Die unmögliche Definition Europas. Zu einem Artikel in Zedlers „Universal Lexicon“ (1734)[1]
Von Achim Landwehr
Der 1734 erschienene achte Band der vom Verleger Johann Heinrich Zedler herausgegebenen Enzyklopädie, die den nahezu hochmütigen, aber durchaus ernst gemeinten Titel trägt „Grosses vollständiges Universal Lexicon Aller Wissenschaften und Künste“, war dem Buchstaben E gewidmet. Ein Band, ein Buchstabe – so etwas möchte man als gelungene Organisation bezeichnen. Er ist denn auch, wie die anderen 67 Bände, sehr umfangreich ausgefallen, großformatig, zweispaltig und voluminös. Selbstredend findet sich in einem Lexikon mit einem solchen selbst auferlegten Vollständigkeitsanspruch auch ein Artikel zum Stichwort „Europa“, wenn auch nicht von der Länge, die man im Vorhinein unter Umständen erwarten würde. Etwa vier Spalten wurden reserviert für die Beschreibung dieses Kontinents, was nicht gerade opulent ist für ein Lexikon, das – nach heutiger Lesart – auch noch der absonderlichsten Kleinigkeit Aufmerksamkeit schenkt. Denn tatsächlich setzte Zedlers Lexikon für den deutschsprachigen Raum des 18. Jahrhunderts Maßstäbe und ist bis zum heutigen Tag ein wichtiges Referenzwerk geblieben, wenn man sich historisch mit diesem Zeitraum auseinander zu setzen gedenkt.[2]
Der Europa-Artikel in Zedlers Lexikon stellt also eine Möglichkeit dar – wenn auch sicherlich nicht die einzig repräsentative –, dem Europaverständnis des ersten Drittel des 18. Jahrhunderts näher zu kommen und vor diesem Hintergrund auch unser eigenes Denken über Europa zu befragen. Nachdem der Artikel mit dem Namen selbst beginnt und unterschiedliche etymologische Erklärungsweisen für „Europa“ gibt, folgt unmittelbar eine etwas ausführlichere Zusammenfassung des antiken Mythos, wonach Europa bekanntlich von Zeus in Gestalt eines Stiers nach Kreta entführt worden sein und dort mit ihm drei Söhne gezeugt haben soll. (Amüsantes Detail am Rande: Der Verfasser des Artikels spricht davon, dass Zeus/Jupiter sich zur Entführung der schönen Europa in einen Ochsen, nicht in einen Stier verwandelt habe. Sich Zeus als kastriertes Rind vorzustellen, kommt schon einer Verhöhnung des Göttervaters gleich. Man vergleiche hierzu auch den Artikel „Ochse“ im 25. Band des Zedler, der im Übrigen etwa dreimal so lang ist wie der Europa-Artikel)
Diese für den Kontinent durchaus konstitutive, weil fest in das europäische Bildgedächtnis verankerte Erzählung wird mit mehreren Varianten angegeben und in einem frühaufklärerischen Sinn durchaus kritisch unter die Lupe genommen. Hierbei zeigt sich eine für das frühe 18. Jahrhundert nicht untypische Ambivalenz in der Haltung gegenüber diesem Mythos, der weder rundweg als Phantasieerzählung verworfen, noch auf naive Weise als ‚historische Tatsache‘ hingenommen wird. Dass es sich bei Europa um eine phönizische Königstochter handelte, steht für den unbekannten Verfasser des Artikels außer Frage. Allerdings hegt er hinsichtlich des Stiers/Ochsen einige Zweifel und vermutet, dass es sich vielleicht um einen kretischen Seeräuber oder General namens Taurus gehandelt habe. Eine andere Variante weiß von einer Gruppe kretischer Kaufleute, die den Stier in ihrer Flagge geführt habe, so dass die entsprechende Erzählung entstehen konnte.
Nicht unwichtig und das enzyklopädische Projekt des 18. Jahrhunderts durchaus repräsentierend ist aber das darstellerische Vorgehen des Artikels, also der Versuch, sich dem Gegenstand über den Namen beziehungsweise über seine Geschichte zu nähern. Dadurch sollte nicht einfach nur einem bildungsbürgerlichen Anspruch Genüge getan werden, sondern dahinter steckte die Vorstellung, dass man „das Wesen“ eines Landes oder einer Nation ergründen könne, indem man seine Geschichte erzählte.[3] Deswegen ist die – wenn auch mit Zweifeln und Fragezeichen behaftete – Behandlung des Mythos im ersten Teil des Artikels alles andere als ein Zufall.
