. Angesichts fehlender Polizeimittel und dem Mangel an gestuften Sanktionsformen wie dem Gefängnis diente die in sich gestufte Todesstrafe (Vierteilen, Verbrennen, Rädern, Köpfen, Hängen, simulierte Tötung) der exemplarischen Wiederherstellung der göttlich legitimierten staatlichen Ordnung. Das Fegefeuer auf Erden war als „Theater des Schreckens“ organisiert, in dem sich die Macht des Staates auf dem Körper des Delinquenten einbrannte, die beiwohnende Volksmenge eindrücklich über die jenseitigen Qualen sündigen Lebens belehrt wurde und zugleich diese ihre Zustimmung zur Strafe bekundete. Die Verurteilten spielten ihren Part des religiösen Schauspiels mit, indem sie durch Reue und Erleiden der Qualen sich auf das jenseitige Dasein vorbereiteten. Staatliche und Gemeinde-Eliten, Geistlichkeit und Volk wirkten in der Hinrichtung zusammen, wobei Machtdemonstration, religiöser Sinn und „abergläubische“ und lustbetonte Aneignung einen Bedeutungsüberschuss erzeugten, der in der Folgezeit von den sozialen Führungskräften als problematisch wahrgenommen wurde. Zunächst verlief das Schauspiel in Frankreich, Deutschland und Nordamerika aber ganz ähnlich und erfolgreich ab, denn hier wie dort zählte das Vorführen des Schreckens mehr als die tatsächliche Marter des Delinquenten, der vielfach mittels eines geschickten Schlages vor der eigentlichen Hinrichtung betäubt oder getötet wurde.
Die Einheit von religiöser und staatlicher Ordnung brach in der Aufklärung auseinander. Ein verändertes Menschenbild trat in den Vordergrund, das die grundsätzliche Gleichheit der Menschen postulierte und die reale Ungleichheit auf Erziehung und sozialräumliche Prägung zurückführte. Besserung statt Strafe lautete die Losung, Gefängnis statt Hinrichtung, Nutzbarmachung statt Tötung des Täters, wobei nur die wenigsten Denker wie Cesare Beccaria gänzlich auf die Todesstrafe verzichten wollten. Doch es waren die Arbeiten Beccarias, die jenseits des Ozeans fortschrittliche Geister wie Thomas Jefferson, Benjamin Franklin, William Bradfort oder Benjamin Rush faszinierten. In Europa selbst veränderten zunächst die aufgeklärten Monarchen die Praxis der Todesstrafe, so etwa wenn Friedrich II. – ganz im utilitaristischen Stil der Zeit – die erzieherische Funktion herausstellte und gleichzeitig die reale Pein der Delinquenten minderte. Joseph II. begnadigte alle zum Tode Verurteilten und verzichtete im Strafgesetzbuch von 1787 endgültig auf die Todesstrafe.
Von der französischen Revolution lässt sich trotz der intensiven Debatten in der „Constituante“ ein vergleichbarer Durchbruch nicht berichten, denn erst nach den Schrecken der „Terreur“ raffte sich der Konvent in seiner letzten Sitzung zum Verbot der Todesstrafe in Friedenszeiten auf. Damit aber blieb diese Bestimmung wirkungslos, und Napoleon führte die alte Strafpraxis wieder ein. Gleichwohl hatte sich Vieles geändert, denn inzwischen war die Vorstellung verbreitet, dass die Mehrzahl der Kriminellen zu bessern sei. Die beginnende forensische Psychologie – hier waren französische und deutsche Forscher führend – deutete das Fehlverhalten als Folge von Triebgeschehen und Krankheit, während der Jurist Carl Joseph Anton Mittermaier Mitte des 19. Jahrhunderts mit Hilfe der Statistik nachwies, dass die Todesstrafe keine positive Wirkung auf die Verbrechensquote hatte. Die eigentliche Offensive gegen die Todesstrafe begann nach 1820. Victor Hugo stürzte sich in den Kampf und Kriminologen wie Charles Lucas. Für die Liberalen bedeutete nun die Todesstrafe Symbol der monarchischen Tyrannei. Und auch wenn in Frankreich die Todesstrafe nicht abgeschafft wurde, wurde ihr Geltungsbereich doch deutlich eingeschränkt. Die deutschen Revolutionäre von 1848 beschlossen tatsächlich deren Beseitigung, mussten später aber sehen, wie ihre Gesetze wieder aufgehoben wurden. Noch einmal glaubten die Liberalen ihre Vorstellungen während der Reichsgründungszeit durchsetzen zu können, und tatsächlich begnadigte Wilhelm I. als König von Preußen alle zum Tode Verurteilten, doch mit der konservativen Wende Bismarcks von 1878/79 und unter dem Einfluss zunehmender Furcht vor dem sozialen Umsturz wandelte sich auch die Einstellung der Nationalliberalen.
Verglichen mit den Fortschritten in den USA hinkte die Entwicklung in Europa eindeutig hinterher. Pennsylvania, Virginia, Kentucky, Vermont, Maryland, New Hampshire und Ohio schränkten bis 1815 die Zahl der Verbrechen deutlich ein, welche zur Todesstrafe führten. Und 1846 beschloss Michigan, das gerade zum US-Bundesstaat geworden war, die gänzliche Abschaffung der Kapitalstrafe. Dabei blieb es bis heute. Alexis de Tocqueville meinte 1835: “In no country is criminal justice administered with more mildness than in the United States. … The Americans have almost expunged capital punishment from their codes.”
