Der Name des Kindheitsvereins oder der Kindheitsverein ist ein Kinderverein und eben darum ein überaus schöner Verein (1908)

Meine lieben Kinder! Ihr habt euch heute wieder an dieser heiligen Stätte versammelt, um in eurer Eigenschaft als Mitglieder des Kindheitsvereins dem lieben Jesuskinde eure Verehrung zu erweisen und aus meinem Munde etwas über den schönen Verein zu vernehmen, dem anzugehören ihr die Ehre habt. Nun will ich euch heute etwas sagen über den Namen des Vereins, dem ihr angehört. [...]

Der Name des Kindheitsvereines oder der Kindheitsverein ist ein Kinderverein und eben darum ein überaus schönes Verein[1]

Meine lieben Kinder!

Ihr habt euch heute wieder an dieser heiligen Stätte versammelt, um in eurer Eigenschaft als Mitglieder des Kindheitsvereins dem lieben Jesuskinde eure Verehrung zu erweisen und aus meinem Munde etwas über den schönen Verein zu vernehmen, dem anzugehören ihr die Ehre habt. Nun will ich euch heute etwas sagen über den Namen des Vereins, dem ihr angehört.

Wie heißt doch der Verein? Er heißt: V e r e i n v o n d e r h l . K i n d h e i t oder kurz K i n d- h e i t s v e r e i n. Warum wird er denn so genannt? Seht, das will ich euch sagen: Der Verein heißt Kindheitsverein, weil er ein Kinderverein ist, d. h. weil alles, was sich an diesem Verein befindet, aus Kindern besteht. Und zwar sind es drei Klassen von Kindern, welche wir hier unterscheiden müssen. Die erste Klasse, das sind die Christenkinder, welche die Mitglieder des Vereins sind. Die zweite Klasse sind die Heidenkinder, für deren zeitliches und ewiges Heil ihr sorgen sollt. An dritter Stelle kommt das Jesuskind; das ist der Patron eures Vereins. Diese drei Klassen von Kindern wollen wir nun miteinander [12] betrachten; ihr werdet dann sehen, wie überaus schön der Verein von der hl. Kindheit Jesu ist.

C h r i s t e n k i n d e r bilden die M i t g l i e d e r des Vereins. Ist das nicht ein ganz eigenartiger Verein, der nur aus Kindern besteht? Es gibt zahlreiche katholische Vereine für die Erwachsenen, auch solche Vereine, welche für die Bekehrung der Heiden tätig sind. Ich erinnere nur an den Verein für die Verbreitung des Glaubens, der euch unter dem Namen des „Franziskus-Xaverius-Verein“ bekannt ist. Aber der Verein von der hl. Kindheit besteht nur als Kindern. Erwachsene können freilich auch aufgenommen werden, aber nur als „Verbündete“; und auch die eigentlichen Mitglieder können, sobald sie das zwölfte Lebensjahr vollendet haben, als „Verbündete“ im Vereine bleiben. Kein katholisches Kind, mag es noch so jung sein, ist vom Verein ausgeschlossen, wofern [sic] es selbst oder durch seine Angehörigen die Pflichten des Vereins erfüllt. Aber, so erhebt sich die Frage, weshalb ist denn dieser Verein ausschließlich den Kindern vorbehalten? Seht, das will ich euch sagen. Die hl. Kirche hat auch für die Kinder einen Verein eingeführt und diesen Verein nur für die Kinder bestimmt aus drei Gründen. Jeder katholische Christ soll nach seinen Kräften Gutes stiften, und in den katholischen Vereinen hat er dazu die schönste Gelegenheit. Ihr Kinder könnt nun freilich noch nicht soviel Gutes wirken, wie die Erwachsenen; aber ihr könnt doch schon etwas; ihr könnt beten für die Bekehrung der Heiden und könnt das Taschengeld, welches euch geschenkt wird, anstatt es für Näschereien und Spielzeug auszugeben für gute Zwecke, insbesondere für die armen Heidenkinder verwenden. Ist das nicht überaus schön und edel? Seht, meine Kinder, damit ihr nun Gelegenheit habt, auch Gutes zu wirken wie die Großen, und damit ihr hierzu aufgemuntert werdet, darum hat die Kirche den Verein von der hl. Kindheit eingeführt, und ihn unter Ausschließung der Erwachsenen einzig und allein für euch Kinder bestimmt. Sodann, meine lieben Kinder, müßt ihr bedenken, daß jeder Verein auch zahlreiche und große Vorteile für seien Mitglieder bringt. Diese erhalten Gnaden von Gott, sowie die Fürbitten und Ablässe der Kirche. Da hat die Kirche, die als gute Mutter alle ihr Kinder und ganz besonders die kleinen liebt, gedacht: Weshalb sollen nur die Erwachsenen diese Gnaden erhalten, weshalb nicht auch die Kindlein? Und da hat sie euch den Verein von der hl. Kindheit gegründet und ihn über die weite katholische Welt aus[13]gebreitet und nun empfanget auch ihr aus der Hand der Kirche jene Gaben und Ablässe, welche für die Mitglieder der katholischen Vereine bestimmt sind.

Sagt an, meine lieben Kinder, war das nicht sehr liebevoll und beweist das nicht, wie überaus gern die Kirche euch Kinder hat? Aber es kommt noch ein dritter Grund hinzu, weshalb die Kirche diesen Verein für die Kinder bestimmt hat. Was mag das wohl für ein Grund sein? Ein gar wichtiger. Weil nämlich das Gebet und die guten Werke der Kinder Gott besonders wohlgefällig und darum überaus wirksam sind. Und warum sind sie Gott so wohlgefällig? Wegen der Unschuld der Kinder. Unter den Kindern, welche dem Verein angehören, gibt es gar viele, welche ihr Taufunschuld bewahrt haben, in deren Seelen noch die Gnaden, gaben und Tugenden mit jener Frische blühen, wie der hl. Geist sie einst bei der hl. Taufe eingepflanzt hat. Und wenn auch die Kinder Fehler begangen haben und täglich begehen, so sind diese doch zumeist klein. Das Unkraut der bösen Neigungen, welches bei manchen Erwachsenen so üppig gedeiht und den edlen Tugenden ihre Nahrung entzieht, ist noch schwach und unansehnlich in der Kinderseele; das Herz ist noch unverdorben, noch weich und empfänglich für die Einwirkung der Gnade, noch freudig begeistert für alles Gute und Schöne. Darum sind die Kinder die Lieblinge der Eltern, die sie als den kostbarsten von Gott ihnen anvertrauten Schatz hegen und pflegen; sie sind die Lieblinge der Priester, welche ihnen ihre seelsorgerische Tätigkeit in besonderem Maße zuwenden; sie sind die Lieblinge der hl. Schutzengel, welche ihnen nicht bloß wegen ihrer größeren Hülfsbedürftigkeit, sondern auch mit Rücksicht auf die Unschuld ihres Herzens ihren ganz besonderen Schutz an Leib und Seele angedeihen lassen; sie sind endlich und vor allem die Lieblinge des Heilandes, der sie in sein göttliches Herz geschlossen und, da er noch auf Erden weilte, sie umarmt und an sein gottmenschliches Herz gedrückt hat, um damit seine überströmende Liebe zu den Kleinen vor aller Welt zu bekunden. Kann es euch das wundernehmen, meine lieben Kinder, wenn eure Frömmigkeit und Mildtätigkeit Gott dem Herrn besonders wohlgefällt? Das Gebet eines Kindes dringt durch die Wolken, und die milde Gabe aus der zarten Hand eines unschuldigen Kindes trägt hundertfältige Frucht.