Beim Teil zum Europa-Mythos handelt es sich im Verständnis des Zedlerschen Lexikons demnach ebenso um eine Darstellung ‚harter Fakten’ wie bei den weiteren Abschnitten des Artikels, die unserem Verständnis von lexikalischer Behandlung eines Gegenstandes schon wesentlich näher kommen. Hier geht es um die geographische Lage Europas, um seine kontinentalen Grenzen (wobei die östliche Grenze noch entlang des Flusses Don, nicht am Ural gezogen wird), seine Ausdehnung und Gestalt. Insbesondere fällt auf, dass diese Ausführungen des Artikels geprägt sind durch das Stilmittel der Aufzählung. So werden namentlich 31 große Regionen und Länder genannt, die in Europa zu finden sind, die politische Verfassung wird umrissen und geographische Besonderheiten in Form von Inseln, Flüssen und Bergen werden bezeichnet.
Diesen keine Vollständigkeit beanspruchenden, sondern vielmehr die Vielfalt des Kontinents andeutenden Auflistungen folgen einige Ausführungen, die vielleicht am ehesten Aufmerksamkeit erregen können, da sie der europäischen Arroganz gegenüber dem Rest der Welt Ausdruck verleihen, wie sie für das 18. Jahrhundert durchaus typisch, wenn auch nicht alternativlos war.[4] Denn auch wenn Europa der kleinste der vier Kontinente sei (Australien kommt in dieser Aufzählung noch nicht vor), so sei er „doch um verschiedener Ursachen willen allen übrigen vorzuziehen.“ Das Klima sei gemäßigt, das Land fruchtbar, die Menschen gut gesittet, Geschicklichkeit und Intelligenz schlagen sich in allen Lebensbereichen nieder, weshalb es wohl auch kein Zufall sei, dass Europa über weite Teile der übrigen Welt herrsche: „Die Europäer haben auch durch ihre Geschicklichkeit und Tapfferkeit die vortrefflichsten Theile der Welt unter sich gebracht. Ihr Witz erhellet aus ihren Wercken: ihre Klugheit aus ihrer Regierung: ihre Stärcke und Macht aus ihren Armeen: ihre gute Conduite aus ihrem Handel und Wandel: und endlich ihre Pracht und Herrlichkeit aus ihren Städten und Gebäuden.“ Mit einer knappen Nennung wichtiger Sprachfamilien sowie der großen Konfessionen findet der Artikel sein abruptes und möglicherweise auch etwas enttäuschendes Ende.
Wer auch immer der Verfasser von Zedlers Europa-Artikel gewesen sein mag, er hat auf jeden Fall keinen Höhepunkt enzyklopädischer Prosa zustande gebracht. Die insgesamt sehr knapp ausgefallene Darstellung lässt zahlreiche Aspekte vermissen und ist alles in allem wenig einfallsreich. Aber gerade deswegen lohnt sich ein Blick auf diese wenigen Spalten, weil der unbekannte Autor an einer Klippe gescheitert ist, die auch viele seiner Zeitgenossen nicht überwinden konnten und die bis zum heutigen Tag reichlich für Schwierigkeiten sorgt. Es ist die altbekannte Frage, was denn Europa nun eigentlich ausmache. In dem Artikel wird dabei die ebenfalls nicht ganz unbekannte Strategie verfolgt, die Einheit in der Vielfalt zu beschwören und darin das herausragende Merkmal dieses Kontinents zu erblicken. Nun ist das mit der Vielfalt so eine Sache, denn dieses Argument setzt sich nicht ganz unberechtigter Weise dem Vorwurf aus, eurozentristisch zu sein, weil es die Vielfalt anderer Kontinente (Asien, Afrika) nicht wahrnehmen will beziehungsweise mit Amerika einen Vergleichsparameter heranzieht, dessen einstige Vielfalt im Zuge der europäischen Kolonisation zerstört wurde. Und die Einheit dieser viel beschworenen Vielfalt machte sich zumeist nur dann bemerkbar, wenn man außerhalb Europas auftrat und die dort beobachteten Differenzen zu eigenen Lebensweisen und Überzeugungen dazu führten, die innereuropäischen doch etwas kleiner erscheinen zu lassen. Doch für unsere Gegenwart ist auch diese Strategie im Verlauf des 20. Jahrhunderts weggebrochen, weil Europa nicht mehr der weltbeherrschende Kontinent ist, sondern sich nun auch von anderen befragen lassen muss, was ihn denn vor anderen auszeichne. In dieser Situation fällt an der Wende vom 20. zum 21. Jahrhundert die Antwort wohl wesentlich schwerer, als dies für den Verfasser des Europa-Artikels der Fall war.[5]