Selbst wo die Todesstrafe nicht abgeschafft wurde, wandelte sich ihre soziale Bedeutung. „Aus dem Fest des Marterns der frühen Neuzeit“ wurde eine „schnelle, rationalisierte und effiziente Vernichtung eines Menschens durch den Staat“. Nicht mehr Rache stand im Mittelpunkt, sondern der staatliche Utilitarismus. Die Guillotine, die in Frankreich erstmals 1792 zum Einsatz kam, tötete alle gleich, ohne Ehrverlust, ohne Standesunterschiede, ohne dem Verurteilten zusätzliche Schmerzen zu bereiten wie zuvor beim Verbrennen, Rädern oder Vierteilen. Noch nahm die Öffentlichkeit an dem Schauspiel der Revolution teil, denn noch diente es der plebiszitären Selbstversicherung der Herrschaft. Das änderte sich in dem Maße, wie die bürgerlichen Eliten die „Öffentlichkeit“ auf die Deliberation der Gebildeten und Besitzenden einschränkten. Zwischen dem öffentlichen Sinn der Hinrichtung in der Perzeption der staatlichen Verantwortlichen und der Wahrnehmung der beiwohnenden Masse entstand eine Distanz, die nicht mehr zu überbrücken war. Weder die religiösen Zuschreibungen noch die abergläubischen Aneignungen, wonach etwa das Blut des Delinquenten zur Heilung der Epilepsie diene, noch der volksfestartige Charakter der Hinrichtung passten in das Bild einer harten, der Abschreckung wirkenden Strafdemonstration. Das führte in Preußen dazu, der Exekution ihre Symbolik der Passion zu nehmen, indem der Delinquent in einem Karren angefahren wurde und keine weißen Kleider mehr tragen durfte. Weiterhin sollte der Volksfestcharakter durch Verlegung der Exekution in den frühen Morgen und des Verbots des Verkaufs populärer Literatur genommen werden (1805). Die immer selteneren Hinrichtungen hatten zur Folge, dass mancher Schlag des Henkers in Deutschland sein Ziel verfehlte, während in Amerika die Praxis des Hängens einzelne schauerliche Tötungen zur Folge hatte. Auch die Delinquenten spielten gelegentlich nicht mehr mit, weigerten sich, die Rolle des „armen Sünders“ zu spielen. So hatte die ihres Sinns für das Volk beraubte Exekution die Gefahr des Aufruhrs. Konsequent nur, dass die sozialen Eliten die Verlegung der Hinrichtungen „intra muros“, also innerhalb der Gefängnismauern, forderten. In Pennsylvania wurde der Beschluss 1837 gefasst. Andere Staaten Neuenglands und der nördlichen Ostküste folgten. Die durchgängige Verlagerung der Exekutionen in den Gefängnisraum geschah in Deutschland in den 50er und 60er Jahren des 19. Jahrhunderts, während Frankreich dafür bis 1939 brauchte. Die USA war Mitte des 19. Jahrhunderts auf dem Weg zu einem modernen Strafvollzug. Und Europa, wo ähnliche Argumente vielleicht sogar früher vorgebracht worden waren, folgte mit deutlichem zeitlichen Abstand hinterher.
Der Bürgerkrieg in den USA und der deutsch-französische Krieg mit der darauf folgenden politischen Neuordnung begünstigten nicht gerade humanitäre Interventionen gegen die Todesstrafe, zumindest nicht in Frankreich und den USA. Dazu kamen seit dem letzten Viertel des 19. Jahrhunderts die Auswirkungen der forcierten Industrialisierung und Verstädterung. Wie die Zeitungen berichteten, stiegen die Kriminalitätsraten an, und zudem bewiesen die Statistiken, indem sie den Erfolg der polizeilichen Aufklärungstechniken widerspiegelten, dass immer mehr Wiederholungstäter in den Gefängnissen saßen. Wiederum gab ein italienischer Denker, Cesare Lombroso, die Erklärung vor, nun freilich eine Deutung, die die Ursache der Devianz in der angeblichen biologischen Degeneration der Delinquenten suchte. Rezipiert wurde die Eugenik in Frankreich, Deutschland und den USA, wobei die Lehre nicht eindeutig sein musste. Für die Linke, die auch stärker die Umweltfaktoren hervorhob, bedeuteten die zeitgenössischen Einsichten, dass die Todesstrafe inhuman und verfehlt sei, für die Rechte, dass es keine Alternative zu ihr gäbe. Radikalsozialisten und SFIO versuchten sich in der Pariser Nationalversammlung 1908 an der Abschaffung der Todesstrafe, doch gegen die Ärzte, gegen die Geschworenengerichte, gegen die Notabeln und gegen die Massenpresse, die ein aufsehenerregendes Kapitalverbrechen geschickt aufbauschte, konnten sie sich nicht durchsetzen. So blieb es bei der Todesstrafe, ebenso wie in Deutschland, wo die Sozialdemokraten und Linksliberalen zwar bei den Verfassungsberatungen 1919 eine Mehrheit, aber in den Wirren des Jahres keine Kraft hatten, das Verbot der Todesstrafe durchzusetzen. Etwa zur selben Zeit, genauer zwischen 1887 und 1916, verzichteten 11 amerikanische Bundesstaaten auf die Todesstrafe. Eine der Ursachen war sicherlich, dass die einsetzende Säkularisierung jene bibelorientierten Kräfte schwächte, die bislang zu den stärksten Befürwortern der Todesstrafe gezählt hatten. Vielleicht beeindruckten auch die Zahlen der statistischen Kriminologie, die, wie zuvor Mittermaier, einen Zusammenhang von niedriger Homizidquote und Todesstrafe ablehnte. Jedenfalls hielt neuerlich Nordamerika die Fahne der Zivilisation hoch.
Dies gilt auch für die Durchführung der Exekutionen selbst, wo sie denn noch angewendet wurden. Mit der Betäubung durch Äther hatte die Medizin Körperlichkeit und Schmerz voneinander getrennt und einer neuen Empfindsamkeit den Weg geebnet, die nicht länger den Schmerz als notwendiges Übel des Todeskampfes akzeptierte. Frankreich hatte mit der Guillotine eine effektive, rasche, schmerzlose, „humane“ Hinrichtungsmethode gefunden. Doch die deutschen Staaten bewerteten das Instrument nicht allein in seiner technischen Leistung, sondern als Symbol der Revolution. Durch Umdeutung in ein deutsches Fallbeil gelang einzelnen deutschen Ländern auch außerhalb des Rheinraumes, der hier wie in vielen anderen Bereichen der französisch-napoleonischen Tradition verpflichtet blieb, die Maschine zur Ordnungsmacht aufzuwerten, (z.B. Sachsen, Württemberg, Hessen-Darmstadt, Hamburg), aber die Regel war das nicht.
