Der preußische Verfassungskonflikt 1862-1866 und die französische Krise von 1877 als Schlüsselperioden der Parlamentarismusgeschichte

Der Beitrag vergleicht die beiden zwischen Staatsoberhaupt und Parlament durchgefochtenen Konflikte. Der preußische Verfassungskonflikt war im Wesentlichen ein Streit um die Reichweite der legislativen Funktion der Abgeordnetenkammer, die im Rahmen einer konstitutionellen Monarchie in Kooperation mit dem König auszuüben war. n der Dritten Französischen Republik, die zunächst ein parlamentarisch-präsidentielles Mischsystem war, ging es 1877 um die Sicherung der bereits vorhandenen regierungstragenden Funktion der Abgeordnetenkammer.

Der preussische Verfassungskonflikt 1862–66 und die französische Krise von 1877 als Schlüsselperioden der Parlamentarismus­geschichte

Von Thomas Raithel

Der Beitrag vergleicht die beiden zwischen Staatsoberhaupt und Parlament durchge­fochtenen Konflikte. Der preußische Verfassungskonflikt war im Wesentlichen ein Streit um die Reichweite der legislativen Funktion der Abgeordnetenkammer, die im Rahmen einer konstitutionellen Monarchie in Kooperation mit dem König auszuüben war. Nur kurzzeitig kam auch die Möglichkeit ins Spiel, dass die Kammer maßgeblichen Einfluss auf die Regierungsbildung und somit auch eine regierungstragende Funktion gewinnt. Letztlich erfolgte eine Befestigung der konstitutionellen Monarchie – mit weitreichenden Folgen für das spätere Deutsche Reich. In der Dritten Französischen Republik, die zu­nächst ein parlamentarisch-präsidentielles Mischsystem war, ging es 1877 um die Siche­rung der bereits vorhandenen regierungstragenden Funktion der Abgeordneten­kammer. Der Versuch von Staatspräsident Mac Mahon, eine Verantwortlichkeit des Kabinetts auch ihm gegenüber zu etablieren, konnte unterbunden werden. Hierbei war die Budget­verweigerung ein wirkungsvolles Druckmittel, da das Parlament die alleinver­antwortlich legislative Funktion besaß. Das parlamentarische System kam nun zum vollen Durch­bruch. Prägend war allerdings auch, dass keine Berufung des parlamenta­rischen Mehr­heitsführers zum Ministerpräsidenten erfolgte.

Le conflit constitutionnel prussien de 1862–1866 et la crise parlementaire française de 1877 font l’objet, à titre comparé, de cette contribution. Dans les deux cas il s’agit d’un conflit entre le chef de l’État et le Parlement. Dans le premier, le désaccord porte fondamentalement sur l’étendue des pouvoirs législatifs que la Chambre des députés partage avec le roi de Prusse (monarchie constitutionnelle). L’éventualité que la Chambre puisse également exercer une influence déterminante sur la formation du gouvernement ne paraît possible que pendant une période très courte. Au final, c’est le régime de la monarchie constitutionnelle qui sort renforcé du conflit – avec des conséquences très importantes pour le futur empire allemand. Dans le second cas, sous la Troisième République qui est au départ un système mixte, mi-parlementaire, mi-présidentiel, le conflit de 1877 porte sur la défense des pouvoirs que la Chambre des députés détient en propre sur la formation, le soutien et le cas échéant le renversement du gouvernement, issu normalement de la majorité parlementaire. Alors que les ministres sont solidairement responsables devant le Parlement, et devant lui seul, la tentative du président Mac Mahon pour soumettre la politique gouvernementale à l’approbation du président de la République est mise en échec. Le refus de voter le budget, matière pour laquelle le Parlement est seul compétent, sert de moyen de pression aux députés. À l’issue du conflit, c’est le système parlementaire qui triomphe. À une nuance près qui, cependant, devait s’avérer importante par la suite : le chef de la majorité parlementaire n’a pas été désigné président du Conseil.

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Die sechziger und siebziger Jahre des 19. Jahrhunderts bilden in der deutschen und der französischen Parlamentarismusgeschichte eine deutliche Zäsur. Während sich auf der einen Seite das Modell der konstitutionellen Monarchie verfestigte, erfolgte auf der anderen eine klare Wendung zum parlamentarischen System. Im Mittel­punkt dieser abweichenden Entwicklungen stand der deutsch-französische Krieg von 1870/71, der den entscheidenden Impuls für die Gründung des Deut­schen Reiches und der Dritten Französischen Republik gab. Zuvor war im preußi­schen Verfassungskonflikt von 1862–66 bereits eine Vorentscheidung über die Verfas­sungsverhältnisse eines künftigen deutschen Nationalstaats gefallen, und erst einige Jahre nach der Republikgründung errang in Frankreich die parlamenta­rische Demokratie in der Krise von 1877 den entscheidenden innenpolitischen Sieg.[1]

Wenn nun im Folgenden versucht wird, diese beiden großen verfassungspoliti­schen Machtkämpfe einer vergleichenden Betrachtung zu unter­ziehen[2], so stellt sich zum einen die Frage nach der Vergleichbarkeit, zum anderen jene nach dem wissenschaftlichen Ertrag. Lassen sich der preußische Verfas­sungskonflikt und die französische Krise von 1877 angesichts der abweichenden Vorgeschichten und Kontexte überhaupt sinnvoll miteinander vergleichen? Und inwiefern lässt sich der parlamentarismusgeschichtliche Stellenwert dieser Krisen durch ein komparatisti­sches Überdenken in einem schärferen Licht erfassen? Bevor diesen Fragen nach­zugehen sein wird, sollen zunächst Kontext und Verlauf beider Konflikte kurz rekapituliert werden.

Die beiden Krisen als nationalgeschichtliche Ereignisse

Bekanntlich nahm in Preußen, das erst im Gefolge von 1848 eine konstitutionelle Monarchie geworden war[3], der Verfassungskonflikt seinen Ausgang in dem bereits 1860 einsetzenden Streit zwischen der Regierung und der liberalen Mehrheit des Abgeordnetenhauses über die Gestaltung einer Heeresreform. Im Prinzip war die Notwendigkeit einer Reform und auch einer Erhöhung der Friedensstärke nicht umstritten. Auf heftigen Widerstand stieß allerdings die innenpolitisch moti­vierte und vom Prinzregenten bzw. ab Januar 1861 von König Wilhelm I. mit Nachdruck vertretene Forderung, die Wehrdienstzeit auf drei Jahre zu verlängern. Nicht zu­letzt, weil strittig war, ob in dieser Frage ein Gesetz notwendig sei, suchte die parlamentarische Mehrheit die Dienstzeitverlängerung über eine Verweige­rung von Haushaltsmitteln zu Fall zu bringen. In den Jahren 1860 und 1861 waren zunächst noch provisorische Deckungen des Militäretats verabschiedet worden. Nach den Wahlen vom Dezember 1861, aus denen die Liberalen und vor allem die neuge­gründete Deutsche Fortschrittspartei als Sieger hervorgingen, schlug der Wehr- in einen Verfassungskonflikt um. Die Parlamentsauflösung vom März 1862 führte in den anschließenden Neuwahlen zu einem erneuten liberalen Erfolg. Wendepunkt war der September 1862, als ein ordnungsgemäßer Haushalt schei­terte und Wilhelm I. statt abzudanken den bereits in Wartestellung befindlichen Otto von Bismarck zum Ministerpräsidenten berief. Über Jahre hinweg regierte dieser nun im offenen Konflikt mit dem Abgeordnetenhaus ohne verfassungsmä­ßiges Budget. Erst 1866, unter dem Eindruck des preußischen Sieges gegen Öster­reich und des konservativen Erfolgs in den Wahlen zum Abgeordnetenhaus, kam der Kompro­miss eines Indemnitätsgesetzes zustande, mit dem das Parlament die Staatsausga­ben seit 1862 nachträglich billigte. Die – wie es Bismarck nach seinem Amtsantritt vorausgesagt hatte[4] – „durch Eisen und Blut“ und nicht „durch Reden und Majori­tätsbeschlüsse“ vollzogene Nationalpolitik hatte den Verfassungskon­flikt gleichsam überwölbt.Die französische Krise von 1877 steht im Kontext einer diffusen verfassungs­politischen Situation und eines anhaltenden Konflikts um die Staatsform. Der all­mähliche Aufbau einer parlamentarischen Republik hatte zwar durch die 1875 erfolgte Verabschiedung dreier großer Verfassungsgesetze erhebliche Fortschritte gemacht.[5] Allerdings gab es auch auf dieser neuen Grundlage noch immer ein erhebliches Potential an präsidentiellen Gestaltungsmöglichkeiten. Seit 1873 amtierte als Präsident der Republik Marschall Mac Mahon, der aus Sicht der kon­servativen Kräfte ursprünglich Platzhalter für einen künftigen Monarchen sein sollte. In einer Art cohabitation[6] standen ihm seit den Wahlen von 1876 eine republikanische Mehrheit in der Abgeordnetenkammer sowie gemäßigt republika­nische Ministerpräsidenten gegenüber, sodass bereits mit einer Verfassungskrise gerechnet wurde. Die Gegensätze spitzten sich im Vorfeld des Konflikts dann besonders in religionspolitischen Fragen zu. Die akute Krise nahm ihren Anfang, als Mac Mahon am 16. Mai 1877 dem Ministerpräsidenten Jules Simon in einem Brief vorwarf, sich zu sehr der parlamentarischen Mehrheit unterzuordnen, und ihn dann zum Rücktritt bewog.[7] Ausdrücklich betonte der Marschall dabei seine Verant­wortlichkeit gegenüber Frankreich.[8] Anschließend berief der Staats­prä­si­dent gegen den Willen der Kammer das konservative Ministerium de Broglie. Für die labile parlamentarische Republik war der nun einsetzende Machtkampf eine gefähr­liche Herausforderung, aber auch eine Chance zur weiteren Fundierung. Als die von den vier republikanischen Fraktionen gebildete und unter der energischen Führung Léon Gambettas stehende Kammermehrheit[9] die verkappte Entlassung einer Regierung und die eigenständige Kabinettsbildung durch den Präsidenten mit einem Misstrauensvotum gegen die Regierung de Broglie beantwortete, kon­terte Mac Mahon mit der Kammerauflösung. Wie von der Verfassung gefordert, gab der Senat hierfür seine Zustimmung.[10] In dieser Situation kam dem Ausgang der Neu­wahlen im Oktober 1877 entscheidende Bedeutung zu. Die Mehrheitsver­hältnisse wurden jedoch trotz massiver Wahlbeeinflussung durch die konservative Staats­macht kaum verändert, und die neue Kammer sanktionierte den Eingriff in das Prinzip der parlamentarischen Regierungsverantwortung mit einer konse­quenten Verweigerung aller politischen Beziehungen zu der inzwischen vom Marschall eingesetzten „Geschäftsregierung“ Rochebouët. Hierzu gehörte insbe­sondere auch die Blockade der anstehenden Budgetbewilligung. Der Präsident gab schließlich im Dezember 1877 nach, indem er im Einklang mit der Kammermehr­heit erneut, wie bereits im Februar 1876, den rechtsliberalen Armand Dufaure mit der Regierungs­bildung betraute. Den Epilog bildete dann Anfang 1879 der Rück­tritt des zuneh­mend isolierten Mac Mahon. Zum neuen Präsidenten der Republik wurde nun Jules Grévy gewählt, der dem Amt eine weitaus restriktivere Ausle­gung gab.[11]