Die Mitglieder des Vereins sind jedoch nicht die einzigen [14] Kinder, welche bei diesem Vereine in Betracht kommen. Es kommen hinzu die H e i d e n k i n d e r, für welche der Verein zu sorgen hat; denn die Rettung der armen Heidenkinder ist das Ziel und die Aufgabe des Kindheitsvereins. Wißt ihr auch, liebe Kinder, was die Heiden für Menschen sind? Das sind solche, die den wahren Gott nicht kennen. Sie verehren stattdessen falsche Götter und bringen ihnen Opfer dar. Sie glauben nicht an den göttlichen Erlöser, haben keine hl. Messe, keine Sakramente, keinen wahren Gottesdienst und schweben somit in größter Gefahr, ewig verloren zu gehen. Wie unglücklich, wie überaus unglücklich sind also diese Heiden! Am unglücklichsten unter ihnen sind jedoch die Kinder. Denn die Erwachsenen können noch in den Himmel kommen, wenn sie sich bemühen, denn wahren Gott kennen zu lernen, die Gebote Gottes beobachten und ihre Sünde aus Liebe zu Gott bereuen. Was aber soll aus den Heidenkindern werden, wenn sie ohne Taufgnade sterben? Können sie zu Gott gelangen? Ihr wißt es ja, daß ohne die Taufe niemand selig werden kann. Arme Kinder! Niemals sollen sie im schönen Himmel wohnen; niemals bei der Muttergottes und den lieben Heiligen und den Engeln weilen; niemals ihren Gott, ihren Schöpfer, ihren Erlöser schauen in seiner unendlichen Schönheit. Ist das nicht überaus traurig, meine Kinder, und verdienen nicht diese armen Heidenkinder unser tiefstes Mitleid? Bedenkt doch, wie viel eine einzige unsterbliche Seele wert ist. Und nun gehen so viele Tausend und Millionen Seelen ewig verloren. Oder will Gott diese Seelen vielleicht nicht zu sich in den Himmel nehmen? Doch, meine lieben Kinder, Christus will auch diese selig machen; denn er ist für alle Menschen ohne Ausnahme gestorben. Er will, daß auch den Heidenkindern die Gnade der Erlösung zuteil werde; er will, daß sie die hl. Taufe empfangen, ein christliches Leben führen und im wahren Glauben sterben. Aber wie soll das denn geschehen? Das soll durch euch geschehen, meine Kinder; durch den Verein von der hl. Kindheit. Könnt ihr das denn, ihr, die ihr doch nur schwache Kinder seid? Gewiß könnt ihr das. Ihr könnt und sollt dieses große Werk vollbringen durch euer Gebet und eure Almosen. Ihr sollt fleißig, ja täglich für die armen Heidenkinder beten, damit Gott sich ihrer annehme und ihnen die Gnade der Bekehrung schenke. Ihr sollt ferner die kleinen Geldbeiträge für den Verein spenden, damit die armen Kinder aus der Hand ihrer grausamen Eltern losgekauft, in christliche Erziehungsanstalten [15] untergebracht, getauft und christlich erzogen werden. O wie werden dich diese Heidenkinder freuen, wenn sie aus dem Munde ihrer christlichen Erzieher den wahren Glauben kennen und üben lernen; und wie werden sie sich dankbar erweisen, wenn sie vernehmen, daß sie die unschätzbare Wohltat des Christentums ihren kindlichen Wohltätern in Europa zu verdanken haben? Sagt an, meine lieben Kinder, ist es nicht etwas überaus Schönes, für die armen Heidenkinder zu sorgen; und ist es nicht doppelt schön, wenn Kinder für Kinder sorgen?

Nun haben wir schon zwei Arten von Kindern betrachtet, welche zu dem Kindheitsverein in Beziehung stehen. Und noch ein Kind bleibt uns, welches bei dem Verein eine gar wichtige Rolle spielt, das ist das liebe Jesuskind, euer Patron. Der Jesusknabe ist der Patron des Vereins von der hl. Kindheit. Was will das bedeuten? Das will sagen: Er ist euer Führer, euer Vorbild und euer Schutzherr in der Sorge für die armen Heidenkinder. Kann es einen schöneren Patron geben, als den lieben Jesusknaben? Jesus ist der Gottmensch, d.h. der eingeborene Sohn Gottes, der in der Fülle der Zeiten die menschliche Natur angenommen hat. Er ist gekommen in diese Welt und hat sich in Maria, der reinen Jungfrau, eine Mutter erwählt und in dem hl. Joseph einen Pflegevater, der mit großer Liebe für ihn sorgte. Er ist gekommen in diese Welt als ein kleines Kind, ganz wie ihr, und noch viel ärmer als ihr; denn in einem armseligen Stalle hat er das Licht der Welt erblickt und mußte schon frühzeitig den Haß und die Verfolgung der Menschen erdulden. Er nahm zu an Alter und Weisheit; er wuchs und wurde größer und war seinen Eltern untertan. Und was für ein liebes Kind ist er seinen Eltern gewesen? Allzeit freundlich und bescheiden und gehorsam; nie hat er eine Sünde getan; er war unendlich heilig; denn er war ja Gott, der nicht sündigen kann. Und was wollte denn dieses Kind? Es wollte die Menschen erlösen durch seine Lehre, sein Leben und seinen Tod. Es wollte sie befreien aus der Knechtschaft des Teufels und sie zu Kindern Gottes machen. Und das soll so ein schwaches Kind leisten können?! Gewiß meine lieben Kinder; denn dieser Jesusknabe ist nur schwach dem Scheine nach; in Wirklichkeit ist er unendlich stark; denn er ist ja der allmächtige Gott, der Himmel und Erde gemacht hat; dem alle Fürsten der Erde, alle Mächte des Himmels und alle Geister der Unterwelt sich beugen müssen. [16]