Während in Deutschland und Frankreich die Enthauptung durch das Schwert adeligen Vorrang gespiegelt hatte und Ende des 18. Jahrhunderts zum Bürgerprivileg aufstieg, hatte sich in Nordamerika in englischer Tradition die Erhängung als Hinrichtungsmethode erhalten. Sie wurde von Gemeindevertretern vor Ort angewandt, vielfach ohne entsprechende Schulung und mit bedauernswerten Folgen. Der Wunsch nach einer besseren, die Delinquenten und Zeugen weniger strapazierenden Tötungsmethode endete nicht mit dem Rückgriff auf die Guillotine, bei der viel Blut geflossen wäre, sondern mit der scheinbar sauberen, die körperliche Unversehrtheit bewahrenden Tötung durch elektrischen Strom. New York 1889, Ohio 1896, Massachusetts, New Jersey und andere Bundesstaaten entschieden sich für den Elektrischen Stuhl als Hinrichtungsapparat. Die Hoffnung einer geräuschlosen, nüchternen Entfernung des Delinquenten aus dem Staatsgebilde, ohne Aufsehen zu erregen, erwies sich indes immer noch als trügerisch. Die Massenpresse berichtete, jetzt, da nur noch wenige öffentlich bestellte Zuschauer der Hinrichtung beiwohnten, von den Exekutionen, informierte über das Leben und die letzten Tage des Delinquenten und erzeugte dadurch jene zwiespältige Erfahrung zwischen Leben und Tod, Verbrechen und Reue, Ablehnung und Verständnis, die schon die frühneuzeitlichen Hinrichtungen gekennzeichnet hatte. Insofern traf die staatliche Strafmacht immer noch auf ihre Grenzen.
Als „Disillusionment“ ist die Stimmung in den USA nach dem Ersten Weltkrieg bezeichnet worden, geprägt durch einen neuen (christlichen) Fundamentalismus, durch Angst vor krimineller Infiltration und fremdländischer Veränderung. Den Begriff könnte man freilich auch auf Frankreich 1918 bis 1939 und das Deutschland der Weimarer Jahre übertragen. Das politische Klima stand einer Abschaffung der Todesstrafe entgegen. Zwischen 1906 und 1938 wurden in Frankreich 312 Personen hingerichtet. In Deutschland waren es zwischen 1919 und 1932 184 Menschen, wobei der Vergleich mit der Zahl der zum Tode Verurteilten (1141) die relative Milde der deutschen Strafpraxis deutlich macht. Die USA erreichten mit 199 Exekutionen allein im Jahre 1935 einen Wert, der nie wieder überschritten werden sollte. Ermöglicht wurde die unerbittliche Durchführung der Todesstrafe durch eine immer vollständigere Verlagerung der Exekutionen „intra muros“. Die Einrichtung von Gaskammern, vor allem im Westen und Süden der USA, versprach mehr noch als der Elektrische Stuhl zuvor einen scheinbar schmerzfreien Tod. Glasscheiben, unerlässlich für die sichere Durchführung, erhöhten die Distanz der Exekutoren zum Delinquenten. Und die räumliche Abgeschiedenheit und das unspektakuläre Geschehen erschwerten eine reißerische Berichterstattung. Damit verstärkte die neue räumliche und technische Anordnung eine Tendenz, die bereits zuvor erkennbar war. Die Hinrichtung geriet aus dem Blickpunkt der Presse, die sich vornehmlich auf das Gerichtsverfahren konzentrierte.
Die Hinwendung zu einer Verstaatlichung und Entritualisierung der Exekutionen zeigt sich demnach in den USA, in Deutschland und vielleicht noch am wenigsten in Frankreich. Grausam vollendet aber wurde der Trend allein im nationalsozialistischen „Dritten Reich“. Keine Totenglocken wurden mehr geläutet, keine Zeugen waren mehr erforderlich, der Scharfrichter erschien in Alltagskleidung. Ohne rituellen Aufwand entledigten sich die NS-Schergen ihrer „Rasseschädlinge“. Man hätte erwarten können, dass 1945 die Todesstrafe in Deutschland tabu sei. Tatsächlich brachten die Besatzungsmächte ihre eigene Tradition der Verurteilung und Exekution mit, und sie trafen hiermit auf Verständnis der deutschen Bevölkerung, denn die Hinrichtungen erfolgten jetzt wieder mit nachvollziehbaren Gerichtsurteilen und halböffentlich. Selbst die politische Elite war gespalten, denn es gab nicht wenige Befürworter der Kapitalstrafe. Insofern war es denn auch die spezifische Nachkriegskonstellation Deutschlands, die ein Verbot der Todesstrafe im Grundgesetz bewirkte. Denn nicht nur die Linke befürwortete die Abschaffung, sondern auch rechtsorientierte Kräfte. Sie waren gewiss keine grundsätzlichen Gegner der Kapitalstrafe, aber sie erkannten, dass unter den gegebenen Bedingungen viele Ex-Nazis zu den Opfern gehören würden. So schlossen sie sich der vermeintlich linken Position an. Das Verbot der Todesstrafe als Ergebnis eines erfolgreichen Lernprozesses aus der NS-Zeit war lediglich eine spätere erfolgreiche Umdeutung eines nüchternen Kalküls, von dem die ehemaligen Nazi-Schergen am meisten profitierten. Andererseits schützte die Deutung langfristig vor jeder Wiedereinführung der Kapitalstrafe gegen eine Öffentlichkeit, die erst in den siebziger Jahren eine niedrigere Punitivitätsneigung zeigte als die amerikanische.