Das Zedlersche Lexikon konnte all diese Fragezeichen und Leerstellen durch das – heute nicht mehr vertretbare – Postulat wegwischen, dass Europa schlicht überlegen und durch eine unübersehbare Dominanz über alle anderen Kontinente charakterisiert sei. Doch ein zweiter Blick auf den Artikel belegt, dass nach seiner Lektüre vor allem klar ist, dass überhaupt nicht mehr klar ist, was Europa eigentlich auszeichnet. Ist der Name griechischen oder phönizischen Ursprungs? Ist der Mythos um den Entführer in Stiergestalt wahr oder nur hübsch erfunden? Kann einem der Versuch, die Kontinentalgrenzen zu beschreiben, wirklich weiterhelfen, vor allem bei der notorisch schwierigen Definition nach Osten hin?[6] Haben nicht auch andere Kontinente Länder, Regionen, Berge, Flüsse, Sprachen und Religionen im Überfluss, zeichnen sich nicht auch deren Menschen durch Intelligenz, Geschicklichkeit und gute Sitten aus? Vielleicht muss ein Kontinent erst seine weltbeherrschende Stellung verloren haben, um sich eine solche Selbstbefragung leisten zu können.
Der Zedler-Artikel unternimmt die Beantwortung der Frage nach dem, was Europa ausmache, mit Hilfe von Aufzählungen. Aus der Addition der unterschiedlichen Aspekte soll sich ein Gesamtbild ergeben – aber ist in diesem Fall das Ergebnis tatsächlich mehr als die Summe der einzelnen Teile? Ich denke schon, aber möglicherweise nicht in dem Sinn, wie er aktuell vielfach diskutiert wird oder wie ihn Zedlers Lexikon-Artikel gemeinsam mit vielen anderen Exemplaren dieser Gattung im Sinn hatte. Denn Europa wird hier als Antwort präsentiert – wenn Europa aber diese Antwort ist, wie lautet dann die Frage? Läuft sie tatsächlich auf das identifikatorische Bedürfnis hinaus, sich als Bewohner dieses asiatischen Wurmfortsatzes von anderen Kontinenten abzugrenzen, indem man bestimmt, was „uns“ „eigentlich“ auszeichnet?
Ich möchte anhand des Zedler-Artikels einen anderen Zugang vorschlagen. Nicht dass der Artikel mehr meinen würde als er tatsächlich sagt. Es ist wirklich nur der – an sich schon recht anspruchsvolle – Versuch, Europa auf die wenigen Spalten zu bannen, die einem solchen Begriff nun einmal in einem Lexikon zugebilligt werden. Es findet sich also kein subversiver Subtext, den es hier aufzudecken gelte. Aber wie bei jeder Beschäftigung mit einem historischen Gegenstand stellt sich (mindestens) ein doppeltes Problem, nämlich einerseits herauszufinden, wie der Gegenstand in seiner Zeit zu verorten ist, andererseits aber auch die Frage zu thematisieren, welche Bedeutung dieser historische Gegenstand für uns hat. Und angesichts der letzteren Frage lässt der Lexikonartikel zumindest unterschiedliche Lesarten zu.
Denn möglicherweise kann die eher enttäuschende Einsicht, dass der Artikel vor allem die Unklarheit über das Europäische an Europa zum Ausdruck bringt, in einen fruchtbaren Denkansatz überführt werden. Dieser würde darauf hinauslaufen, dass eine Definition Europas vor allem darin bestehen müsste, Europa explizit nicht zu definieren. Denn eine inhaltlich eindeutige Bestimmung, die den Kontinent auf zentrale Werte, Überzeugungen, Charakteristika, „Errungenschaften“ oder was auch immer festlegen möchte, birgt nicht nur die latente Gefahr der europäischen Arroganz sowie der Ausgrenzung anderer Kontinente in sich, sie stellt darüber hinaus den Versuch dar, das Nachdenken und Diskutieren über den Gegenstand zu einem Halt zu bringen. Demgegenüber plädiere ich dafür, Europa gerade nicht durch definitorische Versuche in Lexikonartikeln zu fixieren, sondern durch die Aufrechterhaltung der Frage zu charakterisieren.