Seht liebe Kinder, das ist euer Patron. Dieser Jesusknabe ist euer Vorbild, dem ihr nacheifern sollt in der Liebe zu den unsterblichen Seelen; er ist euer Führer im Kampf gegen den Unglauben und die Sittenlosigkeit der Heiden, und ihr seid seine Gefolgschaft. Er ist der Feldherr, der euch die Fahne voranträgt, und ihr seid seine jugendlichen Krieger, die unter seiner Fahne kämpfen gegen den Teufel und seinen Anhang. Und welches sind die Waffen, mit denen ihr kämpfet? Nicht Schwerter oder Gewehre, sondern die Waffen des Geistes, d.h. das fromme kindliche Gebet und die milde Opfergabe, die aus der warmen Liebe eines kindlichen Herzens hervorgeht. Nun frage ich euch, liebe Kinder: Kann es einen schöneren Patron geben als denjenigen, den der Verein von der hl. Kindheit hat?

Der Verein, dem ihr angehört, heißt nun der Verein von der h e i l i g e n Kindheit. Warum denn von der h e i l i g e n Kindheit? Weil alles was wir an diesem Verein erblicken, heilig ist oder heilig werden soll. Heilig, unendlich heilig ist das liebe Jesuskind, euer Patron. Heilig in gewissem Sinne sind die Christenkinder, welche die Mitglieder des Vereins sind, denn sie sind geheiligt durch die hl. Taufe; es sind ja die unschuldigen Kinder, die der Heiland einst den Erwachsenen zum Vorbild gestellt hat mit den Worten: „Wenn ihr nicht werdet wie die Kindlein, so könnt ihr ins Himmelreich nicht eingehen.“ Die Heiligung der Heidenkinder endlich ist das Ziel des Vereins; denn diese sollen Christen werden und nach einem wahrhaft christlichen Leben als Heilige am Throne Gottes stehen. O wie schön, wie überaus schön ist der Verein von der hl. Kindheit! Darum, ihr Kinder, bleibt treu diesem Vereine; opfert gerne für die Heidenkinder und betet fleißig für sie. Ihr Sammler und Förderer des Vereins, unterziehet euch gerne der kleinen Mühe; denn der Herr wird es euch reichlich lohnen. Ihr Eltern aber, deren Kinder dem Verein noch nicht angehören, erbarmt euch der armen Heidenkinder; denn euer Lohn wird große sein im Himmelreich. Amen.


[1] Meunier, Winand Hubert, Der Name des Kindheitsvereines oder der Kindheitsverein ist ein Kinderverein und darum ein überaus schöner Verein, in: ders. (Hg.), Das Werk der heil. Kindheit. Eine Sammlung von geistlichen Vorträgen über und für den Kindheitsverein, Köln ²1908, S. 11–16. Hervorhebungen im Original.


Zugehöriger Essay: "Armes Kindlein in der Ferne, - Wie machst du das Herz mir schwer!" Kindermissionsvereine und die religiösen Verflechtungen des Helfens in Deutschland, Europa und der Welt, 1843-1920

„Armes Kindlein in der Ferne, – Wie machst du das Herz mir schwer!“ Kindermissionsvereine und die religiösen Verflechtungen des Helfens in Deutschland, Europa und der Welt, 1843–1920[1]

Von Katharina Stornig

1903 druckte der Kölner J.P. Bachem Verlag eine Sammlung von Predigten, die als Vorlage für diverse Vorträge im Rahmen der Feste des Vereins der Heiligen Kindheit, einem 1843 gegründeten katholischen Missionsverein von und für Kinder, dienen sollten.[2] Die erste der insgesamt vierzehn Predigten gab einen Überblick über die Ziele des Vereins und sollte vor allem die junge Zuhörerschaft begeistern.[3] Der Kindheitsvereinsei ein besonderer Verein, so der Autor Winand Hubert Meunier, katholischer Theologe und Pfarrer von Rellinghausen, weil er einzig und alleine aus Kindern bestünde. Dies war freilich eine verkürzte Darstellung der Realität; de facto wurde der Verein nicht nur von Erwachsenen geleitet, sondern hing auch wesentlich von deren Engagement und Spenden ab.[4] Allerdings rückte Meunier die jungen Vereinsmitglieder ins Zentrum: Bereits einleitend rekurrierte er auf die seit der Gründung 1843 zentrale Idee, der Kindheitsvereinerziele gerade deshalb besondere Wirkung, weil er wesentlich von Kindern – und damit von „unschuldigen“, „unverdorbenen“ und besonders „gottgefälligen“ Menschen – getragen werde.

Während Meunier also einerseits die Vorstellung eines besonderen Status von Kindern als jungen Menschen universalisierte, postulierte er andererseits die Existenz dreier „Klassen von Kindern“: „Die erste Klasse“, so Meunier, „das sind die Christenkinder“, d.h. die christlich getauften Kinder und Vereinsmitglieder, die mittels regelmäßiger Gebete und kleiner Spenden die Bekehrung der nicht-christlichen Kinder in Asien und Afrika aktiv förderten. Als „zweite Klasse“ nannte er „die Heidenkinder“ und damit all jene ungetauften jungen Menschen außerhalb Europas, für deren „zeitliches und ewiges Heil“ erstere sorgen sollten. Auch in seiner Konzeption des „Heiden“ spielten altersbedingte Zuschreibungen eine wichtige Rolle: Während alle „Heiden“ „falsche Götter“ verehrten, seelisch „in größter Gefahr“ schwebten und deshalb „überaus unglücklich“ seien, wären die „Heidenkinder“ „am unglücklichsten“, weil sie laut Meunier oft nicht einmal die Möglichkeit bekämen, das Christentum vor ihrem Tod kennenzulernen. Nicht-christliche Kinder waren demzufolge selbst unschuldig an ihrer – aus christlich-europäischer Sicht – misslichen Lage, weshalb sie besonderes Mitleid und Solidarität verdienten. Meunier lud seine Zuhörerschaft explizit dazu ein, regelmäßig für die „Heidenkinder“ zu spenden und zu beten.[5] Zuletzt verwies er auf „das Jesuskind“, welches die „dritte Klasse“ bildete und als Vereinspatron nicht nur imaginär einen besonderen Platz einnahm, sondern in Form von Bildern und Statuen auf Vereinsfesten auch materiell präsent war.