Die beiden Krisen im Vergleich

Probleme, Kategorien und Zielsetzung des Vergleichs

Ein parlamentarismusgeschichtlicher Vergleich beider Krisen bietet einige grund­sätzliche Probleme, die vor allem aus den sehr unterschiedlichen Verfassungsbe­dingungen Preußens und der frühen Dritten Republik resultieren. Orientierte man sich stärker an Analogien im verfassungsgeschichtlichen Entwicklungsstand, so läge ein Vergleich des preußischen Konflikts mit den französischen Vorgängen der Jahre 1829 und 1830 zweifellos näher.[12] Zudem ist zu berücksichtigen, dass Verglei­che derart umfangreicher Ereigniskomplexe, die stark vom Handeln einzel­ner Persönlichkeiten geprägt sind, und die ein hohes Maß an nationalhistori­scher Individualität aufweisen, besonders schwierig sind und in sich stets die Ge­fahr von Kurzschlüssen bergen. Diesen Einwänden lässt sich entgegenhalten, dass es im preußischen Verfassungskonflikt und in der französischen Krise von 1877 doch so etwas wie einen analogen Grundkonflikt zwischen Parlament und Staats­oberhaupt[13] gegeben hat, der charakteristisch ist für den langwierigen Prozess der Parlamentari­sierung in Europa. Ein Vergleich, der ausgehend von diesem ele­mentaren tertium comparationis auf die unterschiedliche Ausprägung der Kon­flikte in zeitlicher Nähe zielt, ist prinzipiell genauso legitim wie ein asynchroner Vergleich, der eher bestimmte Gemeinsamkeiten in den Blick nimmt.

Um die verschiedenen Konfliktfelder in einer gemeinsamen Sprache zu erfas­sen und somit vergleichbar zu machen, ist der Bezug auf relativ abstrakte Katego­rien erforderlich. Die im Folgenden verwendeten Grundbegriffe stehen in der Tra­dition einer funktionalen Parlamentarismusanalyse. Dieser Ansatz, der in den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts von Walter Bagehot durch die genaue Beob­achtung des englischen Unterhauses begründet worden ist[14], hat vor allem den Vorzug, flexibel mit unterschiedlichen Ausprägungen des parlamentarischen Systems umge­hen zu können. Der eigentliche Kern des preußischen Verfassungs­konflikts und der französischen Krise von 1877 kann durch den Bezug auf zwei parlamentarische Hauptfunktionen erfasst werden: Dies ist zum einen die traditio­nelle legislative Funktion, die immer auch eng mit der Funktion der parlamentari­schen Kontrolle verbunden ist und deren bedeutendsten Aspekt die gesetzmäßige Budgetbewilli­gung bildet. In der konstitutionellen Monarchie wird die legislative Funktion in Kooperation mit der Krone ausgeübt, während im parlamentarischen System die volle Gesetzgebungsgewalt im Prinzip beim Parlament liegt. Mindes­tens ebenso wichtig aber werden im parlamentarischen System die im Folgenden als regie­rungstragende Funktion bezeichnetenAufgaben, die sich aus der politi­schen Ver­antwortung der Regierung gegenüber dem Parlament ergeben: Erstens die parla­mentarische Bildung der Regierung oder doch zumindest ein maßgebli­cher Einfluss des Parlaments auf die Regierungsbildung, zweitens die Unterstüt­zung der Regie­rungsarbeit durch eine parlamentarische Mehrheit[15], und drittens – gleichsam als negatives Potential – die Abberufung einer Regierung.[16] Mit Hilfe der genannten Kategorien soll nun versucht werden, die jeweilige funktionale Krisenkonstellation zu beschreiben und die langfristige parlamentarismusge­schichtliche Prägekraft beider Krisen zu bewerten. Dass dies hier nur in groben Strichen möglich ist, ver­steht sich von selbst.[17] Weitgehend ausgeklammert blei­ben die Auswirkungen auf die jeweils konfliktauslösenden Themen der Militär- und Religionspolitik sowie auf die Parteienentwicklung.[18]

Krisenkonstellationen

Im Mittelpunkt des preußischen Verfassungsstreits stand der Geltungsbereich der legislativen Funktion des Parlaments innerhalb einer konstitutionellen Monarchie. Dabei verband sich das Problem der königlichen Kommandogewalt mit dem Streit um das Budgetrecht. Eine entscheidende Frage war, wie weit die in der Verfas­sung von 1850 verbürgte gleichberechtigte Gesetzgebungskompetenz des Abge­ordne­tenhauses[19] reichte und ob sie sich auch auf den gesamten Bereich des Militär­we­sens erstreckte. Eine zweite Grundfrage lag darin, ob der Monarch bei einer parla­mentarischen Ablehnung des Budgets eigenständig Staatsausgaben tätigen durfte. Die preußische Verfassung, wie überhaupt das System der konsti­tutionellen Monarchie, sah für einen derartigen Konflikt in der legislativen Koope­ration be­kanntlich keine klare Lösung vor. Hier setzte die schon seit längerem entwickelte „Lückentheorie“[20] an, die von Bismarck aufgegriffen und als Grund­lage für ein den Verfassungskonflikt in die Länge ziehendes Notrecht des Königs eingesetzt wurde. Im Gegensatz zu der von den konservativen Ultras vertretenen Konfliktlösung durch einen Staatsstreich war damit zumindest der Anschein der Legalität gewahrt.

Das Abgeordnetenhaus stand dieser Situation, an der auch ein erneuter libera­ler Wahlerfolg im September 1863 nichts ändern konnte, relativ machtlos gegen­über. Bezeichnend ist die Klage des liberalen Historikers und Abgeordneten Hein­rich von Sybel im Mai 1863, dem Abgeordnetenhaus fehlten wirkungsvolle Mit­tel, um „Bismarck zu werfen“.[21] Die Budgetverweigerung als wichtigste Waffe der Parlamentsmehrheit bildete im Rahmen der preußischen Verfassung und unter der Herrschaft des monarchischen Prinzips letztlich ein Kampfmittel mit be­schränkter Wirksamkeit, welches nicht ausreichte, das Vorgehen von Monarch und Regie­rung als offenen Verfassungsbruch erscheinen zu lassen. Eine derartige Ent­wick­lung wiederum hätte möglicherweise den öffentlichen Druck zugunsten des Par­laments weiter gesteigert, wobei allerdings fraglich ist, inwieweit dies wirklich politische Folgen gehabt hätte. Trotz aller öffentlichen Adressen des Abgeordne­tenhauses und trotz aller zeitweise mit massiver Repression beantwor­teten Kritik liberaler Zeitungen an der Regierung gelang es nicht, zu einer wirk­lich breiten Mobilisierung der Öffentlichkeit zu kommen.[22] Auch die vereinzelt erwogene „Nie­derlegung des Mandats in Masse“ hätte hier vermutlich wenig bewirkt und wäre vielleicht sogar als Kapitulation aufgefasst worden.[23] Die ein­zige Möglich­keit, die blockierte Situation zu durchbrechen, hätte aber analog der französischen Julire­volution von 1830 vermutlich in einer das Parlament unter­stützenden revo­lutionä­ren Bewegung gelegen. Davon konnte freilich im Preußen der 1860er Jahre keine Rede sein, obgleich es manche liberale Spekulation[24] und zeitweise auch gewisse Befürchtungen Wilhelms I. gab.[25] Hinzu kam, dass seit Herbst 1863 die Zuspitzung der Schleswig-Holstein-Frage und dann die preu­ßisch-österreichische Konfronta­tion aus nationalpolitischen Gründen einen schar­fen Konfliktkurs der preußischen Liberalen kaum noch zuließen. Wenn das im Indemnitätsgesetz von 1866 nieder­gelegte Ergebnis des Budgetkonflikts schließ­lich nach außen hin eher ein Unent­schieden als eine Niederlage der Parlaments­mehrheit brachte, so lag dies im Wesentlichen an der innenpolitischen Strategie Bismarcks. Aus nationalpoliti­schen Motiven wollte dieser, sehr zum Unwillen vieler Ultrakonservativer, kei­neswegs hinter die Bedingungen des Konstitutiona­lismus zurück. Die umfassende legislative Mitwirkungskompetenz des Abgeord­netenhauses wurde so durch die budgetrecht­liche Indemnitätsvereinbarung im Prinzip bestätigt, ebenso aber auch ein Notrecht der Regierung sowie die Aus­nahmestellung der königlichen Kom­mandogewalt.[26]

Bei aller Bedeutung des legislativen Streitfalls darf nicht übersehen werden, dass es im preußischen Verfassungskonflikt phasenweise auch um einen Einstieg des Parlaments in die regierungstragende Funktion ging. De facto hatte es einen derartigen Ansatz bereits in der Paulskirche und auch in verschiedenen Länder­kammern der Revolutionszeit von 1848/49 gegeben[27], ohne dass dies freilich in den liberalen Verfassungsvorstellungen markante Spuren hinterlassen hätte. Bemer­kenswert an der Entwicklung während des preußischen Konflikts ist vor allem, dass sie sich zunächst in einer gewissen Eigendynamik und fast wider Willen der verfassungsrechtlich am Status quo orientierten Mehrheit des Abgeordnetenhauses eröffnete.[28] Indem diese in der Budgetfrage hart blieb, spitzte sich im Herbst 1862 die Lage derart zu, dass Wilhelm I. angesichts der wehrpolitischen Kompromissbe­reitschaft im bisherigen Ministerium Hohenlohe massiv mit der Abdankung drohte.[29] Der dann anstehende Thronwechsel zu dem mit der liberalen Opposition sympathisierenden Kronprinzen Friedrich Wilhelm (dem späteren Friedrich III.) hätte aller Voraussicht nach auch die Einsetzung einer liberalen Regierung zur Folge gehabt. Unabhängig von der Frage, wie ernst Wilhelm I. Mitte September 1862 seine Drohung wirklich meinte[30] – entscheidend war in dieser Situation, dass mit Bismarck ein überaus energischer Kandidat für das Amt des Ministerpräsiden­ten und für die Verteidigung der königlichen Prärogative bereitstand. Erst der Amtsantritt Bismarcks und der Übergang zur unnachgiebigen Politik der Lücken­theorie verhinderten eine mögliche Abdankung samt Regierungswechsel. „Der schärfste und letzte Bolzen der Reaktion von Gottes Gnaden“ – so zeitgenössisch August Ludwig von Rochau zur Berufung Bismarcks[31] – erwies sich als äußerst wirkungsvoll.