Wenn also inzwischen ein europäischer Wertekanon gesucht wird oder die geplante EU-Verfassung den Versuch unternimmt, Ansätze einer europäischen Identität zu formulieren, so ist das möglicherweise deshalb problematisch, weil etwas festgelegt werden soll, das sich nicht festlegen lässt. Das Moment der Auseinandersetzung, des Konflikts, des diskursiven Mit- und Gegeneinanders, das Europa in so vielen Konflikten durchexerziert hat, kann in doppelter Weise bestimmt werden: destruktiv in Form von Kriegen und Nationalismen, konstruktiv in Form eines beständigen und niemals endenden Sich-Befragens. Meines Erachtens ist es vornehmlich dieser zweite Aspekt, der Europa auszeichnet und der durch die Institutionalisierung einer europäischen Identität nur zu einem kaum wünschenswerten Stillstand käme. Die Beschäftigung mit Europa und seiner Geschichte sollte sich also darauf konzentrieren, die unterschiedlichen Fragen nachzuzeichnen, die an und über diesen Kontinent gestellt wurden. Es würde sich dann zeigen, dass Europa nicht durch bestimmte Inhalte, sondern durch die Form charakterisiert ist, in der über diese Inhalte diskutiert wird, nämlich durch einen niemals endenden Prozess der Diskursivierung.
Leider ist es dem westlichen und speziell dem europäischen Denken fremd, sich von übergeordneten Prinzipien oder vermeintlich fixierten Entitäten zu verabschieden, um stattdessen das Nicht-Feststehende und das Fließende in den Vordergrund zu rücken. Möglicherweise sollte es im Zusammenhang mit Europa-Diskussionen – aber auch hinsichtlich anderer Gegenstände – zum Prinzip gemacht werden, keine übergeordneten Prinzipien zu suchen. Das bedeutet natürlich wiederum die Etablierung eines Prinzips, aber eines, das diesmal den Weg beschreibt und nicht das Ziel.
[1] Essay zur Quelle: Grosses vollständiges Universal-Lexicon Aller Wissenschaften und Künste, Welche bißhero durch menschlichen Verstand und Witz erfunden und verbessert worden. [...], Bd. 8: E, Halle/Leipzig 1734.
[2] Vgl. zum Lexikon Schneider, Ulrich Johannes, Die Konstruktion des allgemeinen Wissens in Zedlers ‚Universal-Lexicon‘, in: Stammen, Theo; Weber Wolfgang E.J. (Hg.), Wissenssicherung, Wissensordnung und Wissensverarbeitung. Das europäische Modell der Enzyklopädien, Berlin 2004, S. 81-101.
[3] Vgl. beispielsweise Völker-Rasor, Anette; Schmale, Wolfgang (Hg.), MythenMächte - Mythen als Argument, Berlin 1998.
[4] Bitterli, Urs, Die ‚Wilden‘ und die ‚Zivilisierten‘. Grundzüge einer Geistes- und Kulturgeschichte der europäisch-überseeischen Begegnung, München 2. Aufl. 1991.
[5] Zu dieser Schwierigkeit Schmale, Wolfgang, Geschichte Europas, Wien/Köln/Weimar 2001.
[6] Parker, W.H., Europe: how far?, in: Geographical Journal 126 (1960), S. 278-297.
Literaturhinweise:
Eybl, Franz M. (Hg.), Enzyklopädien der Frühen Neuzeit. Beiträge zu ihrer Erforschung, Tübingen 1995.
Landwehr, Achim; Stokhorst, Stefanie, Einführung in die Europäische Kulturgeschichte. Paderborn 2004.
Schmale, Wolfgang, Geschichte Europas, Wien 2001.
Schneider, Ulrich Johannes, Seine Welt wissen. Enzyklopädien in der Frühen Neuzeit, Darmstadt 2006.
Schneider, Ulrich Johannes, Die Konstruktion des allgemeinen Wissens in Zedlers 'Universal-Lexicon', in: Stammen, Theo; Weber, Wolfgang E.J. (Hgg..), Wissenssicherung, Wissensordnung und Wissensverarbeitung. Das europäische Modell der Enzyklopädien, Berlin 2004, S. 81-101.