Alle Predigten aus der zitierten Sammlung, die übrigens rasch vergriffen war und deshalb 1908 neu aufgelegt wurde, setzten die Existenz der genannten „Klassen von Kindern“ voraus und skizzierten außerdem konkrete Verbindungen zwischen ihnen. „Christlich“ und „heidnisch“ funktionierten dabei nicht nur als religiös konnotierte Zuschreibungen an Individuen, sondern auch als Parameter in einer spezifischen Ordnung der Welt. Bezeichnenderweise blieb die begriffliche Differenzierung zwischen „christlichen“ und „katholischen“ Kindern meist unscharf, obwohl de facto ausschließlich katholische Kinder als Vereinsmitglieder zugelassen waren. Deutlicher hingegen war ihre geografische und kulturelle Verortung in Europa: Die Predigten legten der jungen Zuhörerschaft gleichzeitig die eigene, privilegierte Situation und die Hilfsbedürftigkeit der „Heidenkinder“ in Asien und Afrika dar. Außerdem zeigten sie ihnen konkret die Möglichkeit auf, das Leben geografisch ferner Kinder zu beeinflussen und – aus europäisch-christlicher Sicht – zum Besseren zu verändern. Allerdings bildete dieser missionarische Impetus nicht das einzige Anliegen des Kindheitsvereins, dessen erwachsene Vertreter stets auch seinen Wert für die Bildung und Erziehung der Kinder in Europa betonten. Die Vereinsleitung sah katholische Kinder als eine wichtige Ressource, welche – „richtig“ sozialisiert – die Anliegen der Kirche zukünftig vertreten sollte. In dieser Einschätzung war der Kindheitsverein um 1900 nicht allein: Missionsvereine für Kinder hatten seit Jahrzehnten europaweit an Popularität gewonnen,[6] und viele Missionsgesellschaften publizierten spezifische Literatur für Kinder.[7]

Dieser Beitrag zeigt, dass die erfolgreiche Entwicklung und rasche Ausbreitung des Kindheitsvereinsin Deutschland Teil einer europäischen Bewegung war, die neue Formen religiöser Gemeinschaftsbildung inspirierte und grenzüberschreitende Verflechtungen und Loyalitäten produzierte. Genauso wie sein „erwachsenes“ Pendant, das sogenannte Werk der Glaubensverbreitung (1822), war auch der Kindheitsverein konstitutiver Bestandteil eines katholischen Internationalismus, der sich ausgehend von Frankreich seit dem zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts europaweit formierte und etablierte.[8] Ziel dieses Beitrags ist es, die transnationale Dimension des Kindheitsvereins aufzuzeigen und die in seinem Rahmen generierten Handlungs- und Deutungszusammenhänge darzustellen.

Anfänge

Der Verein der Heiligen Kindheit wurde 1843 von Bischof Charles de Forbin-Janson als Œuvre de la Sainte Enfance in Frankreich gegründet. Inspiriert durch Missionsberichte über Kindesaussetzungen bzw. Kindestötungen in China und die sich nach dem Opiumkrieg abzeichnende Möglichkeit der erneuten Öffnung des Landes für die christlichen Missionen, bewarb Forbin-Janson die Gründung eines Vereins, in dessen Rahmen die katholischen Kinder Europas die „Rettung“ der Kinder Chinas durch ihre Beiträge, Spenden und Gebete erwirken sollten.[9] Forbin-Jansons Verständnis von „Rettung“ umfasste vor allem zwei Aspekte: die übergeordnete religiöse Erlösung durch die Taufe und den physischen Schutz vor Tötung oder Aussetzung. Neben dem Gebet propagierte er vor allem den sogenannten Loskauf als Mittel zur „Rettung“: Mit den Vereinsgeldern sollten die Kinder „heidnischer“ Eltern in China von diesen losgekauft, getauft und in katholischen Waisenhäusern, Familien oder Missionsstationen erzogen werden. Damit adaptierte der Kindheitsverein die alte christliche Praxis des Sklavenloskaufs für den Missionskontext in China[10] und etablierte eine Praxis des Helfens, die trotz der Darstellung eines quantitativ nicht fassbaren Leids in der „Heidenwelt“ auf der Vorstellung von der „Rettung“ einzelner Kinder basierte. Die Idee und Praxis des Loskaufs ermöglichte die Imagination einer durch die „Rettung“ entstandenen Bindung über große geografische Distanz, deren Bildung der Verein gezielt förderte. So hielten schon die ersten Statuten fest, dass möglichst viele der „geretteten“ Kinder die Taufnamen ihrer europäischen „Retter“ erhalten sollten mit dem Ziel, das durch den Akt des Helfens entstandene „geistige Band“ zu festigen.[11] Archivierte Namenslisten, Spenderbriefe und die veröffentlichten Spendenlisten zeigen, dass Spender und Spenderinnen von diesem Angebot häufig Gebrauch machten.

Allerdings hatte Forbin-Janson 1843 keineswegs ausschließlich die „Rettung“ der Kinder Asiens im Blick. Er, dessen adelige Familie die Revolution im Exil erlebt hatte und der 1830 erneut nach Nordamerika geflüchtete war[12] wollte auch die jungen Katholiken und Katholikinnen Europas religiös erziehen und schon in jungen Jahren für Kirche, Religion und karitatives Engagement gewinnen.[13] Die Vorstellung, dass der Einsatz für die „Heidenkinder“ die jungen Mitglieder emotional berühren und prägen würde, bildete im Kindheitsverein von Beginn an einen zentralen Faktor.[14] In anderen Worten: Vor dem Hintergrund zeitgenössischer Ideen von kindlicher Sozialisation und Erziehung betrachtete die Kirche Kinder als eine wichtige und formbare Ressource für die Zukunft.[15] Schon eine frühe deutschsprachige Werbeschrift von 1855 betonte, dass die Mitgliedschaft den katholischen Kindern in Europa große Vorteile bringe, weil sie sich dadurch unter anderem „an die Uebungen einer wohlthätigen Religion“ und „an die Liebe zu den Armen“ gewöhnen würden.[16] Zudem war der Kindheitsverein fest in die katholische Heilsökonomie eingebettet – seine Mitglieder erhielten bereits vor seiner kanonischen Errichtung durch Pius IX. 1856 diverse Ablässe.[17] Außerdem wurde der Unterstützerschaft stets versichert, dass die „geretteten“ Kinder in China nicht nur für ihre Wohltäter und Wohltäterinnen in Europa beten, sondern auch nach dem Tod spirituelle Fürsprache für diese leisten würden. Laut Meunier konnten die „kindlichen Wohlthäter in Europa“ also fest mit der Dankbarkeit der „Heidenkinder“ rechnen.[18]