Sicher hätte eine Thronbesteigung Friedrich Wilhelms noch nicht die volle Parlamentarisierung Preußens bedeutet. Aber mit einem vom Abgeordnetenhaus ausgelösten Thronwechsel wäre ein spektakulärer Präzedenzfall für die parla­menta­rische Abberufung einer Regierung geschaffen worden. Darüber hinaus wäre die Installierung eines liberalen Ministeriums auch ein Vorbild für eine an den Mehr­heitsverhältnissen orientierte Regierungsbildung gewesen. Auch wenn die Mehrheit der Abgeordneten vermutlich noch keineswegs derart weitreichende Intentionen hatte[32], ging es hier letztlich um die von Bismarck gegenüber dem König beschwo­rene Alternative „königliches Regiment oder Parlamentsherr­schaft“.[33] Die in der Literatur verbreitete, oft jedoch sehr allgemein begründete These einer möglichen Parlamentarisierung Preußens kann sich ernsthaft nur auf diesen kurzen histori­schen Augenblick im Herbst 1862 beziehen. Auch ein Erfolg des Abgeordneten­hauses im legislativen und wehrpolitischen Konfliktfall wäre demgegenüber nur ein Schritt zur parlamentarischen Stärkung innerhalb der dua­listischen Gesetzgebung einer konstitutionellen Monarchie gewesen.

Seit dem Amtsantritt Bismarcks war wohl keine reelle Chance mehr für einen parlamentarisch beeinflussten Regierungswechsel gegeben. Dennoch konkreti­sierte sich angesichts des provokativen Bismarckschen Krisenkurses diese Option nun mit einer gewissen Verspätung im politischen Bewusstsein, wie bereits in der eben zitierten Äußerung Sybels anklang. So erhob die von einer breiten Mehrheit des Abgeordnetenhauses verabschiedete Adresse vom 22. Mai 1863 mit Blick auf die königliche Regierung die Forderung, „durch einen Wechsel der Personen, und mehr noch, durch einen Wechsel des Systems“ zu einer Krisenlösung zu gelan­gen.[34] Dieser im Frühjahr 1863 rhetorisch auf die Spitze getriebene Konflikt, in dem auch der Kronprinz vorsichtig Partei für die liberale Opposition ergriff[35], war freilich kaum mehr als ein Strohfeuer, zumal – wie eben bereits skizziert – das Abgeord­netenhaus über kein effektives Kampfmittel verfügte und auch jede revolutionäre Hilfestellung ausblieb. Im Laufe der weiteren Krise trat die Frage eines erzwunge­nen Regierungs- oder gar „System“-wechsels dann wieder in den Hintergrund. Der entscheidende Konfliktstoff für den preußischen Liberalismus blieb das legislative Problem, und da der König jetzt weder an Abdankung noch an eine Entlassung Bismarcks dachte, war jeder Ansatz zu einer Parlamentarisie­rung der Regierungs­verantwortung in weite Ferne gerückt.

Auch in der französischen Krise von 1877 lag ein struktureller Grundkonflikt zwischen Staatsoberhaupt und Parlament vor. Sehr ähnlich war teilweise auch das eingesetzte Konfliktinstrumentarium: Parlamentsvertagung und -auflösung, präsi­dentielle Kabinettsbildung und Staatsstreichdrohung auf der einen Seite, parla­mentarische Proteste und Verweigerung sowie Mobilisierung der Öffentlichkeit auf der anderen. Ganz anders gestaltete sich in Frankreich freilich die funktionale Konstellation der Verfassungskrise. Den Kern der Auseinandersetzung bildeten 1877 Sicherung und Ausbau der regierungstragenden Funktionder Abgeordneten­kammer. Die Verfassungsgesetze von 1875 hatten zwar die parlamentarische Ver­antwortlichkeit der Regierung vorgesehen und knüpften somit an eine Tradition der Verfassungspraxis an, die sich mit Unterbrechungen bis in die ersten Jahre der großen Revolution zurückverfolgen lässt und die ansatzweise die Restaurations­zeit und dann vor allem die Julimonarchie geprägt hatte.[36] Durch das Recht des Präsiden­ten zur Ministerernennung und durch die mögliche Auflösung der Abge­ordnetenkammer unter Mithilfe des Senats waren aber Gegengewichte eingebaut worden. Diese hätten – analog zu den Verhältnissen unter Ludwig XVIII. und vor allem unter Louis-Philippe – auch einer stärker präsidentiell geprägten Republik den Weg ebnen können, in der die Regierung in einer doppelten politischen Ver­antwortung gestanden hätte. Die regierungstragende Funktion der Abgeordneten­kammer wäre dabei in der Tradition des „orleanistischen“ Parlamentarismus durch den pouvoir personnel des Staatspräsidenten eingeschränkt worden.

In dieser offenen Situation kam es 1877 zur entscheidenden Kraftprobe: Im Mittelpunkt stand zunächst das Problem, inwiefern der Präsident der Republik eine Regierung zum Rücktritt veranlassen konnte, die das Vertrauen der Abgeord­ne­tenkammer besaß. Darüber hinaus ging es aber auch um grundsätzlichere Fra­gen. Mac Mahon hatte die Regierung Simon wegen ihrer Orientierung an der Kammer­mehrheit attackiert und damit seinen Willen zur Einflussnahme auf die Regierungs­politik unter Beweis gestellt. Indem er sofort ein der Parlamentsmehr­heit missliebi­ges Kabinett einsetzte, negierte er – wie es im Votum der Kammer vom 18. Juni gegen die Regierung de Broglie hieß – die „loi des majorités, qui est le principe des gouvernements parlementaires“.[37] Und indem er das Misstrauensvo­tum mit der Kammerauflösung sanktionierte, wandte er sich offen gegen das parlamentarische Recht zum Regierungssturz. Ähnlich wie in Preußen gewann der Konflikt so eine Eigendynamik, die rasch über die ursprüngliche Be­deutung hinausging. Während sich in Preußen eine unverhoffte parlamentaris­musgeschichtliche Entwicklungs­chance bot, standen in Frankreich plötzlich alle wesentlichen Aspekte der regie­rungstragenden parlamentarischen Funktion erneut zur Disposition.

Nachdem die Wahlen vom Oktober 1877 nicht zu der von Mac Mahon und seinem konservativen Umfeld angestrebten Wende geführt hatten, wurde die Krise nun insofern auch zum legislativen Konflikt, als die Kammermehrheit gegen­über der präsidentiellen Regierung Rochebouët jede Budgetbewilligung verweigerte. Da in der frühen Dritten Republik die volle und alleinige legislative Funktiondes Par­laments nicht mehr zur Debatte stand, und da die Verfassungsge­setze von 1875 keinerlei Spielraum für ein Notrecht der Regierung ließen, bildete die Budgetver­weigerung ein weitaus wirksameres Kampfmittel als in Preußen.[38] Ein Regieren ohne einen ordnungsgemäß verabschiedeten Haushalt wäre unter den gegebenen Verfassungsbedingungen und angesichts eines bereits hoch entwi­ckelten parla­mentarischen Selbstbewusstseins nur nach einem offenen Staats­streich und nach Ausrufung des Belagerungszustandes möglich gewesen. Nicht zuletzt auch dank der lebendigen Erinnerungen an den Konflikt von 1830[39] hätte dies den entschlosse­nen Widerstand der republikanischen Kräfte und damit ver­mutlich eine bürgerkriegsähnliche Situation hervorgerufen.[40] Das Anknüpfen an frühere verfas­sungspolitische Kämpfe und damit auch die implizite Drohung mit einer Wieder­holung der Julirevolution erwiesen sich somit als wertvolle Hilfe für die Kammer­mehrheit.

Unter diesen Umständen und infolge der ablehnenden Haltung des Senats gegenüber einer erneuten Kammerauflösung war Mac Mahon in der schwächeren Position. Dem Marschall blieb in der Tat nur die von Gambetta vor den Wahlen verkündete Alternative der Unterwerfung oder des Rücktritts[41] – es sei denn, er hätte sich auf eine höchst risikoreiche Eskalation eingelassen. Mit der Berufung der Regierung Dufaure schien Mac Mahon den praktischen Teil der Unterwerfung zu vollziehen, zumal sich das relativ bescheidene Bemühen, bei der Kabinettsbildung zumindest die präsidentiellen Reservatrechte der Besetzung des Kriegs-, Marine- und Außenministeriums zu wahren, als chancenlos erwies. Gleichzeitig gab der Präsident noch eine Garantieerklärung zur künftigen Beachtung der „parlamentari­schen Regeln“ ab und versicherte, das Instrument der Kammerauflösung solle kein „Regierungssystem“ begründen.[42] Der Versuch, der regierungstragenden Funktion der Abgeordnetenkammer analoge präsidentielle Kompetenzen gegenüberzustellen, war gescheitert.

Bei genauerer Betrachtung weist der Ausgang der Krise von 1877 allerdings auch eine gewisse Ambivalenz auf. Dass Mac Mahon immer noch Präsident der Republik war, erscheint nach den heftigen Angriffen, die in den zurückliegenden Monaten gegen ihn gerichtet worden waren, schon etwas überraschend. Des Weite­ren stellt sich die bislang nur unzureichend geklärte Frage, warum im Dezember 1877 nicht Gambetta, die dominante Gestalt innerhalb der parlamenta­rischen Mehrheit, zum président du Conseil berufen wurde. Eine derartige, für moderne parlamentarische Systeme charakteristische Verbindung von Mehrheits­führer und Ministerpräsident hatte sich während der Krisenmonate angebahnt. Adolphe Thiers, der erste Staatspräsident der Dritten Republik, galt trotz seines hohen Alters im republikanischen Lager als Favorit für die Nachfolge Mac Mahons. Als Kandidaten für das Amt des président du Conseil aber hatte der libe­ral-konserva­tive Patriarch Gambetta vorgesehen, der angesichts seiner radika­len Vergangenheit selbst kaum eine Chance auf das Amt des Staatspräsidenten be­saß.[43]

Drei Erklärungsansätze für die relative Schonung Mac Mahons und für die Wende in Sachen Ministerpräsidentschaft seien hier kurz angeführt. Zweifellos verschlechterte sich mit dem überraschenden Tod von Thiers im September 1877 auch die Aussicht auf eine Regierung Gambetta, und möglicherweise suchte der Sieger von 1877 diese mittelfristig dadurch wieder zu verbessern, indem er im Erfolg Mäßigung zeigte.[44] Zum Zweiten ist zu beachten, dass der Ausgang der Wahlen im Oktober 1877 keineswegs den von Gambetta vorausgesagten republi­kanischen Triumph bedeutet hatte. Zeitgenössisch wurde das Wahlergebnis, das im Vergleich zu 1876 sogar leichte republikanische Verluste brachte, eher als Signal zu einer Kompromisslösung im Konflikt zwischen Präsident und Kam­mermehrheit gedeutet.[45] Und zum Dritten sprachen auch die bevorstehende Weltaus­stellung 1878 in Paris und die gespannte internationale Lage während des russisch-türki­schen Krieges für einen „politischen Waffenstillstand“.[46] Auch in Frankreich scheint daher, wenn auch in geringerem Maße als in Preußen, ein ge­wisser nationaler Konsensdruck den Ausgang des Verfassungskonflikts beein­flusst zu haben.