In der Regel bedurfte die Abschaffung der Todesstrafe, wenn kein Systemwandel vorausging wie in Deutschland, einer Zeit gesellschaftlichen Konsenses. Eine solche Phase der Beruhigung hatte Frankreich lange nicht. Die Epuration verlangte ihre Opfer, der Algerienkrieg erschütterte die IV. und die beginnende V. Republik, und neuerlich funktionierte der Zusammenhang von aufsehenerregenden Verbrechen, Sensationsberichterstattung der Massenpresse, Ausbildung einer öffentlichen Meinung, welche Vergeltung forderte, und Druck auf die Notabeln. Der entscheidende Umschwung kam mit der Wahl Mitterrands und der angestrebten Neufundierung der V. Republik nach Jahren relativen Wohlstands und Ruhe. Mitterrand hatte gegen die Mehrheit der Öffentlichkeit angekündigt, die Todesstrafe abzuschaffen, und Robert Badinter peitschte das Gesetz in kurzer Zeit nach Amtsantritt durch (9. Oktober 1981), als Symbol des Sieges der Linken, des Fortschritts der Menschenrechte und des demokratischen Neuanfangs in Frankreich. Eingebettet und abgesichert wurde das Vorhaben durch eine Initiative des Europarates, den westeuropäischen Teilkontinent zur todesstrafenfreien Zone umzugestalten. Darauf wird zurückzukommen sein.
Konsens, zunehmender Wohlstand, Selbstgewissheit, Streben nach gesellschaftlichem Fortschritt und Aufhebung der Rassentrennung prägten auch das politische Klima der fünfziger und beginnenden 1960er Jahre in den USA. Von Europa her sorgten die Interventionen von Albert Camus (engl. Übersetzung: Reflections on the Guillotine, 1959) und Arthur Koestler (Reflections on hanging, 1956) für Aufsehen. Alaska, Hawai und andere Bundesstaaten verzichteten auf die Kapitalstrafe. Im Februar 1965 lagen 20 gesetzgebenden Versammlungen Anträge vor, die Todesstrafe aufzugeben. Hatte die öffentliche Zustimmung zur Todesstrafe 1953 laut Gallup-Umfrage noch bei 68 Prozent gelegen, so sank sie bis 1966 auf 42 Prozent, ein Wert niedriger als in Deutschland und Frankreich zur selben Zeit. Viel intensiver als zuvor hatten sich die Abolitionisten organisiert und sorgten nun vor Gericht für eine intensive Untersuchung der Fälle und appellierten an höhere Instanzen. Immer seltener wurden Verurteilungen zur Todesstrafe ausgesprochen und immer seltener Hinrichtungen durchgeführt. 1951 waren es noch 105, 1960 56 und 1967 zwei. Ein inoffizielles Moratorium bewirkte, dass zunächst einmal das Supreme Court die Verfassungsmäßigkeit der Todesstrafe prüfen konnte. Die obersten Richter bestritten mit 5 gegen vier Stimmen 1972 die gängige Todesstrafenpraxis, sprachen sich mehrheitlich aber nicht für die grundsätzliche Verfassungswidrigkeit der Todesstrafe aus, sondern forderten geregelte, alle Willkür und Zufälle ausschließende Verfahren der Strafzuweisung. Zehn Jahre lang griff das Moratorium, dann wurden in den USA wieder Hinrichtungen durchgeführt, anfangs noch wenige, 1999 wieder fast 100 Exekutionen. So bleibt festzustellen, dass die USA sich erst in den siebziger Jahren vom Trend westlicher Gesellschaften abspalteten, die Todesstrafe rechtsstaatlich zu durchformen, sie zu begrenzen und schließlich gänzlich auf sie zu verzichten. Bis dahin hatten die USA den Trend maßgeblich mitbestimmt.
Die Todesstrafe als Indikator inneramerikanischer Kulturgrenzen
Heute liegt die Zustimmung zur Todesstrafe in der nordamerikanischen Öffentlichkeit bei etwa 60 bis 70 Prozent, mehr als 20 Punkte höher als Mitte der 1960er Jahre. Dabei fällt auf, dass die Meinungsunterschiede bei weitem nicht so stark variieren wie die Rechtsordnungen und die Strafpraxis in den Bundesstaaten. Zwischen 1930 und 1967 erfolgten drei Fünftel der Exekutionen im Süden, nach 1976 wurde das Missverhältnis sogar noch ausgeprägter. Ein erster Erklärungsversuch könnte auf die stark differierende Homizidrate verweisen. Denn, wer im Süden lebt, lebt deutlich gefährlicher als im Norden. Doch selbst bei gleicher Mordrate gibt es, etwa zwischen Texas und Kalifornien, bei der Anwendung der Todesstrafe erhebliche Unterschiede. So muss die größere Permissivität der Institutionen im Süden gegenüber dem Druck der Straße erklärt werden.
Versuchen wir es und schauen zunächst auf den Raum außerhalb der ehemals Sklaven haltenden Staaten, also in den Norden und Westen. Auch hier sind große Unterschiede festzustellen, denn die amerikanische politische Landschaft ist nicht nur in Nord-Süd-Strukturen gegliedert. Sieht man genauer hin, wo die Debatte um die Abschaffung der Todesstrafe im 19. Jahrhundert auf ertragreichen Boden fiel, so waren dies Staaten wie Michigan, ohne eine deutliche puritanische Prägung, dagegen mit einer starken, jungen skandinavischen Bevölkerung, oder Rhode Island mit liberalen Dissentern, Unitaristen und Quäkern. Eine frühe Debatte um die Todesstrafe und die zumindest zeitweise institutionelle Verankerung eines Strafrechts ohne Exekutionen begünstigt offensichtlich eine Führungsrolle für Politiker, die sich gegen die „deathpenalty“ aussprechen, obwohl eine Mehrheit der Bevölkerung wie in Michigan für die Kapitalstrafe votiert. Den Politikern dieser Staaten kann nicht so leicht eine „unpatriotische“, lasche Haltung gegenüber dem Verbrechen vorgeworfen werden, können sie sich doch auf die Geschichte und die Tradition des eigenen Bundesstaates berufen.