Europäischer Kontext

Der Kindheitsvereinwar von Anfang an international orientiert. Ausgehend von Frankreich verbreitete er sich durch Kleriker und Laien innerhalb weniger Jahre in vielen Teilen Europas: Bis Mitte der 1850er-Jahre kam es zur Gründung von Niederlassungen unter anderem in Belgien, England, Deutschland, Österreich, Spanien und Italien. Die Vereinszeitschrift, die Jahrbücher des Werks der heiligen Kindheit (Annales de la Sainte Enfance), erschien noch im 19. Jahrhundert in vierzehn Sprachen.[19] Die geografische Ausdehnung spiegelte sich auch in der Herkunft der Spendengelder wider: Zum Zeitpunkt seines 50-jährigen Jubiläums 1893 verzeichnete der KindheitsvereinSpendeneingänge aus ganz Europa (inklusive Skandinavien und Russland).[20] Außerdem hatten Migrations- und Missionsbewegungen zur Gründung von Niederlassungen außerhalb Europas geführt. Während sich der Verein in den USA bereits seit den späten 1840er-Jahren lokal etablierte, errichtete seine Leitung 1892 in Pittsburgh einen Regionalrat, der die Kommunikation mit Paris zukünftig zentral koordinierte.[21] Da der Verein in Amerika auch von Immigranten und Immigrantinnen getragen wurde, erschienen in Pittsburgh zeitweise sogar deutsche Annalen.[22] Schließlich brachten die Missionen den Kindheitsverein auch in Teile Afrikas und Asiens. Um 1910 eröffnete beispielsweise die deutsche Steyler Mission einen Zweig im damaligen „Schutzgebiet“ Togo, wo dieser (zumindest laut veröffentlichten Berichten) großen Anklang fand.[23] Parallel zur Zahl der Geberländer expandierte auch die der Empfänger. Obwohl China weiterhin einen besonderen Platz einnahm, weitete der Kindheitsverein seit ca. 1860 seine Aktivitäten auf die Missionsgebiete in Indien, Südostasien und Afrika aus. Der Kindheitsverein sammelte folglich Spenden nicht nur international, sondern verteilte diese auch über nationale und kontinentale Grenzen hinweg.

Ähnlich wie einige andere katholische Vereine dieser Zeit funktionierte auch der Kindheitsverein nach einem internationalen Prinzip.[24] Regional oder national organisierte Komitees sammelten die Mitgliedsbeiträge und überwiesen diese an einen Zentralrat in Paris, welcher alleine über die weltweite Verteilung der Gelder verfügte. Für Deutschland entwickelte sich neben München und Freiburg bald Aachen zum zunächst regionalen und schließlich nationalen Vereinszentrum. Die regionalen bzw. nationalen Komitees des Vereins agierten außerdem als Herausgeber der Jahrbücher, welche zunächst zweimal (und später vier- bzw. sechsmal) jährlich erschienen und über welche der Verein mit seinen Mitgliedern kommunizierte. Während die Jahrbücher zweifelsfrei ein wichtiges Instrument darstellten, mittels welchem die Vereinsleitung die Idee und Praxis von grenzüberschreitenden Bindungen zwischen Kindern unterschiedlicher Herkunft bewarb, so waren sie nicht das einzige: Der Verein agierte zudem als Herausgeber unzähliger Druckschriften (Handbücher, Werbeschriften, Liederbücher, Predigtsammlungen etc.), Organisator von Festen und Verteiler von Medaillen und illustrierten Mitgliedskarten.[25]

Religiöse Gemeinschaftsbildung

Die vom Kindheitsverein propagierte Vision von Gemeinschaft funktionierte grundsätzlich entlang zweier Linien. Zum einen basierte sie auf einer spezifischen Vorstellung von altersbasierter Gemeinsamkeit, Verbundenheit und Einheit aller Kinder. Diese Vorstellung fußte auf einem Verständnis von Kindheit als einem Stadium menschlicher Existenz, das durch Hilfsbedürftigkeit und Unschuld gekennzeichnet war und durch die Menschwerdung Gottes als Kind besondere Heiligung erfahren hatte.[26] Altersbasierte Zuschreibungen wirkten dabei insofern homogenisierend und integrativ, als sie die Idee eines universalen Kindes produzierten, das unabhängig von Herkunft, Geschlecht oder Religionszugehörigkeit über zentrale Merkmale (Unschuld, Hilfsbedürftigkeit, etc.) verfügte. Andererseits zog der Verein (analog der „Klassen“ bei Meunier) eine Grenze und teilte Kinder weltweit in „Christen“ und „Heiden“. Die Annahme, dass innerhalb der beiden Gruppen relevante Gemeinsamkeiten, zwischen ihnen jedoch wesentliche Unterschiede bestanden, war für seine Ideenwelt ebenso konstitutiv.

Obwohl die verwendeten Begriffe zunächst auf Religionszugehörigkeit verwiesen, gingen die Bedeutungszuschreibungen doch wesentlich darüber hinaus: Die Texte des Kindheitsvereinsverorteten beide Gruppen auch geografisch („christliches“ Europa versus „heidnisches“ Afrika oder Asien) und mit Rückgriff auf spezifische Interpretationen kultureller oder sozialer Andersheit.[27] Während Kinder generell als „körperlich und geistig“ unreif und deshalb besonders hilfsbedürftig dargestellt wurden, traf dies insbesondere auf die „heidnischen“ Kinder zu, welche, so Meunier in einer weiteren Predigt, „an natürlichen Vorzügen die ärmsten und deshalb auf fremde Hülfe am meisten angewiesen sind“.[28] Nicht-christliche Lebenswelten wurden als in jederlei Hinsicht defizitär charakterisiert und Autoren des Kindheitsvereins beschrieben die Situation von „Heidenkindern“ oft in Analogie zum vorchristlichen Europa: Sich auf die (Augenzeugen-)Berichte christlicher Missionare und Missionarinnen beziehend, betonten sie die Rolle grausamer „heidnischer“ Eltern, welche ihre Kinder mitleidslos verlassen oder sogar eigenhändig töten würden, und stellten diese dem Ideal liebender und sorgender Eltern im „christlichen“ Europa gegenüber.[29] Meunier und andere leiteten aus dieser scheinbaren Realität weltweiter Kindheiten für die katholischen Kinder Europas die „Pflicht der Barmherzigkeit“ ab, sich um das religiöse und materielle Wohl ihrer weniger privilegierten Altersgenossen zu sorgen.[30] Der Verein bot den katholischen Kindern ganz konkret die Möglichkeit, durch Spenden einen entscheidenden Unterschied im Leben geografisch ferner „Heidenkinder“ zu bewirken. Zusätzlich sollte diese imaginierte Beziehung von Beginn an durch ein tägliches Ritual gefestigt werden: Laut Statuten erforderte die Mitgliedschaft neben dem monatlichen Beitrag auch das tägliche Gebet eines Ave Marias mit dem Zusatz „Heilige Jungfrau Maria, bitte für uns und für die armen Heidenkinder!“