Dass Gambetta die Ministerpräsidentschaft des 79jährigen, politisch auf der Rechten des republikanischen Spektrums beheimateten Dufaure sowie den in der politischen Mitte liegenden Schwerpunkt des Kabinetts[47] akzeptierte und damit auch ein vorläufiges Verweilen Mac Mahons im Amt begünstigte, lässt sich dem­nach als Zeichen des Entgegenkommens gegenüber dem Präsidenten und den hinter ihm stehenden konservativen Kräften interpretieren.[48] Statt auf einer vollstän­digen Unterwerfung des geschlagenen und durchaus rücktrittswilligen Marschalls zu bestehen, leistete die republikanische Führungsfigur damit einen entscheidenden Beitrag zur Bewahrung einer gewissen präsidentiellen Machtstel­lung.[49] Der große Konflikt um die regierungstragende Funktion der Abgeordneten­kammer hatte zwar zu einem deutlichen, allerdings nicht ganz vollständigen par­lamentarischen Sieg geführt.

Prägekraft

Der preußische Verfassungskonflikt und die französische Krise von 1877 konnten nicht zuletzt deshalb erhebliche Wirksamkeit entfalten, weil sie in nationalge­schichtlichen Übergangsphasen lagen und somit auf leicht formbare Verfassungs­verhältnisse trafen. Dies gilt zum einen für die staatsrechtliche Ebene. Die Verfas­sungskonstruktionen des Norddeutschen Bundes und des Deutschen Reichs waren maßgeblich vom Ergebnis des preußischen Konflikts mitbestimmt.[50] In Frankreich lagen die Verfassungsgesetze der Dritten Republik zwar bereits vor, doch setzte sich infolge der Krise von 1877 und der nachfolgenden Präsidentschaft Grévys eine spezifische und weitgehend verbindliche staatsrechtliche Interpretation der teil­weise ambivalenten Bestimmungen von 1875 durch. Indem beide Krisen in einem weiten Sinne zur Gründungsgeschichte des Deutschen Reiches und der französi­schen Dritten Republik gehörten und sich zudem mit den mythisch über­höhten Gründungsvätern Bismarck und Gambetta verbanden, kann man ihnen aber auch eine formative Bedeutung für das breite Feld der politischen Kultur und der politi­schen Mentalitäten zuschreiben. Einige wesentliche Perspektiven der vielfältigen Wirkungsgeschichte seien im Folgenden kurz umrissen.

Statt eines möglichen Einstiegs in die Parlamentarisierung brachte der preußi­sche Verfassungskonflikt letztlich eine Befestigung des Status quo der konstitutio­nellen preußischen Monarchie, die wenig später in einer föderalen und bonapar­tisti­schen Variante auf den neugegründeten Nationalstaat übertragen wurde.[51] An der unklaren legislativen Kompetenzabgrenzung änderte sich dabei wenig. In der Ver­fassung des Deutschen Reiches war die Frage, was im Falle eines Konflikts zwi­schen den an der Gesetzgebung beteiligten Instanzen Reichstag und Bundesrat zu tun wäre, keineswegs gelöst. Zudem bestanden das Prinzip der monarchischen Kommandogewalt sowie verschiedene militärpolitische Vorrechte der Krone im Bereich des Budgetrechts fort, wodurch die parlamentarischen Gesetzgebungs- und Kontrollrechte eingeschränkt wurden.[52]

Mindestens ebenso schwerwiegend aber waren in Deutschland die Auswirkun­gen auf die Entwicklung parlamentarischer Mentalitäten, jene politi­schen Disposi­tionen und Deutungsmuster innerhalb der Abgeordnetenschaft, deren Einfluss auf die parlamentarische Praxis kaum zu überschätzen ist. Die Erinnerung an den preußischen Verfassungskonflikt hat, dies sei hier als These formuliert, eine Tradi­tion der Zurückhaltung und Selbstbescheidung gefördert.[53] Diese Tradition hat wesentlich dazu beigetragen, dass es im Kaiserreich zu keiner – nach der Verfas­sungslage jederzeit möglichen – Wiederholung eines Budget­konflikts kam. Eine ernsthafte Entwicklung hin zur parlamentarischen Abberuf­barkeit der Regierung wurde so bis 1918 blockiert, und die Ausbildung eines par­lamentarischen Regie­rungslagers, die sich im Zuge der legislativen Koopera­tion ansatzweise ergab, blieb weit unter dem Niveau einer tatsächlich regierungs­tra­genden Funktion im parla­mentarischen System.[54] Die breite Bereitschaft zu einer gewissen Unterordnung unter die Regierung überdauerte schließlich auch den Systemwechsel von 1918/19 und war mitverantwortlich für den in der Wei­marer Republik schon früh einsetzen­den funktionalen Rückzug des Reichstags.[55] Diese im bürgerlichen Parteienspekt­rum verbreitete Mentalität, die sich zudem mit einer gewissen Diskreditierung parlamentarischer Opposition verband[56], war Teil jenes Sonderbewusstseins, das im Festhalten an der konstitutionellen Monarchie eine spezifisch deutsche Tugend zu erkennen meinte und das dann ab 1918 kaum Ver­ständnis für die Spielregeln eines vom pluralistischen Wettbewerb lebenden Sys­tems aufbringen konnte.

Dass die Krise von 1877 einen entscheidenden Schritt zur langfristigen Durch­setzung der parlamentarischen Republik in Frankreich bedeutet hat, steht außer Zweifel. Nach dem Rücktritt Mac Mahons Anfang 1879 und mit Beginn der Präsi­dentschaft Grévys fand dann die Übergangsphase der siebziger Jahre auch im Bereich der politischen Symbolik – Rückkehr der Kammern nach Paris, Anerken­nung der Marseillaise als Nationalhymne, Feier des 14. Juli – ihren Abschluss. In der Verfassungspraxis blieb die Stellung des Präsidenten der Republik fortan hin­ter den Möglichkeiten von 1875 zurück. Insbesondere die in den staatsrechtli­chen Kanon eingehende Tabuisierung der – theoretisch weiterhin möglichen – Kammer­auflösung hat eine nachhaltige Schwächung des Staatspräsidenten be­wirkt, der einer drohenden parlamentarischen Abberufung einer Regierung nichts mehr ent­gegensetzen konnte.[57] Gescheitert war aber vor allem auch der Versuch des Präsi­denten, unmittelbaren Einfluss auf die Regierungspolitik zu nehmen und im Zusammenwirken mit dem Senat selbst für den Rückzug eines Kabinetts zu sorgen. Die regierungstragende Funktion der Abgeordnetenkammer war damit, insbeson­dere was Stützung und Abberufung einer Regierung anbelangt, weitge­hend vor präsidentiellen Interventionen abgeschirmt. Gleichzeitig befestigte sich die politi­sche Vorrangstellung gegenüber dem Senat.[58]

Die übliche historische Interpretation sieht in diesem Erfolg der Abgeordne­tenkammer die Wendung zu einem „absoluten“ Parlamentarismus, was aus Per­spektive der Fünften Republik nicht selten als Zerstörung eines parlamentarisch-präsidentiellen Gleichgewichts gedeutet wird.[59] Unabhängig von den damit verbunde­nen Problemen der Bewertung bedarf diese Sicht jedoch der Relativie­rung. Wie bereits dargelegt, kann die Berufung Dufaures zum président du Conseil als gewisser Kompromiss in der Regierungsbildung verstanden werden. In der Folge war zwar ein politisch quer zu den Mehrheitsverhältnissen in der Kammer stehendes Kabinett ohne jede Überlebenschance. Der Einfluss des Staatspräsiden­ten auf die Regierungsbildung ging allerdings über eine sinnvolle Vermittlerrolle hinaus und blieb stark genug, bestimmte Personen von der Funktion des Minister­präsidenten fernzuhalten. Dies zeigte sich bereits 1879, als auch Mac Mahons Nachfolger Grévy eine Ministerpräsidentschaft Gambettas blockierte und den eher farblosen William Henri Waddington mit der Kabinettsbildung beauftragte. Und eine Reduzierung der verbleibenden verfassungsrechtlichen – insbesondere außen­politischen – Kompetenzen des Staatspräsidenten stand nach der Krise von 1877 ohnehin nicht zur Diskussion. So ist der vereinzelt in der Literatur zu findende Einwand durchaus berechtigt, wonach die Niederlage des Präsidenten 1877 kei­neswegs so vollständig war, wie dies auf den ersten Blick erscheint.[60] Im Rahmen der verbliebenen Möglichkeiten kam es dann im Laufe der weiteren Geschichte der Dritten Republik unter den Präsidenten Poincaré (1913–1920) und vor allem Millerand (1920–1924) auch zu zwei ernstzunehmenden Versuchen, die präsiden­tielle Rolle wieder deutlich aufzuwerten.[61]Eine auf die parlamentarisch-präsidentiellen Kräfteverhältnisse fixierte Inter­pretation übersieht zudem, dass die Disziplinierung des Regierungslagers eine wesentliche Voraussetzung für die Funktionsfähigkeit eines modernen parlamenta­rischen Systems bildet. Bekanntlich hielt sich in Frankreich, gefördert durch die mangelhafte Verfestigung politischer Parteien, bis in die Zeit zwischen den Welt­kriegen ein relativ starker Dualismus von Parlament und Regierung, der immer wieder zum Sturz von Kabinetten führte. Möglicherweise hätte die rechtzeitige Bildung eines alle republikanischen Nuancen einbeziehenden Ministeriums Gambetta eine Aufwertung des Amtes des Ministerpräsidenten bedeutet, diesem die Funktion eines parlamentarischen Mehrheitsführers zugeschrieben und so zu einer engeren Verklammerung von Regierung und Regierungsmehrheit beigetra­gen. Dies wiederum hätte auch einen Anstoß zur Straffung des republikanischen Spektrums bilden können.[62] Ob ein derartiges Vorbild tatsächlich langfristige Verän­derungen nach sich gezogen hätte, lässt sich schwer abschätzen. Zweifellos aber wäre nun ein gewichtiger Präzedenzfall gegeben gewesen. In der Literatur wird in diesem Zusammenhang üblicherweise auf die versäumte Gelegenheit des Jahres 1879 verwiesen, als Grévy nicht Gambetta, sondern Waddington zum Ministerpräsidenten berief.[63] Dagegen sei hier betont, dass die Chance wohl bereits 1877 verstrichen ist, als Gambettas Popularität noch die Konkurrenz innerhalb des republikanischen Lagers überstrahlte. Statt seine politische Führungskraft als président du Conseil zur Geltung zu bringen, spielte Gambetta nun an der Spitze der Budgetkommission die seltsame Rolle einer grauen Eminenz neben der Regie­rung Dufaure.[64]

Insofern bot die Krise von 1877 für einen wesentlichen Teilaspekt der regie­rungstragenden Funktion, nämlich die Kooperation der Regierung mit einem fes­ten parlamentarischen Regierungslager, keinen zukunftsweisenden Impuls. Wäh­rend so 1877 das präsidentielle Disziplinierungsmittel der Kammerauflösung politisch diskreditiert wurde, blieb der Einstieg in einen gleichsam endogen dis­ziplinierten Parlamentarismus aus. Letzteres war für die erstaunliche Langlebig­keit, mit der sich in der Dritten Republik das für den klassischen Parlamentaris­mus charakteristi­sche Spiel fluktuierender Regierungsmehrheiten und häufig wechselnder Kabinette halten konnte, wohl mindestens ebenso bedeutsam wie die in der Literatur stets angeführte politische Ächtung der Kammerauflösung.