Für den Westen wird man annehmen müssen, dass inzwischen die staatlichen Strukturen so weit gegriffen haben und neue soziale Schichten die politische Kultur prägen, dass ein Rückgriff auf die Tradition der „vigilantes“, also von Selbstschutzgruppen, oder des Westernmythos vergleichsweise wenig Erfolg versprechen. Demgegenüber zeigt sich auch in neueren Untersuchungen ein enger Zusammenhang zwischen hoher Punitätsbereitschaft und evangelikanischem Christentum, einer Gruppe, der sich immerhin etwa ein Viertel der amerikanischen Bevölkerung zugehörig fühlt. Die neuere kulturhistorisch orientierte Sozialwissenschaft führt den Sachverhalt zurück auf die Prägung durch die calvinistische Prädestinationslehre und die Orientierung am Alten Testament. Sie deutet die harte Strafandrohung, ohne sie notwendigerweise auch durchzuführen, als Folge von Selbstgewissheit, Distanz zu den Tätern und einem strukturellen Unverständnis gegenüber dem Konzept der Resozialisation. Der Sachverhalt könnte erklären, warum nur 12 Bundesstaaten die Todesstrafe gänzlich abgeschafft haben, davon neun in Neu-England oder im Nordwesten. Ebenfalls neun Staaten sehen die Hinrichtung zwar als Strafe vor, haben sie aber seit 1977 nicht angewandt.
Tatsächlich ist es vor allem der Süden, wo fundamentalistischer Protestantismus (die Region zwischen Texas und Kansas, Virginia und Florida gilt geradezu als Bible Belt) und die Tradition der Selbstjustiz am längsten nachgewirkt haben und nachwirken. Marc Twain sprach für den Süden als „United States of Lynchdom“. Die Todesstrafe unterstütze die Herrschaftsordnung der Sklavenhaltergesellschaft, und sie wurde deshalb bis Mitte des 19. Jahrhunderts auch kaum grundsätzlich in Frage gestellt. Nach dem Bürgerkrieg versuchten radikale Kräfte die weiße Suprematie mit allen Mitteln sicherzustellen. So dienten die Lynchmorde nicht zuletzt dem Niederhalten einer nach Emanzipation drängenden schwarzen Mittelschicht, der Aufrechterhaltung eines vermeintlichen Ehrenkodex und der scheinbar von der Gemeinde garantierten Bewahrung von Recht und Ordnung. In solch einem Klima erfüllte die öffentliche Hinrichtung ihre Funktion, so dass Kentucky erst 1936 die Exekutionen „intra muros“ verlagerte. Zwar gelang nach mehrmaligem Wiederaufleben die Unterdrückung des KuKlux Klan. Dennoch hat sich im Süden die Tradition einer gemeindlichen, den Staat herausfordernden Gewaltanwendung unter dem Signum der Wiederherstellung des alten Rechts lange erhalten. Angesichts einer ungebrochenen Tradition der Todesstrafe, des Nachwirkens außerstaatlicher, öffentlicher Gewaltanwendung und einer protestantisch-fundamentalistischen politischen Kultur scheinen die Politiker des Südens überzeugt, an der Todesstrafe festzuhalten zu müssen. So suggestiv die vorgeschlagene Argumentation sein mag, so trifft sie doch den Sachverhalt nur teilweise. Auch der Süden hat nämlich an der Zivilisierung der Todesstrafe und deren rechtsstaatlicher Formung teilgenommen; nach dem Zweiten Weltkrieg nahm auch hier die Zahl der Hinrichtungen von 1947 105 Exekutionen auf 13 1963 ab.
Der unmittelbare Verweis auf die Vergangenheit, die Strukturprägungen aus der Geschichte erklären das Wiederaufleben der Todesstrafenpraxis in den USA seit Ende der siebziger Jahre nur ungenügend. Daher soll im Folgenden ein vierter Erklärungsansatz erprobt werden, in dem zwar auch auf Geschichte verwiesen wird, aber die diskursive Aneignung der Geschichte im Mittelpunkt steht: die Nation bzw. der europäische Kontinent als Resultat der Narration über die imaginierte Gemeinschaft (Bhabha, Hobsbawm).
Diskursive Auseinanderentwicklung der USA und Europas
Ende der sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts schlug die Stimmung in der weißen Mittelschichtsmehrheit der USA um. Den Aufbruch der Jahrhundertmitte hatte sie mitgetragen, mitgestaltet, nun sah sie sich gleichsam dem Zauberlehrling von den Folgen überfordert. Die postmoderne Individualisierung löste etablierte Familien- und Gemeinschaftsstrukturen auf, die Deindustrialisierung forderte ihre Opfer, die Jugend und die farbigen Minderheiten verlangten Mitsprache und zugleich soziale Unterstützung. Jene Unruhe, die dadurch ausgelöst wurde, dass für die einen sich alles zu schnell und für die anderen alles zu langsam veränderte, provozierte gewaltsame Zusammenstöße und spektakuläre Mordanschläge (so etwa auf Martin Luther King und Robert Kennedy). Aus Sicht der schweigenden weißen Mehrheit war die Gesellschaft zutiefst in Unordnung geraten und sie selbst zu deren Opfer geworden. Dass nun die Verbrechensrate stieg, der Drogenkonsum zunahm, die Kriminalität die Vororte der Mittelschichten erfasste, spiegelte nicht zuletzt die veränderten Familienstrukturen und den hohen Anteil der Jugendlichen an der Wohnbevölkerung. Politisch wurde der Umbruch sichtbar mit der Wahl Richard Nixons zum Präsidenten, dessen „Law-and-Order“-Parolen die „vergessenen Amerikaner“ erfolgreich ansprachen.