Während die imaginierte Beziehung zwischen „Christen-“ und „Heidenkindern“ wesentlich durch die Asymmetrie von Helfen und Hilfe-empfangen strukturiert wurde, beschwor der Kindheitsverein unter seinen Mitgliedern ein Ideal der Einheit und die Vorstellung gemeinsamen Engagements. Die Jahrbücher propagierten stets die Idee eines nationale und soziale Grenzen überschreitenden Projektes, und auch Meunier predigte: „Kein katholisches Kind […] ist vom Verein ausgeschlossen“. Auch der geringe Mitgliedsbeitrag (von zunächst einem Kreuzer) wurde mit dem Ziel einer möglichst breiten Teilnahme erklärt: Schon 1845 hieß es in einer deutschen Werbeschrift, dass die Leitung alles dafür tat, „um den Verein zugänglich für Alle zu machen“.[31] Freilich wurde betont, dass es wohlhabenden Familien offen stand, auch darüber hinaus zu spenden. Dadurch avisierte die Vereinsleitung die Entstehung neuer Bindungen und Solidarität: „Auf diese Weise wird das reiche Kind heimlich das arme unterstützen […]“.[32]

Und tatsächlich enthielten die Jahrbücher zahlreiche Berichte über katholische Kinder unterschiedlicher Herkunft, die große Anstrengungen unternommen hatten, um den Vereinsbeitrag zu leisten und/oder den Loskauf eines „Heidenkinds“ zu finanzieren. In der deutschen Ausgabe konnte sich die Leserschaft regelmäßig in der Rubrik „Nachahmungswürdige Beispiele aus dem Vereinsleben“ über das Engagement von jungen Vereinsmitgliedern im In- und Ausland informieren. So las man zum Beispiel 1880 sowohl von den Mühen des Arbeitersohns Franz, der den Mitgliedsbeitrag für sich und seine kleine Schwester unter großem Verzicht zusammensparte, als auch von einigen Mädchen im französischen Vannes, die in Reaktion auf die Berichte über eine Hungersnot in Indien eine Lotterie organisierten und so Almosen in der Höhe von 662 Francs sammelten.[33] Ähnliches galt für die Ausgaben anderer Vereinszweige in Europa: Die italienischen Annali berichteten beispielsweise nicht nur über die Entwicklung des Vereins in Teilen des Königreichs, sondern auch über Initiativen und kindliche Akte der Wohltätigkeit in Belgien, Frankreich, Österreich-Ungarn und dem Deutschen Reich.[34] Diese Form des medialen Berichtens förderte die Entstehung und Verbreitung der Vorstellung eines gemeinsamen, nationale und soziale Unterschiede überschreitenden Engagements, eine narrative Strategie, die auch von den Vereinsleitungen in Nordamerika aufgegriffen wurde.[35] Gleichzeitig appellierten die Vereinsleitungen in den einzelnen Ländern jedoch immer wieder auch an die nationalen Identitäten ihrer Unterstützerschaft, indem sie zum Beispiel Aufstellungen der jährlichen Gesamteinnahmen in Form von nationalen Ranglisten druckten. Schon 1860 stellte der Autor einer US-Werbeschrift (1861) zufrieden fest, „the States of America occupy the seventh rank in this magnificent receipt“.[36] Vor allem in den letzten beiden Dekaden des 19. Jahrhunderts kam es außerdem zur verstärkten Bildung und Artikulation nationaler Spannungen, die schließlich während und nach dem Ersten Weltkrieg ihren Höhepunkt fanden.

Diese Spannungen betrafen in erster Linie die Verteilung der Spendengelder. Wie bereits erwähnt, galt Internationalität auch hier als erklärtes Grundprinzip. Die Generalleitung des Kindheitsvereins wurde auch in krisenhaften Zeiten nicht müde, seinen „caractère essentiellement international“ zu betonen.[37] Dennoch lässt sich vor allem für den deutschen Zweig im späten 19. Jahrhunderts ein deutlicher Trend zur Nationalisierung beobachten, welcher sicherlich vor dem Hintergrund von Reichsgründung, deutsch-französischen Spannungen und aufkommenden kolonialen Rivalitäten zu erklären ist.[38] Diese Spannungen entzündeten sich vor allem an zwei Themen. Zum einen forderten führende Vertreter des Kindheitsvereins in Aachen zusammen mit der Deutschen Bischofskonferenz zunehmend auch den Einsatz von Mitteln des Kindheitsvereins für katholische Waisenkinder in den mehrheitlich protestantischen Regionen Norddeutschlands. Da Paris (in Rücksprache mit Rom) eine entsprechende Umwidmung der Spendengelder nicht genehmigte, gründete die Aachner Vereinsleitung 1894 zu diesem Zweck einen eigenen Verein, den sogenannten Schutzengelverein, welcher ebenfalls in den Zeitschriften des Kindheitsvereins beworben wurde.[39] Zum anderen wurde in Aachen zunehmend die Forderung laut, deutsche Institutionen und Territorien stärker bei der Verteilung der Spendengelder des Kindheitsvereins zu berücksichtigen. Die Neugründung deutscher Missionsorden im späten 19. Jahrhundert und deren verstärkter Einsatz in den Kolonien des Kaiserreichs stärkten diese national orientierten Argumentationsmuster. Insbesondere die deutschen Missionsorden klagten, dass sie bei der Verteilung der Gelder im Vergleich mit ihren französischen Pendants zu Unrecht das Nachsehen hätten. Dies führte auch zu medialen Kampagnen in der katholischen Presse (insbesondere der Kölnischen Volkszeitung[40]) bis hin zur Forderung einer Loslösung des deutschen Kindheitsvereins von Paris. Diese Kampagnen wurden wesentlich durch die Tatsache angeheizt, dass die Spendeneinnahmen in Deutschland die aus Frankreich inzwischen deutlich übertrafen.[41] Vor allem die 1875 gegründete Missionsgesellschaft des Göttlichen Wortes (SVD) forderte die Aachener Zentrale des Kindheitsvereins dazu auf, bezüglich der Spendenverteilung Druck auf den Pariser Zentralrat auszuüben. Laut der internen Vereinsgeschichtsschreibung war es letztlich vor allem der Direktor des deutschen Vereinszweiges Heinrich Oster, der eine Abspaltung von Paris verhinderte.[42] Gleichzeitig erreichte Oster 1894 eine – aus deutsch-nationaler Sicht relevante – Revision der Statuten: Während bis dato ausschließlich Franzosen als Mitglieder des Pariser Zentralrats zugelassen waren, erhielt Oster nunmehr einen festen Sitz und erreichte wenig später außerdem die Ernennung von Fürst Karl zu Löwenstein zum ständigen Vertreter Süddeutschlands.[43] Damit war die Gefahr einer Abspaltung fürs Erste gebannt. Interessanterweise zeigen auch die an Oster und Löwenstein gerichteten Unterstützungsansuchen deutscher Missionare, dass diese durchaus an eine auf Nationalität beruhende Solidarität ihrer Geldgeber appellierten. So bat zum Beispiel Hermann Bücking, SVD-Mitglied und Vorsteher der katholischen Mission in Deutsch-Togo, in einem Ansuchen um die Subventionierung der kinderbezogenen Missionsarbeit in seiner Präfektur Heinrich Oster darum, in Paris für seine „unter der Togosonne schwitzenden Landsleute“ Fürsprache zu leisten.[44] Letztlich war es den vielfachen Aushandlungen zwischen Aachen, Paris, Rom und anderen Zentren zu verdanken, dass der Kindheitsverein trotz erheblicher nationaler Auseinandersetzungen im frühen 20. Jahrhundert als internationale katholische Einrichtung überlebte.