Auf einer elementaren mentalitätsgeschichtlichen Ebene hat das als Sieg der Abgeordnetenkammer empfundene Krisenergebnis zweifellos zur weiteren Festi­gung des Selbstbewusstseins insbesondere im linksrepublikanischen Lager beige­tragen. Wie stark der mentale Bezug zum Verfassungskampf von 1877 noch in der Zeit zwischen den Weltkriegen war, zeigt der Konflikt zwischen der linken Kam­mermehrheit von 1924 und Staatspräsident Millerand.[65] Dessen Versuche, gleich­sam hinter das Jahr 1877 zurückzugehen, sich als aktiven Teil des Regie­rungsla­gers zu begreifen und die Kabinette in eine politische Verantwortung gegenüber dem Präsidenten zu zwingen, wurde von den Parteien des Cartel des Gauches nach ihrem Wahlerfolg unerbittlich sanktioniert. In Anlehnung an den Konfliktkurs Gambettas verweigerte sich die neue Mehrheit jeder politischen Koo­peration, bis Millerand schließlich zurücktrat. Erst jetzt war die verfassungs­politische Ambiva­lenz, die 1877 noch geblieben war, beseitigt und das Machtpo­tential des Staatsprä­sidenten nahezu vollständig entleert.

Resümee

Der preußische Konflikt von 1862–66 und die französische Krise von 1877 lassen sich als Ausprägungen eines langwierigen und in seinen Grundzügen in weiten Teilen Europas erkennbaren Verfassungskonflikts begreifen: Auf der einen Seite stand die Staatsform der konstitutionellen Monarchie bzw. das mit ihr ver­wandte republikanische Präsidialsystem, auf der anderen das aufkommende parla­mentarische Regierungssystem. Trotz mancher äußerlichen Ähnlichkeit trugen beide Krisen im Kern aber eine sehr unterschiedliche funktionale Konfliktvertei­lung in sich, die von den jeweiligen nationalen Verfassungsbedingungen und da­mit auch von den bisherigen parlamentarischen Entwicklungen und Erfahrungen abhängig war.

In der konstitutionellen Monarchie Preußens stand die kooperative legislative Funktion des Abgeordnetenhauses im Mittelpunkt des Verfassungsstreits. Nur ansatzweise kam auch die Möglichkeit eines politisch erzwungenen Thronwech­sels sowie einer Regierungsbildung im Sinne der Parlamentsmehrheit mit ins Spiel, was einen Einstieg in die regierungstragende Funktion des Parlaments be­deutet hätte. Diese eventuelle Entwicklung zu einem Präzedenzfall ist aber durch­aus ernst zu nehmen, auch wenn die verfassungspolitischen Vorstellungen der Liberalen meist hinter einer derartigen Wendung zurückblieben. Entscheidend für das Scheitern der unverhofften Parlamentarisierungschance wurde das ent­schlos­sene Auftreten Bismarcks. Weniger eindeutig war das Ergebnis im legislati­ven Konflikt, der eine Bestätigung des konstitutionellen Gesetzgebungsdualismus einschließlich der be­stehenden monarchischen Prärogative brachte. Alles in allem kam es so in Preußen und infolge des preußisch dominierten nationalen Eini­gungsprozesses auch in ganz Deutschland zu einer Befestigung der konstitutio­nellen Monarchie.

In Frankreich, das sich seit 1870/71 in Wiederaufnahme eigener Traditionen bereits stark dem System einer parlamentarischen Demokratie angenähert hatte, ging es primär um Sicherung und Ausbau der regierungstragenden Funktion der Abgeordnetenkammer. Da die volle parlamentarische Gesetzgebungskompetenz unbestritten war, bildete die – in Preußen relativ stumpfe – Waffe der Budgetver­weigerung ein wirkungsvolles Druckmittel. Der legislative Konflikt stand hier gleichsam im Dienste der Kammermehrheit. Zudem gab die lebendige Erinnerung an den Verfassungskonflikt von 1829/30 dem republikanischen Lager ein Beispiel parlamentarischer Durchsetzungsfähigkeit. Der Versuch Mac Mahons, nach dem Muster des orleanistischen Parlamentarismus eine doppelte Verantwortlichkeit des Kabinetts zu etablieren, konnte so unter der tatkräftigen Führung Gambettas unter­bunden werden.

Nach dem Maßstab einer vollen regierungstragenden Funktion des Parla­ments, wie sie in England bereits entwickelt war, blieb freilich in Frankreich ein nicht unbedeutender Rest an präsidentiellem Einfluss auf die Regierungsbildung. Dies trug mit dazu bei, dass 1877 und 1879 eine Ministerpräsidentschaft des par­lamen­tarischen Mehrheitsführers Gambetta verhindert wurde. Damit aber ver­strich die Chance für einen Präzedenzfall zur Stärkung des président du Con­seil und für eine engere Verbindung von Kabinett und Kammermehrheit. Von einer konstanten Stützung der Regierung durch ein parlamentarisches Regie­rungslager konnte wei­terhin keine Rede sein. Statt dessen blieb der Parlamenta­rismus der Dritten Repu­blik, wie bereits jener der Julimonarchie, von schwanken­den Mehr­heiten und von einem relativ starken Dualismus zwischen Regierung und Parla­ment geprägt, wobei sich das funktionale Selbstverständnis der Abgeordne­ten­kammer weitgehend auf Gesetzgebung und Kontrolle beschränkte. Auch die fran­zösische Parlamentaris­musgeschichte zeigt daher, trotz des insgesamt klaren parlamentarischen Erfolgs von 1877, welch hohes Maß an Beharrungskraft ein­zelne Elemente des monarchi­schen Konstitutionalismus noch besaßen.[66] Hier von einem „absoluten Parlamentaris­mus“ zu sprechen, wie im Hinblick auf den ge­schwächten Präsidenten in der französischen Literatur weithin üblich, ist irrefüh­rend. Letztlich bleibt eine derartige Vorstellung einem Modell strikter Gewalten­teilung sowie einem ver­meintlich notwendigen Gleichgewicht von Parlament und Präsident verhaftet und verkennt, dass ein modernes parlamentarisches System im Normalfall über ein diszipliniertes Regierungslager zu einem wirkungsvollen Mechanismus der internen Stabilisierung findet.

An der Schwelle zur industriegesellschaftlichen Moderne erfolgten in den sechziger und siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts in Deutschland und Frank­reich konträre parlamentarismusgeschichtliche Weichenstellungen, die in Fortfüh­rung nationaler Traditionen auf eine Vergrößerung und auf eine Verfestigung der deutsch-französischen Differenz im politischen System hinausliefen. Weitet man hier den Blick auf den europäischen Kontext, dann erscheint die parlamentarische Entwicklung Frankreichs als markanter und windungsreicher „Eigenweg“. Dieser Weg verlief mühseliger als beim englischen Vorbild, blieb im Hinblick auf die allmähliche Parlamentarisierung der Regierungsverantwortung allerdings im west­europäischen Rahmen.[67] Die 1877 in Frankreich stabilisierte Spielart des parlamenta­rischen Systems erwies sich dann über Jahrzehnte hinweg als durchaus erfolgreich, und auch in der krisenhaften Zwischenkriegszeit war sie noch relativ tragfähig. Erst die Erfahrung des Zusammenbruchs von 1940 und die Probleme der Vierten Republik erschütterten die seit den siebziger Jahren des 19. Jahrhun­derts nicht entscheidend modernisierte parlamentarische Praxis Frankreichs so nachhal­tig, dass schließlich 1958 ein – bereits zu Beginn der Dritten Republik mögliches – parlamentarisch-präsidentielles Mischsystem Verfassungsrealität wur­de.

Für die preußisch-deutsche Parlamentarismusgeschichte hingegen lässt sich spätestens ab dem preußischen Verfassungskonflikt von einem Sonderweg spre­chen.[68] Legt man den von der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung her naheliegenden westlichen Maßstab an, dann bildeten das lange Ausbleiben einer Parlamentarisierung und das lange Festhalten an der konstitutionellen Monarchie eine sehr deutliche Differenz zu England, Frankreich sowie zu den anderen west- und auch nordeuropäischen Staaten.[69] Als 1918 das Ende dieses Weges erreicht war, musste sich die in theoretischer Auseinandersetzung mit den westlichen Par­lamentarismusmodellen begründete[70] und nur schwach in nationalen Traditionen verankerte Weimarer Republik gegen die Prägekraft einer langlebigen und vielfach als nationales Charakteristikum verstandenen kon­sti­tu­tio­nellen Monarchie behaup­ten. Gerade im vergleichenden Blick auf die mühevollen Kämpfe, die das parla­mentarische System in Frankreich zu bestehen hatte, er­scheint diese verfassungs­politische Ausgangslage – unabhängig von allen sonsti­gen Belastungsfaktoren – als extrem schwierig.