Angesichts der Krise der ausgehenden sechziger, beginnenden siebziger Jahre erfand sich das „weiße Amerika“ neu, indem es dem liberalen Projekt ethnischer Vielfalt, erwartungsvoller Permissivität und sozialer Ausgewogenheit die Idee der Rückkehr zu den historischen Wurzeln der USA entgegenstellte. „Familie“, „Moral“, „Bibeltreue“, „christliche Erziehung“ und „individuelle Verantwortlichkeit“ lauteten die zentralen Wertvorstellungen der konservativen Mehrheit. Die USA würden durch Verlagerung des Risikos auf den Einzelnen ihre wirtschaftliche Dynamik zurückgewinnen. Freilich müsse das so entstehende soziale Ungleichgewicht kompensiert werden durch den besseren Schutz des Individuums vor Verbrechen. Der neoliberale Staat formulierte die harte Lehre des „In“ und „Out“, des Mitkommens und des Scheiterns und der selbst gewählten Fundamentalfeindschaft bei Verletzung der Gemeinschaftswerte. Die breite Unterstützung für die Todesstrafe artikulierte die Vorstellung, dass das Leben hart sei und es gerade deshalb strikter Regeln bedürfe, um die Gemeinschaft zu schützen. Keine andere Losung vermochte dem Wunsch nach Ruhe und Ordnung jenseits der unerbittlichen wirtschaftlichen Konkurrenz Ausdruck zu verleihen wie die Befürwortung der Todesstrafe. Sie diente gleichermaßen der individuellen Selbstvergewisserung wie der Verortung Amerikas in der Tradition einer von weißen Siedlern geprägten Geschichte.
Zu den Fehlentwicklungen der späten Nachkriegsjahre gehörte in der Wahrnehmung vieler auch die Einmischung des SupremeCourts in die örtlichen Belange. Denn die USA waren als Zusammenschluss relativ selbständiger Staaten entstanden, und bis heute verfügen die Bundesstaaten über ein Maß an Autonomie, das den Föderalismus der Bundesrepublik deutlich überschreitet. Weil der Supreme Court unter Earl Warren anstelle der Politik massiv die rechtliche Gleichstellung sozial benachteiligter Gruppen erzwungen hatte (1954 Verbot der Segregation in den Schulen, Gleichwertigkeit der Stimmen bei Wahlen), schien die Gefahr eines immer weiter ausgreifenden, durch Richterrecht verursachten Zentralismus deutlich zu werden. Hier bot nun das Urteil Furman vs. Georgia von 1972, das mit knapper Mehrheit der Richterstimmen die Todesstrafe aussetzte, den Einzelstaaten erstmals die Chance zu reagieren und Washingtoner Zumutungen abzuweisen. Bis 1976 legten 36 gesetzgebende Versammlungen neue Strafgesetze vor, und in Kalifornien stimmte gar die Wählerschaft selbst mit zwei Dritteln über eine neue Verfahrensordnung bei Kapitalverbrechen ab. Das für die USA so typische Einwirken der Öffentlichkeit auf das Justizsystem zeigte seine Wirkung. 1976 im Urteil Gregg vs. Georgia akzeptierte der inzwischen personell veränderte Supreme Court die neuen Strafgesetze. Von einer öffentlichen Abneigung gegenüber der Todesstrafe konnte, wie noch in der Begründung von 1972, als Argument kaum gesprochen werden. Dazu musste sich das Gericht der Frage nach der Legitimation seiner Urteile stellen, da die Wählerschaft und die Gesetzeskörperschaften sich neuerlich für die Kapitalstrafe ausgesprochen und eindeutige verfahrensrechtliche Verbesserungen realisiert hatten. In der Wirkung fiel das Supreme Court als institutionelle Barriere gegen die Todesstrafe aus und verloren die Gegner der amerikanischen Hinrichtungspraxis ein Handlungsfeld, das sie – angesichts ihrer politischen Schwäche – strukturell bevorteilte.
Noch problematischer wurde die Position der „Abolitionisten“, als 1976 ein hochintelligenter Gewaltverbrecher, Gary Gilmore, erklärte, er wolle nicht länger im Gefängnis leben, schon gar nicht im Todestrakt eingesperrt sein. Zudem habe er seine Strafe verdient. Deshalb fordere er seine sofortige Hinrichtung, und um seine Aussage noch zu unterstreichen, plante er einen Selbstmordversuch. Der Vorfall in Utah sorgte für gehörigen internationalen Pressewirbel und vermittelte den Eindruck, dass die Todesstrafe geradezu eine Gnade darstelle. Gilmore wurde im Januar 1977 von einem Hinrichtungskommando erschossen. Doch noch im selben Jahr beschloss der Gesetzgeber in Oklahoma die Einführung der Giftspritze, eine Hinrichtungspraxis, die viele Staaten nachahmten. Nachdem 10 Jahre lang kein Strafgefangener mehr hingerichtet worden war, hatten die Gefängnisanstalten die Räume mit den elektrischen Stühlen und die Gaskammern für andere Zwecke genutzt, und eine Wiederherstellung der Apparaturen wäre aufwendig und kostspielig gewesen. Dazu versprach die Giftspritze einen unbestreitbar schmerzlosen und sicheren Tod, der der Idee vom sanften Einschlafen sehr nahe kam. Und was konnte es weniger Spektakuläres geben als eine gewöhnliche Spritze, wie sie jeden Tag vielen Menschen zur Linderung ihrer Gebrechen verabreicht wurde. Mit der Injektion haben die amerikanischen Gesetzgeber endgültig das Drama des Todes besiegt, die Heilung des Gesellschaftskörpers in ihre vollendete symbolische Form gebracht, unterscheidet sich die Todesstrafe kaum noch vom normalen Sterben. An die Stelle des emotionsgeladenen Schauspiels des Schreckens in der Frühen Neuzeit ist die „beruhigende Gewissheit“ eines „anständigen Endes“ der Konfrontation mit dem Verbrecher geworden. Für die amerikanische Öffentlichkeit besteht über die Durchführung der Hinrichtung – bis in die jüngste Verhangenheit Anlass von Aufruhr und Diskussion – kein Grund zur Beunruhigung mehr.