Abschließend kann also konstatiert werden, dass sich die Geschichte des Kindheitsvereinsvor allem aus zwei Gründen nicht zufriedenstellend im Rahmen einer nationalen Geschichtsschreibung erzählen lässt. Zum einen verweisen bereits Gründung, Ausbreitung und Funktionsweise des Vereins auf dessen europäische und transnationale Dimension. Wenngleich seine Internationalität stets auch zu Spannungen führte und der nationale Rahmen durchaus bedeutungsvoll war, so waren sowohl die Idee einer europäisch-christlichen als auch die einer grenzüberschreitend-katholischen Gemeinschaft für seine Funktionsweise und Organisationsform konstitutiv. Zum anderen waren die im Rahmen der Vereinsaktivitäten produzierten sozialen und religiösen Bezüge grundsätzlich relational, d.h. sie setzten die Vereinsmitglieder in Deutschland nicht nur mit anderen Katholikinnen und Katholiken, sondern auch mit den nicht-christlichen Kindern in China und Afrika in Beziehung. Durch ihr Engagement für „Heidenkinder“, so der allgemeine Tenor, konnten die katholischen Kinder in Deutschland und Europa gottgefällig und moralisch handeln. Andererseits konnten sie sich das Gebet und die religiöse Fürsprache der durch ihr Engagement „geretteten“ „Heidenkindlein in der Ferne“[45] sichern. Der Verein beförderte also die Bildung vielfacher (imaginierter) Verbindungen und Beziehungen, die lokale, regionale und nationale Grenzen vielfach überschritten, wobei jedoch die Idee eines „christlichen Europas“ stets einen zentralen Bezugspunkt bildete.



[1] Essay zur Quelle: Meunier, Winand Hubert: Der Name des Kindheitsvereines (1908).

[2] Die Sammlung war als Redevorlage für den ganzen deutschsprachigen Raum konzipiert, wobei der Verfasser die Redner dazu aufforderte, den Text an die „übliche Volkssprache“ anzupassen. Vgl. Meunier, Winand Hubert, Das Werk der heil. Kindheit. Eine Sammlung von geistlichen Vorträgen über und für den Kindheitsverein, Köln ²1908, S. 5.

[3] Vgl. die mit diesem Essay veröffentlichte Quelle: Meunier, Winand Hubert, Der Name des Kindheitsvereines oder der Kindheitsverein ist ein Kinderverein und darum ein überaus schöner Verein, in: ders. (Hg.), Das Werk der heil. Kindheit. Eine Sammlung von geistlichen Vorträgen über und für den Kindheitsverein, Köln ²1908, S. 11–16. Im Folgenden stammen alle Zitate, soweit nicht anders ausgewiesen, aus der hier mit veröffentlichten Quelle.

[4] Gegen Ende der Predigt macht der Autor dies auch explizit. Neben Eltern (und insbesondere Müttern) übernahmen Pfarrer, Ordensfrauen sowie Lehrerinnen und Lehrer Schlüsselfunktionen im Kindheitsverein. Außerdem verweist die Korrespondenz der deutschen Vereinsleitung auf dessen vorwiegend erwachsene Trägerschaft. Vgl. Archiv Pontificia Opera della Santa Infanzia Rom (POSI), Serie E, 3 Allemagne (1850–1923), Sr. Aloysia Vossen, 06.06.1885.

[5] Die zentrale Bedeutung von „Unschuld“ für die Mobilisierung von Empathie betonen Wilson, Richard Ashby; Brown, Richard D., Introduction, in: dies. (Hgg.), Humanitarianism and Suffering. The Mobilization of Empathy, Cambridge 2009, S. 1–28, bes. S. 21–23.

[6] Kürzlich rückten Kinder als Teil der Missionsbewegung in den Blick der Forschung. Vgl. z.B. Harrison, Henrietta, „A Penny for the Little Chinese“. The French Holy Childhood Organization in China, 1843–1951, in: American Historical Review 113 (2008), S. 72–92; Prochaska, Frank, Little Vessels. Children in the Nineteenth-Century English Missionary Movement, in: The Journal of Imperial and Commonwealth History 6 (1878), S. 109–118; Stanley, Brian, Missionary Regiments for Immanuel’s Service. Juvenile Missionary Organization in English Sunday Schools, 1841–1865, in: Wood, Diana (Hg.), The Church and Childhood (Studies in Christian History; 31), Oxford 1994, S. 391–403; Vallgårda, Karen, Imperial Childhoods and Christian Mission. Education and Emotions in South India and Denmark, New York 2015. Die europäische Dimension diskutiert ausführlich: Heywood, Sophie, Missionary Children. The French Holy Childhood Association in European Context, 1843–c. 1914, in: European History Quarterly 45 (2015), S. 446–466.

[7] Vgl. Hölzl, Richard, “Mitleid” über große Distanz. Zur Fabrikation globaler Gefühle in Medien der katholischen Mission, 1890–1940, in: Habermas, Rebekka; Hölzl Richard (Hgg.), Mission Entangled. Missionarinnen und Missionare als Akteure der Transformation und des Transfers. Außereuropäische Kontaktzonen und ihre europäischen Resonanzräume (1860–1940), Köln 2014, S. 265–294, bes. S. 267f.