[1] Eine parlamentarismusgeschichtliche Darstellung des preußischen Verfassungskonflikts steht immer noch aus, der entsprechende Band des „Handbuchs der Geschichte des deut­schen Par­lamentarismus“ liegt noch nicht vor. Vgl. allgemein vor allem Anderson, Eugene N., The Social and Political Conflict in Prussia 1858–1864 (University of Nebraska Studies, N.F., Bd. 12), Lincoln 1954; Hess, Adalbert, Das Parlament, das Bismarck widerstrebte. Zur Politik und sozialen Zusammensetzung des preußischen Abgeordnetenhauses der Konflikts­zeit (1862–1866) (Politische Forschungen, Bd. 6), Köln 1964; aus den zahlreichen Hand­buchdar­stellungen vgl. vor allem Nipperdey, Thomas, Deutsche Geschichte 1800–1866. Bürgerwelt und starker Staat, München 1983, S. 749–768, 795-797; Huber, Ernst Rudolf, Deutsche Ver­fassungsgeschichte seit 1789, Bd. 3: Bismarck und das Reich, 3. Aufl., Stutt­gart 1988 (verb.), S. 275–369; Schulze, Hagen, Preußen von 1850 bis 1871. Verfassungs­staat und Reichsgrün­dung, in: Büsch, Otto (Hg.), Handbuch der preußischen Geschichte, Bd. 2: Das 19. Jahrhun­dert und große Themen der Geschichte Preußens, Berlin 1992, S. 293–372; Wehler, Hans-Ulrich, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 3: Von der „Deut­schen Doppelrevolution“ bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges. 1849–1914, München 1995, S. 251–301; aus der Bis­marck-Literatur vgl. vor allem Gall, Lothar, Bismarck. Der weiße Revolutionär, Frankfurt am Main 1980, S. 199–380; Pflanze, Otto, Bismarck. Der Reichsgründer, München 1997 (zuerst englisch 1990), S. 171–340. Zur Krise von 1877 vgl. vor allem Pisani-Ferry, Fresnette, Le coup d’État manqué du 16 mai 1877, Paris 1965; Broglie, Gabriel de, Mac Mahon, [Paris] 2000, S. 309–416; aus den Überblicksdarstellungen zur frühen Dritten Republik vgl. vor allem Mayeur, Jean-Marie, Les débuts de la Troisième République. 1871–1898 (Nouvelle his­toire de la France contemporaine, Bd. 10), Paris 1973, S. 26–54; Rudelle, Odile, La Répu­bli­que absolue. Aux origines de l’instabilité constitution­nelle de la France républicaine. 1870–1889 (Publications de la Sorbonne, Série France XIXe–XXe siècles, Bd. 14), Paris 1982, S. 47–64; Grévy, Jérôme, La République des oppor­tunistes. 1870–1885, [Paris] 1998, S. 239–263; detailliert und immer noch hilfreich: Hano­taux, Gabriel, Histoire de la France contempo­raine (1871–1900), Bd. 4: La République par­lementaire, Paris [1908]; zum Verlauf auch L’Année politique 4 (1877), Paris 1878.

[2] In der Forschung findet sich ein derartiger Vergleich bislang nur punktuell; so bei Kirsch, Martin, Monarch und Parlament im 19. Jahrhundert. Der monarchische Konstitutionalismus als europäischer Verfassungstyp – Frankreich im Vergleich (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, Bd. 150), Göttingen 1999, S. 382.

[3] Zu den parlamentarismusgeschichtlichen Grundlagen vgl. Grünthal, Günther, Parlamentaris­mus in Preußen 1848/49–1857/58. Preußischer Konstitutionalismus – Parla­ment und Regie­rung in der Reaktionsära (Handbuch der Geschichte des deutschen Parla­mentarismus), Düs­seldorf 1982.

[4] Am 30.09.1862 vor der Budgetkommission des Abgeordnetenhauses: „[...] nicht durch Reden und Majoritätsbeschlüsse werden die großen Fragen der Zeit entschieden – das ist der große Fehler von 1848 und 1849 gewesen – sondern durch Eisen und Blut.“ Zit. n. Schlum­bohm, Jürgen (Hg.), Der Verfassungskonflikt in Preußen 1862–1866 (Historische Texte, Neuzeit, Bd. 10) Göttingen 1970, Nr. 5, S. 25.

[5] Gesetze vom 24.02., 25.02. und 16.07.1875. Abdruck z.B. in: Duverger, Maurice (Hg.), Constitutions et documents politiques, 12. Aufl., Paris 1989, S. 170–174.

[6] Der moderne Begriff der cohabitation wird von Broglie (Anm. 1) verwendet, wobei der Autor zwischen einer cohabitation douce (1876–77) und einer cohabitation dure (1877–79) unter­scheidet.

[7] Abdruck des Briefes z.B. in Année politique (Anm. 1), S. 146f. Der Rücktritt wurde Simon in einer nachfolgenden Unterredung nahegelegt. Zur Vorgeschichte vgl. auch Bertocci, Phi­lip A., Jules Simon. Republican Anticlericalism and Cultural Politics in France, 1848–1886, Columbia 1978, S. 189f.

[8] So heißt es in dem Brief an Simon: „Une explication à cet égard est indispensable ; car si je ne suis pas responsable, comme vous, envers le parlement, j’ai une responsabilité envers la France dont, aujourd’hui plus que jamais, je dois me préoccuper.“ Zit. n. Année politique (Anm. 1), S. 147. Art. 6 des Gesetzes vom 25.02.1875 legte fest: „Le président de la Répu­bli­que n’est responsable que dans le cas de haute trahison.“

[9] Zur republikanischen Kooperation sowie zur Rolle Gambettas vgl. vor allem Grévy (Anm. 1), S. 248–255, sowie Mollenhauer, Daniel, Auf der Suche nach der „wahren Repu­blik“. Die französischen radicaux in der frühen Dritten Republik (1870–1890) (Pariser Historische Stu­dien, Bd. 46), Bonn 1997, S.111–114. Grundlegend zum Fraktionswesen: Hudemann, Rainer, Fraktionsbildung im französischen Parlament. Zur Entwicklung des Parteiensystems in der frühen Dritten Republik (1871–1875) (Beihefte der Francia, Bd. 8), München 1979.

[10] Art. 5 des Gesetzes vom 25.02.1875. Zum Instrument der Kammerauflösung 1877 vgl. auch Albertini, Pierre, Le droit de dissolution et les systèmes constitutionnels français (Publica­tions de l’Université de Rouen, Bd. 43), Paris 1977, S. 285–291.

[11] Insofern kann auch von der Constitution Grévy gesprochen werden; so Prélot, Marcel; Boulouis, Jean, Institutions politiques et droit constitutionnel, 11ème éd., Paris 1990, S. 493–495. 1848 hatte sich Grévy vehement gegen ein Präsidentenamt eingesetzt.

[12] Vgl. Kirsch (Anm. 2), S. 349–363. Allerdings zeigen sich auch bei diesem Vergleich erhebli­che funktionale Differenzen.

[13] Die Unterscheidung zwischen Monarch einer konstitutionellen Monarchie und Präsident einer Republik ist hier eher sekundär; vgl. allgemein zur Analogie von konstitutioneller Monarchie und präsidentiellem Regierungssystem Steffani, Winfried, Parlamentarische und präsiden­tielle Demokratie. Strukturelle Aspekte westlicher Demokratien, Opladen 1979, S. 42–44.

[14] Bagehot, Walter, The English Constitution, in: St. John-Stevas, Norman (Hg.), The Collec­ted Works of Walter Bagehot, Bd. 5, London 1974, S. 203–409 (zuerst 1867), deutsch: Ders., Die englische Verfassung, hg. von Klaus Streifthau, Neuwied 1971. Neben den für den parlamen­tarischen Betrieb essentiellen Funktionen hat Bagehot diverse kommunikative Funktionen im Hinblick auf die Beziehungen zwischen Parlament und Gesellschaft definiert. Bislang liegt in der Politikwissenschaft keine anerkannte funktionale Terminologie vor, vielmehr finden sich zahlreiche Varianten. Zu einer funktionalen Parlamentarismusanalyse vgl. auch Raithel, Thomas, Parlamentarisches System in der Weimarer Republik und in der Dritten Fran­zö­si­schen Republik, 1919–1933/40. Ein funktionaler Vergleich, in: Möller, Horst; Kittel, Manfred (Hg.), Demokratie in Deutschland und Frankreich 1918–1933/40. Beiträge zu einem histori­schen Vergleich, München 2002, S. 283–314.

[15] Bagehot (Anm. 14) fasst diese beiden Aufgaben unter dem Begriff elective function.

[16] In Anlehnung an Steffani (Anm. 13), vor allem S. 39f., sehe ich in der parlamentarischen Abberufbarkeit der Regierung das entscheidende Merkmal zur Definition des parlamentari­schen Systems.

[17] Dies gilt auch für die Literaturhinweise.

[18] Zur vielbeachteten preußisch-deutschen Parteiengeschichte vgl. vor allem Winkler, Heinrich August, Preußischer Liberalismus und deutscher Nationalstaat. Studien zur Geschichte der Deutschen Fortschrittspartei 1861–1866 (Tübinger Studien zur Geschichte und Politik, Bd. 17), Tübingen 1964; Stalmann, Volker, Die Partei Bismarcks. Die Deutsche Reichs- und Freikonservative Partei 1866–1890 (Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, Bd. 121), Düsseldorf 2000, besonders S. 27–69. Zur Rückwirkung auf die großen politischen Tendenzen Frankreichs – von Parteien im deutschen Sinne kann noch nicht die Rede sein – vgl. vor allem Winock, Michel, La fièvre hexagonale. Les grandes cri­ses politiques de 1871 à 1968, Paris 1986, S. 82–88, ferner Anm. 62 unten sowie zum Ein­fluss auf die Radicaux Mollenhauer (Anm. 9).

[19] Art. 62 der Verfassung vom 31.01.1850: „Die gesetzgebende Gewalt wird gemeinschaftlich durch den König und durch zwei Kammern ausgeübt. Die Uebereinstimmung des Königs und beider Kammern ist zu jedem Gesetze erforderlich. [...]“ Zit. n. Huber, Ernst Rudolf (Hg.), Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte, Bd. 1: Deutsche Verfassungsdoku­mente 1803–1850, 3. Aufl., Stuttgart 1978, Nr. 194, S. 507.

[20] Zur Herkunft vgl. Kraus, Hans-Christof, Ursprung und Genese der „Lückentheorie“ im preußischen Verfassungskonflikt, in: Der Staat 29 (1990), S. 209–234; mit anderen Akzen­ten der Bewertung: Becker, Winfried, Die angebliche Lücke der Gesetzgebung im preußi­schen Verfassungskonflikt, in: Historisches Jahrbuch 100 (1980), S. 257–285.

[21] Brief an Hermann Baumgarten vom 09.05.1863, in: Schlumbohm (Anm. 4), Nr. 10, S. 36. Sybel gehörte der Fraktion des „linken Zentrums“ an. Allgemein zur Haltung Sybels und Baumgartens vgl. Iggers, Georg G., Deutsche Geschichtswissenschaft. Eine Kritik der tradi­ti­onellen Geschichtsauffassung von Herder bis zur Gegenwart, 3. Aufl., München 1976, S. 152–162.

[22] Zu den diesbezüglichen Problemen vgl. auch Parent, Thomas, ‚Passiver Widerstand‘ im preußischen Verfassungskonflikt. Die Kölner Abgeordnetenfeste (Kölner Schriften zu Geschich­te und Kultur, Bd. 1), Köln 1982.

[23] Die zitierte Forderung stammt von dem Abgeordneten Heinrich Beitzke am 12.05.1863 in einem Brief an seine Frau, in: Conrad, Horst (Hg.), Ein Gegner Bismarcks. Dokumente zur Neuen Ära und zum preußischen Verfassungskonflikt aus dem Nachlaß des Abgeordneten Heinrich Beitzke (1798–1867) (Westfälische Quellen und Archivpublikationen, Bd. 18), Münster 1994, S. 283. Ähnlich fragwürdig erscheint Lassalles Eintreten für eine totale par­la­mentarische Obstruktion. Vgl. Oncken, Hermann, Lassalle. Zwischen Marx und Bismarck, 5. neubearb. Aufl., Stuttgart 1966, S. 216–219. Gegen einen Steuerstreik sprachen die nega­tiven Erfahrungen aus dem Jahr 1848. Vgl. Schwabe, Klaus, Das Indemnitätsgesetz vom 3. September 1866 – eine Niederlage des deutschen Liberalismus?, in: Bodensieck, Heinrich (Hg.), Preußen, Deutschland und der Westen. Auseinandersetzungen und Beziehungen seit 1789. Zum 70. Geburtstag von Prof. Dr. Oswald Hauser, Göttingen 1980, S. 83–102, hier S. 96f. Der Versuch der Parlamentsmehrheit, sich 1863 über ein Gesetz zur juristischen Ministerverantwortlichkeit ein weiteres Kampfmittel zuzulegen, hatte wegen der unerreichba­ren Zustimmung von Krone und Herrenhaus nur symbolische Bedeutung. Vgl. Huber (Anm. 1), S. 312f.