Dennoch haben in den letzten Jahren die Todesstrafengegner Hoffnung geschöpft. Und die Meinungsumfragen scheinen ihnen Recht zu geben, denn die Zustimmung zur Kapitalstrafe ist in der amerikanischen Öffentlichkeit, bezogen auf die letzten zehn Jahre gesunken (statt 80 Prozent wie in einer Gallup-Umfrage 1994 nur noch 74 Prozent 2003). Offensichtlich zeigen die Kampagnen der letzten Zeit Wirkung, indem etwa das Supreme Court sein Urteil von 1989 aufgehoben und die Todesstrafe für geistig Behinderte und Jugendliche in Frage gestellt hat.Governor George Ryan aus Illinois ordnete, nachdem zahlreiche Fehlurteile nachgewiesen worden waren, zunächst ein Moratorium und dann eine Umwandlung von 150 Kapitalstrafen in lebenslange Haft an. Und selbst in Oklahoma, also einem der Südstaaten, wurde jüngst ein Todesurteil in Lebenslang umgewandelt. Obwohl der Bundesstaat damit nur einem Gerichtsurteil aus Den Haag folgte, das die Missachtung konsularischen Rechtsbeistandes in den USA kritisiert hatte, zeigt der Sachverhalt eine überraschende Sensibilität gegenüber der internationalen Rechtsordnung. Sind die USA auf den Weg in den Westen?
Von den Abolitionisten werden dafür viele Gründe genannt: die offensichtlich fundierten Zweifel an vielen Urteilen in der Vergangenheit, die durch die neuen DNA-Analysemethoden genährt werden; die Schwächen des amerikanischen Rechtssystems, das Farbige und sozial Schwache benachteiligt und vorwiegend auf mündlichen Zeugnissen beruht. Die Gerichtsverfahren, bei denen eine Todesstrafe verhandelt werde, seien viel kostspieliger als normale Verfahren, ohne dass wirkliche Rechtssicherheit gegeben sei, wie mit dem Furman-Urteil vom Supreme Court gefordert. Lebenslange Haft, das zeige der Gilmore-Fall, wäre eine viel härtere Sühne als die Todesstrafe und böte die Möglichkeit, Rechtsfehler wieder gut zu machen. Die moralischen Institutionen, die Anwaltvereine und vor allem die Kirchen, hätten sich inzwischen fast einhellig gegen die Todesstrafe ausgesprochen. Zudem isoliere die Hinrichtungspraxis die USA zunehmend vom Rest der zivilisierten Welt.
In Anbetracht der Fülle guter Argumente kann der deutsche Beobachter nur überrascht feststellen, dass nach Harris-Umfragen in den letzten drei bis vier Jahren die Todesstrafe neue Zustimmung gefunden hat und dass immer noch weit mehr als zwei Drittel der US-Bürger Hinrichtungen befürworten. Tatsächlich ist der Kampf gegen die Exekutionen ein typisch liberales Anliegen und damit eng begrenzt und eine Minderheitenposition. Solange es nicht gelingt, den amerikanischen Traum neu zu formulieren und in Übereinstimmung zu bringen mit dem Amerika Michigans und Rhode Islands, solange die Idee einer gemeinsamen atlantischen Wertordnung die Todesstrafe nicht einschließt und ein säkularisiertes, soziales Menschenrechtsverständnis fehlt, solange werden die Abolitionisten vermutlich auf verlorenem Posten stehen.
Dass Europa geradezu das Gegenbild der amerikanischen politischen Kultur bietet, resultiert aus Entwicklungen, die erst wenige Jahre zurückliegen. Die Menschenrechtskonvention des Europarates von 1950 garantierte das Recht auf Leben, aber es gab Ausnahmen, welche den Unterzeichnerstaaten die Todesstrafe erlaubte. Erst 1980 änderten sich die Mehrheiten, und die Beratende Versammlung verabschiedete eine Resolution, die den Ministerrat aufforderte, ein ergänzendes Protokoll auszuarbeiten und die Todesstrafe zu verbieten. Noch einmal war das Schicksal der Initiative ungewiss, denn erst die Präsidentschaftswahlen in Frankreich 1981 mit der Wahl Mitterrands sicherten den Erfolg. Am 28. April 1983 konnte das sechste Zusatzabkommen zur Menschenrechtskonvention zur Unterzeichnung ausgelegt werden.
Freilich auch jetzt brachte die Bestimmung keinen wirklichen Durchbruch, denn sie kodifizierte nur, was in den Europaratsländern Praxis geworden war, und im Kriegsfall griff die Klausel nicht einmal. Ihre eigentliche Bedeutung erhielt die Vereinbarung 1989 mit dem Umbruch im Osten Europas. Kein anderer gesetzgeberischer Akt vermochte die neue Zeit und den Vorrang des Einzelnen gegenüber staatlicher Willkür in ähnlicher Weise auszudrücken wie der Verzicht auf die Todesstrafe. Rumänien schritt voran, kaum dass Nicolae und Elena Ceausescu im Kugelhagel des Exekutionskommandos ihr Leben verwirkt hatten. Andere Staaten folgten. Dass wie in Deutschland 1949 nun auch die ehemaligen Machthaber von Exekutionen verschont und nach kurzer Zeit aus den Gefängnissen entlassen wurden, mochte eine erwünschte Nebenwirkung sein. Nach außen symbolisierte der Verzicht auf die Todesstrafe jedenfalls den Bruch mit der totalitären Vergangenheit, die begrenzte Macht des Staates, akzeptierte nun das Rechtssystem die Fehlbarkeit des Menschen, sowohl des Verbrechers wie der Gerichte, und stand das Verbot der Kapitalstrafe für den Willen, Europa zugehören zu wollen.
Worauf sonst auch konnte man Europa aufbauen? Antikes Erbe, Christentum, Industrialisierung als Identitätsangebote stehen sowohl für gemeinsame wie trennende Elemente europäischer Kultur. Der Kampf gegen die Todesstrafe thematisiert demgegenüber die von vielen Staaten geteilte Erfahrung totalitären Machtmissbrauchs, säkularisierter Weltwahrnehmung und des Misstrauens gegenüber der Allmacht zentralisierten Staatshandelns. Der Verzicht auf die Todesstrafe erwies sich damit als symbolisch höchst bedeutsamer Gesetzgebungsakt, der sich zugleich politisch verhältnismäßig leicht umsetzen ließ.