[24] So meinte Baumgarten im Herbst 1862 gegenüber Sybel, Menschen wie Bismarck müsse „man zittern machen. Man muß ihm die lebendige Besorgnis erregen, daß sie eines Tages wie tolle Hunde totgeschlagen werden.“ Zit. n. Wehler (Anm. 1), S. 273. Nach einer von Treue, Wilhelm, Wollte König Wilhelm I. zurücktreten?, in: Forschungen zur Brandenbur­gischen und Preußischen Geschichte 51 (1939), S. 275–310, hier S. 308, wiedergegebenen Äußerung Wilhelms vom 12.05.1862 hatten es „unzählige Wahlreden [...] nicht verschmäht, auf Carl I. und Louis XIV. hinzuweisen, die es nicht vermocht hätten, dem Willen des Par­laments nach­zugeben.“ Eine ernsthafte revolutionäre Agitation fand jedoch nicht statt, wo­bei sich die Ein­sicht in die mangelnde Erfolgschance mit einer Legalitätstaktik, aber auch mit der Furcht vor einer bonapartistischen Strategie Bismarcks verbanden, vgl. Schwabe (Anm. 23), S. 96f.

[25] Etwa im Gespräch mit Bismarck, nachdem Wilhelm I. Ende September 1862 „in gedrückter Stimmung“ aus Baden-Baden zurückgekehrt war: „Ich sehe ganz genau voraus, wie das Alles endigen wird. Da vor dem Opernplatz unter meinen Fenstern, wird man Ihnen den Kopf ab­schlagen und etwas später mir.“ Dazu Bismarck: „Ich errieth, und es ist mir später von Zeu­gen bestätigt worden, daß er während des achttägigen Aufenthalts in Baden mit Variationen über das Thema Polignac, Strafford, Ludwig XVI. bearbeitet worden war.“ Bis­marck, Otto von, Erinnerung und Gedanke, kritische Neuausgabe auf Grund des gesamten schriftlichen Nach­lasses von Gerhard Ritter und Rudolf Stadelmann (Otto von Bismarck, Die gesammelten Werke, Bd. 15), Berlin 1932, S. 194. Weitere Belege für derartige Gedan­ken bei Wilhelm I. liefert Treue (Anm. 24), S. 308.

[26] Indem das Indemnitätsgesetz lediglich eine budget- und keine wehrrechtliche Indemnität gewährte, blieb die Kommandogewalt unangetastet. Vgl. Huber (Anm. 1), S. 363–365.

[27] Vgl. vor allem Botzenhart, Manfred, Deutscher Parlamentarismus in der Revolutionszeit 1848–1850 (Handbuch der Geschichte des deutschen Parlamentarismus), Düsseldorf 1977; Siemann, Wolfram, Die deutsche Revolution von 1848/49, Frankfurt am Main 1985, S. 135.

[28] Zu den verfassungspolitischen Vorstellungen der Liberalen vgl. insbesondere Hess (Anm. 1), S. 36–50; Schwabe (Anm. 23), S. 86–90; sowie Helfert, Rolf, Die Taktik preußischer Libe­ra­ler von 1858 bis 1862, in: Militärgeschichtliche Mitteilungen 53 (1994), S. 33–47.

[29] Text der bereits aufgesetzten Abdankungsurkunde in Huber, Ernst Rudolf (Hg.), Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte, Bd. 2: Deutsche Verfassungsdokumente 1851–1918, Stuttgart 1964, Nr. 43, S. 40f.

[30] Treue (Anm. 24) geht für September 1862 nicht von einer wirklichen Rücktrittsabsicht aus. Allerdings wird gerade bei Treue sehr deutlich, dass der entscheidende Ausweg für den König die Berufung Bismarcks war.

[31] In der Wochenschrift des Nationalvereins, zit. n. Rürup, Reinhard, Deutschland im 19. Jahrhun­dert. 1815–1871 (Deutsche Geschichte, hg. von Joachim Leuschner, Bd. 8), Göttin­gen 1984, S. 219f.

[32] Vgl. Anm. 28.

[33] So in Erinnerung und Gedanke (Anm. 25), S. 179, bezogen auf das Gespräch mit Wilhelm I. am 18.09.1862: „Es gelang mir, ihn zu überzeugen, daß es sich für ihn nicht um Conserva­tiv oder Liberal in dieser oder jener Schattirung, sondern um ein Königliches Regiment oder Parlamentsherrschaft handle und daß die letztere notwendig und auch durch eine Periode der Dictatur abzuwenden sei.“ Im Gegensatz zu den Liberalen wurde diese Alternative bei den Verteidigern der königlichen Vorrechte scharf kontrastiert.

[34] Zit. n. Huber, Dokumente 2 (Anm. 29), Nr. 58, S. 62. Weiterer Beleg für die auch in der Öffentlichkeit verbreitete Forderung nach Abberufung der Regierung z.B. in Biefang, And­reas (Bearb.), Der Deutsche Nationalverein 1859–1867. Vorstands- und Aus­schuß­pro­to­kolle, Düs­seldorf 1995, Nr. 44: Ausschußsitzung vom 17.05.1863, S. 239.

[35] Friedrich trat für die Entlassung Bismarcks und für ein altliberales Ministerium ein. Hierzu im Detail: Meisner, Heinrich Otto, Der preußische Kronprinz im Verfassungskampf 1863, Berlin 1931.

[36] Vgl. Barthélemy, Joseph, L’introduction du régime parlementaire en France sous Louis XVIII et Charles X, Paris 1904 (Nachdruck Genf 1977); Beyme, Klaus von, Die parlamenta­rischen Regierungssysteme in Europa, 2. Aufl., München 1973, S. 75–121; Rosanvallon, Pierre, La monarchie impossible. Les Chartes de 1814 et de 1830, [Paris] 1994, S. 65–181.

[37] Zit. n. Année politique (Anm. 1), S. 210.

[38] Zur Bedeutung vgl. auch Le Temps, 16.12.1877, S. 1, zum „triomphe de la majorité républi­caine“: „Ce qui en accroît singulièrement la signification, c’est qu’il a été obtenu sans au­cune tentative ni manifestation extralégale d’aucune sorte; [...]. La Chambre s’est contentée de tenir en réserve l’arme suprême que la Constitution lui fournit – par cela seul qu’elle a attendu, pour vôter le budget, la résipiscence du pouvoir exécutif, elle a désarmé peu à peu toutes les résistances, découragé tous les mauvais desseins.“

[39] So zog Gambetta am 16.06. in der Kammer mit Blick auf die zu erwartende Auflösung den Vergleich mit der Situation von 1830, als 221 Abgeordnete dem König das Recht bestritten hatten, Minister zu ernennen: „En 1830 on est parti 221 et on est revenu 270. J’affirme que, partant 363, nous reviendrons 400.“ Zit. n. Année politique (Anm. 1), S. 195. Die „Wieder­wahl der 363“ wurde zur Parole des republikanischen Wahlkampfes. Zum Wahlergebnis vgl. unten Anm. 45. Zur Krisenwahrnehmung gehörte auch eine Gleichsetzung von Mac Mahon mit Karl X. und der Regierung de Broglie mit der Regierung Polignac.

[40] Zu den Kontakten Gambettas mit Teilen der Generalität und zu militärischen Vorbereitun­gen vgl. Grévy (Anm. 1), S. 251, sowie Bury, John P. T., Gambetta and the Making of the Third Republic, London 1973, S. 456–458.

[41] Gambetta am 15.08.1877 in Lille: „Quand la France aura fait entendre sa voix souveraine, croyez-le bien, Messieurs, il faudra se soumettre ou se démettre.“ Zit. n. Duverger (Anm. 5), S. 500.

[42] Abdruck der Erklärung z.B. in: Année politique (Anm. 1), S. 402f.

[43] Wichtigste Quelle für die geplante Ministerpräsidentschaft Gambettas ist Adam, Juliette, Après l’abandon de la Revanche, Paris 1910, S. 39f. Grévy (Anm. 1), S. 245, zitiert ergän­zend einen Brief von Eugène Spuller an den elsässischen Senator Auguste Scheurer-Kestner. Gambetta selbst äußerte sich am 20.08.1877 in einem Brief an Arthur Ranc, wobei aller­dings nicht vollständig klar ist, ob er sich selbst als Kabinettschef sah. Nach dem erwarteten Ab­gang Mac Mahons gelte es: „[...] organiser un fort ministère, comprenant des représen­tants des quatre nuances (des republikanischen Lagers, Th.R.).“ Halévy, Daniel; Pillias, Emile (Hg.), Lettres de Gambetta 1868–1882, Paris 1938, Nr. 327 (ohne Seitenzahl). In der Literatur wird die geplante Ämterverteilung zwischen Thiers und Gambetta meist nur knapp erwähnt, ohne dieser Frage größere Bedeutung zuzumessen.

[44] Vgl. auch Gambettas Verhalten Anfang Januar 1878, als er bei einem Treffen republikani­scher Abgeordneter gegen weitere Rücktrittsforderungen an die Adresse Mac Mahons auf­trat, zur Geduld riet und sich selbst als „homme de gouvernement et non d’opposition“ be­zeich­nete. Nach Grévy (Anm. 1), S. 260.

[45] Von den gewählten 516 Abgeordneten waren 317 als „republikanische“ und 199 als „offi­zielle“ Kandidaten angetreten. Die von Gambetta prognostizierte Steigerung von 363 auf 400 republikanische Mandate (s. auch Anm. 39) war demnach deutlich verfehlt worden. Zur zeit­genössischen Bewertung vgl. z.B. einen Informanten des deutschen Bankiers Bleichrö­der, der mitteilt, „daß Niemand in den Wahlen, auch nicht die Opposition, einen vollständi­gen Sieg er­focht, daß in Folge dessen alle Welt einen faulen Ausgleich voraussieht [...]“. Zit. n. Pohl, Heinz-Alfred, Bismarcks „Einflußnahme“ auf die Staatsform in Frankreich 1871–1877. Zum Problem des Stellenwerts von Pressepolitik im Rahmen der auswärtigen Bezie­hungen (Euro­päische Hochschulschriften, Reihe III, Bd. 219), Frankfurt am Main 1984, S. 446. Ähnlich Journal politique de Charles de Lacombe, député à l’assemblée nationale, hg. von A. Hélot, Bd. 2, Paris 1908, S. 283. Zur ambivalenten Wirkung des Wahlergebnisses auf Mac Mahon vgl. Broglie (Anm. 1), S. 366f.

[46] So Caron, François, Frankreich im Zeitalter des Imperialismus 1851–1918 (Geschichte Frankreichs, Bd. 5), Stuttgart 1991, S. 286 (zuerst franz. 1985).

[47] Obwohl mit Freycinet und Lepère erstmals zwei Minister von Gambettas „Union républi­caine“ in der Regierung vertreten waren, lag der Schwerpunkt – wie schon vor dem 16. Mai – beim „Centre gauche“.

[48] Offensichtlich steckte Gambetta selbst zurück. Bezeichnend ist eine Äußerung gegenüber Freycinet: „La politique de M. Dufaure n’est pas la nôtre. Mais après les secousses que la France vient de subir, nous devons nous en contenter.“ Nach Freycinet, C[harles] de, Souve­nirs. 1848–1878, Paris 1912, S. 145. Umgekehrt lag der Fall bei Mac Mahon, der Dufaure offen­bar auch deshalb akzeptierte, um eine Regierung Gambetta zu vermeiden. Vgl. Hano­taux (Anm. 1), S. 220.

[49] Vgl. zu dieser Deutung auch Pelletier, Willy, La crise de mai 1877. La construction de la place et de la compétence présidentielles, in: Lacroix, Bernard; Lagroye, Jacques (Hg.), Le président de la République. Usages et genèses d’une institution, Paris 1992, S. 79–107.

[50] Vgl. zur wichtigen Übergangsphase Pollmann, Klaus Erich, Parlamentarismus im Norddeut­schen Bund 1867–1870 (Handbuch der Geschichte des deutschen Parlamentarismus), Düs­sel­dorf 1985, vor allem S. 21–37, 198–257.

[51] Angemerkt sei, dass damit auch Parlamentarisierungstendenzen in Süddeutschland blockiert wurden. Vgl. Brandt, Hartwig, Parlamentarismus in Württemberg 1819–1870. Anatomie eines deutschen Landtags (Handbuch der Geschichte des deutschen Parlamentarismus), Düs­seldorf 1987. Brandt sieht Württemberg 1870 auf dem Weg zu einer Mehrheitsregierung. Ebd., S. 800.

[52] Vgl. vor allem Mußgnug, Reinhard, Die rechtlichen und pragmatischen Beziehungen zwi­schen Regierung, Parlament und Verwaltung, in: Jeserich, Kurt G. A. (Hg.), Deutsche Ver­waltungsgeschichte, Bd. 3: Das Deutsche Reich bis zum Ende der Monarchie, Stuttgart 1984, S. 109–127, hier S. 115f.

[53] Vgl. auch Wahl, Rainer, Der preußische Verfassungskonflikt und das konstitutionelle System des deutschen Kaiserreiches, in: Böckenförde, Ernst-Wolfgang (Hg.), Moderne deut­sche Ver­fassungsgeschichte (1815–1871) (Neue Wissenschaftliche Bibliothek, Bd. 51), 2. Aufl., König­stein 1981 (verb.), S. 208–231, hier S. 220f. Ebd. auch der Hinweis, dass die Erinne­rung an den Verfassungskonflikt seitens der Regierung als Disziplinie­rungsmittel ein­gesetzt wurde. Zu einem speziellen Aspekt vgl. auch Jansen, Christian, Selbstbewußtes oder gefügi­ges Parlament? Abgeordnetendiäten und Berufspolitiker in den deutschen Staaten des 19. Jahrhunderts, in: Geschichte und Gesellschaft 25 (1999), S. 33–65; Bezug zum Verfas­sungs­konflikt ebd., S. 62f.

[54] Auf die kontroversen Beurteilungen einer möglichen Parlamentarisierung des Kaiserreiches kann hier nicht eingegangen werden; zusammenfassend: Zwehl, Konrad von, Zum Verhält­nis von Regierung und Reichstag im Kaiserreich, in: Ritter, Gerhard A. (Hg.), Regierung, Büro­kratie und Parlament in Preußen und Deutschland von 1848 bis zur Gegenwart (Bei­träge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, Bd. 73), Düsseldorf 1983, S. 90–116, hier vor allem S. 92–94.

[55] Vgl. ausführlich hierzu: Raithel, Thomas, Das schwierige Spiel des Parlamentarismus. Deut­scher Reichstag und französische Chambre des Députés in den Inflationskrisen der 1920er Jahre (Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte, Bd. 62), München 2005, S. 115–347.

[56] Vgl. Jäger, Wolfgang, Opposition, in: Brunner, Otto u.a. (Hg.), Geschichtliche Grundbe­griffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 4, Stuttgart 1978, S. 469–517, vor allem S. 485–515.

[57] Wenn freilich die Nichtpraktizierung der Kammerauflösung als entscheidende Ursache für die Instabilität der Regierungen bewertet wird, wie teilweise in der Literatur üblich – vgl. z.B. Prélot; Boulois (Anm. 11), S. 496, – werden die tiefer gehenden Probleme bei der Aus­bildung eines parlamentarischen Regierungslagers und bei der Stützung einer Regierung verkannt.

[58] In der weiteren Entwicklung kam es dann jedoch mit zunehmender Republikanisierung des Senats auch wieder zu einer gewissen Aufwertung. Die Frage, ob eine Regierung auch durch ein Votum des Senats abberufen werden kann, wurde von der Praxis seit Ende des 19. Jahr­hunderts positiv beantwortet.

[59] So z.B. Rudelle (Anm. 1), S. 57; Guchet, Yves, Histoire constitutionnelle française (1789–1958), 2. Aufl., La Garenne-Colombes 1990, S. 229.

[60] Vgl. in diesem Sinne vor allem Pelletier (Anm. 49).

[61] Einen Ansatz hatte es bereits 1894 mit der kurzen Präsidentschaft Casimir-Périers gegeben, der jedoch rasch resignierte. Zur expérience Poincaré vgl. vor allem Wright, Gordon, Ray­mond Poincaré and the French Presidency, Stanford 1942 (Nachdruck New York 1967). Zu Millerand vgl. vor allem Martens, Stefan, Alexandre Millerand. Der Mann zwischen Clemen­ceau und Poincaré, in: Historische Mitteilungen 5 (1992), S. 96–113, hier S. 108–113; Mil­bank Farrar, Marjorie, Principled Pragmatist. The Political Career of Alex­andre Millerand, New York 1991, S. 305–376.

[62] Avril, Pierre, Essais sur les partis, Paris 1986, S. 176f., hat darauf hingewiesen, dass der Links-Rechts-Dualismus von 1877 nicht in ein Zweiparteiensystem gemündet ist. Auch wenn man die Chance hierzu angesichts der Verwerfungen innerhalb des republikanischen Lagers skeptisch beurteilt, erscheint immerhin eine stärkere Konzentration des gemäßigten Republi­kanismus vorstellbar.

[63] Grundlegend ist Soulier, Auguste, L’instabilité ministérielle sous la Troisième République (1871–1938) (Bibliothèque d’histoire politique et constitutionnelle, Bd. 4), Paris 1939, S. 566, der feststellt, dass Grévy maßgeblich zur „dissociation des deux fonctions de leader parle­mentaire et de Premier Ministre“ beigetragen habe. Ähnlich z.B. auch Prélot; Boulois (Anm. 11), S. 494f.

[64] Vgl. Reinach, Joseph, La vie politique de Léon Gambetta suivie d’autres essais sur Gam­betta, Paris 1918, S. 70f. Nach ebd., S. 71, war diese Rolle der einzig mögliche „modus vi­vendi, qui permît de mettre au service de l’Etat les facultés de l’homme qui, simple citoyen dans la Répu­blique, en semblait le maître.“ Gleichzeitig wuchsen freilich die Vorbehalte ge­gen Gam­betta, die im Vorwurf einer dictature occulte gipfelten. Seit Anfang 1879 beklei­dete Gam­betta dann das Amt des Kammerpräsidenten, was mit einer weiteren politischen Schwächung verbunden war. Nachdem ihn Grévy dann endlich im November 1881 mit der Kabinettsbil­dung beauftragt hatte, wurde Gambetta bereits nach knapp zwei Monaten ge­stürzt.

[65] Vgl. die in Anm. 61 genannte Literatur.

[66] Dies gilt auch für das generelle Verständnis vom Parlament als gesellschaftliches, der Staats­macht gegenüberstehendes Organ; vgl. Grüner, Stefan, Zwischen Einheitssehnsucht und plu­ralistischer Massendemokratie. Zum Parteien- und Demokratieverständnis im deut­schen und französischen Liberalismus der Zwischenkriegszeit, in: Möller; Kittel (Anm. 14), S. 219–249.

[67] Vgl. zu Belgien und zu den Niederlanden Beyme (Anm. 36), S. 121–128, 282–284.

[68] Vielleicht wäre es sinnvoll, die Sonderwegsdebatte wieder stärker auf diesen zentralen verfas­sungspolitischen Aspekt zu beziehen. Die Annahme eines parlamentarismusge­schichtlichen Sonderwegs, der 1918/19 vom Verfassungssystem her – weniger freilich im Bereich der vor­herrschenden politischen Mentalitäten – sein Ende in einem plötzlichen Mo­dernisierungs­schub fand, lässt sich mit einem Erklärungsmodell verbinden, das den Nieder­gang der Weima­rer Republik und die nationalsozialistische Machtergreifung als Folge einer in Deutschland besonders ausgeprägten Krise der Moderne interpretiert. Vgl. zum letztge­nann­ten Ansatz vor allem Peukert, Detlev J. K., Die Weimarer Republik. Krisenjahre der Klassi­schen Moderne, Frankfurt am Main 1987. Allgemein zur Sonderwegsthese vgl. – aus Sicht eines Befürworters – vor allem Wehler (Anm. 1), S. 464–486, mit Literaturhinweisen S. 1381–1384.

[69] Vgl. zu letzteren erneut Beyme (Anm. 36), S. 284–296.

[70] Zur Problematik und insbesondere zu den auftretenden Missverständnissen vgl. Möller, Horst, Parlamentarismus-Diskussion in der Weimarer Republik. Die Frage des „besonderen“ Weges zum parlamentarischen Regierungssystem, in: Funke, Manfred u.a. (Hg.), Demokra­tie und Diktatur. Geist und Gestalt politischer Herrschaft in Deutschland und Europa. Fest­schrift für Bracher, Karl Dietrich, Düsseldorf 1987, S. 140–157, hier S. 140–150.


Für das Themenportal verfasst von

Thomas Raithel

( 2007 )
Zitation
Thomas Raithel, Der preußische Verfassungskonflikt 1862-1866 und die französische Krise von 1877 als Schlüsselperioden der Parlamentarismusgeschichte, in: Themenportal Europäische Geschichte, 2007, <www.europa.clio-online.de/essay/id/fdae-1416>.
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