Während das Urvertrauen der US-Bürger in die amerikanischen Institutionen bislang kaum grundlegend erschüttert wurde, gilt für Europa das exakte Gegenteil. Gemeinschaft und organisierte Gesellschaft fallen auseinander. Der Staat hat seine Ansprüche auf das Leben der Individuen verwirkt. Die Narration über den zweiten Weltkrieg, den Holocaust und den Machtmissbrauch diktatorisch-totalitärer Systeme sowie das uneingeschränkte Bekenntnis zur Unveräußerlichkeit der Menschenrechte bilden das Fundament des europäischen Einigungsprozesses. Wer die Todesstrafe fordert, begeht einen Tabubruch, der zumindest in Deutschland den Rücktritt des Sprechers von allen politischen Ämtern erzwingt, wie es der brandenburgische CDU-Landesvorsitzende Peter Wagner 1996 erfahren musste. Die Erzählung von der Abschaffung der Todesstrafe funktioniert als Narrativ von der schmerzhaften Wiedergeburt Europas, das seine moralische Führungsrolle zurückgewonnen habe und den so leidvoll erworbenen Erkenntnisgewinn niemals aufgeben dürfe.
Verglichen mit dem europäischen Raum erscheinen die USA vielen Europäern als ein geradezu barbarisches Land, das sich von seinen Wildwest-Traditionen kaum entfernt hat. Robert Badinter, der französische Justizminister unter Mitterrand, kommentierte die Wahl des ehemaligen texanischen Gouverneurs George W. Bush zum Präsidenten mit der Bemerkung „Er ist der Weltmeister im Hinrichten“, und Claudia Roth von den deutschen Grünen meinte zur selben Zeit: „Mir fallen nur zwei Dinge ein: Er ist der Sohn des früheren Präsidenten Bush, und er hat 150 Menschen in Texas hinrichten lassen, darunter auch geistig Behinderte.“ Wenn die letzten Hinrichtungen in Frankreich auch kaum ein viertel Jahrhundert zurückliegen, ist die Todesstrafe zu einem Thema antiamerikanischer Identitätskonstruktion geworden, das viele Menschen und Nichtregierungsorganisationen mobilisiert. Man kann geradezu behaupten, dass die Franzosen und die Europäer besser über das Leben und die Haftbedingungen amerikanischer Todeszelleninsassen informiert seien als die nordamerikanische Bevölkerung. Dank einer französischen Initiative wurde mit Unterstützung des Europarates im Juni 2001 der erste Weltkongress gegen die Todesstrafe in Straßburg durchgeführt. Das Stichwort von der „todesstrafenfreien Zone“ reflektiert das Selbstverständnis europäischer Politik und grenzt Europa von den USA ab. In der kulturellen Distanz zu den USA hat Europa seine „moralische Überlegenheit“ zurückgewonnen und den Weg zum Aufbau einer „Dritten Kraft“ erneut beschritten.
Fazit: Synthese
Die Bilanz der vergleichenden Geschichte der Todesstrafe in Deutschland, Frankreich und den USA fällt zwiespältig aus. Zwar ermöglicht eine Analyse der politischen Kultur und der genaue Blick auf die regionalen Differenzen zu erklären, warum in den USA die Todesstrafe so viele Anhänger hat. Aber auch in Europa fand die Hinrichtungspraxis bis in die sechziger, siebziger Jahre weitgehende Unterstützung. Zudem lassen sich Phasen in der nordamerikanischen Geschichte ausmachen, in denen die Todesstrafe durchaus kritisch bewertet wurde. Mehr noch, bis zu den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts existierte eine atlantische Wertegemeinschaft, die eng kommunikativ miteinander verbunden war und in der die USA als Vorreiter der Zivilisierung und Abschaffung der Todesstrafe gelten konnte.
Erst Ende des 20. Jahrhunderts trennen sich die Wege der Vereinigten Staaten, Deutschlands und Frankreichs, indem die „schweigende US-Mehrheit“ die eigene Wertordnung in der Tradition der protestantischen Siedlergemeinschaft neu bestimmte, während die politische Klasse in Europa den umgekehrten Weg einer säkularisierten, staatliche Ansprüche abwehrenden, die Menschenrechte in den Mittelpunkt stellenden Neufundierung wählte. Fast immer war die Abschaffung der Todesstrafe das Werk einer beherzt handelnden politischen Elite, die den Gesetzesakt als Ausweis unwiderruflicher Demokratisierung verstanden wissen wollte. Daher werden auch in den USA die Abolitionisten erst dann maßgeblich Einfluss gewinnen, wenn neue kulturelle Leitbilder vordringen, wenn das „alte Amerika“ sich dem „neuen Europa“ öffnet und wieder eine atlantische Wertegemeinschaft entsteht. Institutionelle Barrieren wie die Autonomie der Bundesstaaten und das in der Vergangenheit ausgearbeitete Richterrecht des Supreme Court werden aber auch in einem veränderten politischen Klima den generellen Verzicht auf die Todesstrafe in den USA erschweren.
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Zum Fall Gilmore s. die biographische Erzählung der forensischen Psychologin Katherine Ramsland, http://www.crimelibrary.com/notorious_murders/mass/gilmore.
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Erst das Protokoll Nr. 13 vom 1. Juli 2003 sieht die vollständige und vorbehaltlose Abschaffung der Todesstrafe vor.
Zimring, Postscript, S. 215. Zu den Ereignissen in Rumänien s. Heinen, Armin, Der Tod des Diktators und die Gegenwart der Vergangenheit. Rumänien 1989-2003, in: Leviathan. Zeitschrift für Sozialwissenschaft, 31 (2003), S. 168ff.
Frankowski, Stanislaw, Post-Communist Europe, in: Hodgkinson; Rutherford, S. 215ff.
Hohmann, Olaf, Die Geschichte der Todesstrafe in Deutschland, in: Boulanger u.a., Zur Aktualität de Todesstrafe, S. 261.
Vgl. hierzu auch den höchst instruktiven Aufsatz von Girling.
Girling, „Wir im Todestrakt“, S. 316.
http://www.senat.fr/evenement/archives/D22/monde.html (03.03.2004).
http://assembly.coe.int/documents/workingdocs/doc99/edoc8340.html.