[8] Vgl. Viaene, Vincent, Nineteenth-Century Catholic Internationalism and its Predecessors, in: Green, Abigail; Viaene, Vincent (Hgg.), Religious Internationals in the Modern World. Globalization and Faith Communities since 1750, New York 2012, S. 82–110, bes. S. 92–94.

[9] Vgl. Der Verein der heil. Kindheit (Hg.), Der Verein der heiligen Kindheit. Geschichte seines Entstehens, seines Wachsthums und gegenwärtigen Bestandes, Mainz 1845.

[10] Die Idee und Praxis des Sklavenloskaufs erlebte im Missionskontext des 19. Jahrhunderts eine bislang kaum erforschte Renaissance, wobei Kindersklaven zunehmend ins Zentrum rückten. Vgl. Clarence-Smith, William Gervase, The Redemption of Child Slaves by Christian Missionaries in Central Africa, 1878–1914, in: Campell, Gwyn; Miers, Suzanne; Miller, Joseph (Hgg.), Child Slaves in the Modern World, Athens 2011, S. 173–190. Den europäischen Kontext diskutiert Stornig, Katharina, Figli della Chiesa. Riscatti e globalizzazione del welfare Cattolico (1840–1914), in: Genesis. Rivista della Società Italiana delle Storiche 14 (2015), H. 1, S. 55–83.

[11] Dies war in §2 des dritten Abschnitts der Statuten festgelegt.

[12] Vgl. Jansen, Wilhelm, Das Päpstliche Missionswerk der Kinder in Deutschland. Seine Entstehung und seine Geschichte bis 1945, Mönchengladbach 1970, S. 14. Die Bedeutung der Erfahrung von Revolution und Exil für die Entstehung des katholischen Internationalismus betont Viaene, Nineteenth-Century Catholic Internationalism, S. 87.

[13] Einige Texte sprachen explizit von der „Heiligung der Christenkinder“ durch das Engagement für Andere. Vgl. Hager, Edmund, Die heilige Kindheit. Ein Büchlein für Kinder, Eltern und Erzieher, Katecheten und Lehrer, Salzburg 1874, S. 1.

[14] So hieß es zum Beispiel in einer amerikanischen Werbeschrift des Kindheitsvereins: „How indeed can those children after having been so generous in their youth […,] after having tested the happiness of doing good, how can they in a more advanced age refuse practices that were for them a source of so much joy and grace?” O.A., The Society of the Holy Childhood, 1861, S. 11.

[15] Einen Überblick bietet Heywood, Colin, Introduction, in: ders. (Hg.), A Cultural History of Childhood and Family in the Age of Empire, London 2014, S. 1–18. Für die Zeit ab 1830 im Besonderen vgl. Cunningham, Hugh, Children & Childhood in Western Society since 1500, London 1995, S. 134–162.

[16] Der Verein der heiligen Kindheit, Wien 1855, S. 31f.

[17] Vgl. Jansen, Das Päpstliche Missionswerk, S. 100–102.

[18] Vgl. Quelle zum Essay, S. 15.

[19] Vgl. Harrison, “A Penny”, S. 75.

[20] Vgl. Kindermissionswerk/Die Sternsinger (Hg.), Damit Kinder leben können. Die Geschichte des Kindermissionswerkes/Die Sternsinger, Düsseldorf 2000, S. 73.

[21] Vgl. Report on the Association of the Holy Childhood, in: POSI, Serie A, 3 Documentation sur l’Œuvre.

[22] Die Annalen des Vereins der Hl. Kindheit (Pittsburgh) erschienen von 1900 bis 1911.

[23] Vgl. O.A., Wie das Werk der hl. Kindheit bei den kleinen Schwarzen in Lome, der Hauptstation von Deutsch-Togo (Afrika) von dem Missionar Herrn P. Franz Schröder, eingeführt wurde, in: Jahrbücher des Werks der heil. Kindheit 66 (1914), H. 2, S. 111–113; Witte, Anton, Einführung des Kindheit-Jesu-Vereins in Palime, in: Steyler Missionsbote 44 (1916–1917), H. 6, S. 87f.

[24] Vgl. Viaene, Nineteenth-Century Catholic Internationalism, S. 94f.

[25] Vgl. POSI, Serie F, 17 Demandes d’images et de médailles (1868–1950) und 30 Demandes de cantiques (1907).

[26] Vgl. Der Verein der heil. Kindheit (Hg.), Der Verein, S. 7.

[27] So situierte bereits die erste deutsche Werbeschrift den Verein auch in einem Zivilisierungsdiskurs, indem sie fragte: „Soll es also möglich sein, daß jemand, ich will gar nicht sagen, der ein Christ, ein Katholik, ist, sondern der ein menschlich fühlendes Herz in seinem Leibe trägt, diesem Werke hinderlich in den Weg trete? Und wenn er es thut, ist er nicht einem Wilden ähnlich?“ Vgl. Der Verein der heil. Kindheit (Hg.), Der Verein, S. 14.

[28] Meunier, Jesus, der göttliche Kinderfreund, in: ders. (Hg.), Das Werk der heil. Kindheit, S. 64–76.

[29] Meuniers Sammlung enthielt eine ganze Predigt zu diesem Thema, die ein Rezensent aufgrund der „enthaltenen Scheußlichkeiten“ heftig kritisierte. Meunier, Das Schicksal der Kinder bei den vorchristlichen Heiden, in: ders. (Hg.), Das Werk der heil. Kindheit, S. 51–63.

[30] Meunier, Die Sorge der Christenkinder für die Heidenkinder ist eine Pflicht der Barmherzigkeit, in: ders. (Hg.), Das Werk der heil. Kindheit, S. 42–51.

[31] Der Verein der heil. Kindheit (Hg.), Der Verein, S. 19f.

[32] Ebd.

[33] Vgl. Jahrbücher des Werks der heil. Kindheit, (1880), H. 1, S. 24f.

[34] Vgl. z.B. diverse Hefte in: Annali della Santa Infanzia 38 (1890).

[35] Eine kanadische Werbeschrift berichtete in der Rubrik „Interesting and edifying examples“ von Akten kindlicher Wohltätigkeit in Algerien, Frankreich, Spanien, Holland, Brasilien und Belgien. Vgl. O.A., Institution of the Holy Childhood for the Redemption of the Children of Infidels, Montreal 1860, S. 40–45.

[36] O.A., The Society, S. 6.

[37] POSI, Serie A, 3 Documentation sur l’Œuvre, Centenaire de l’Œuvre Pontificale de la Sainte-Enfance, S. 3.

[38] Ein anderes Beispiel für eine Vereinsniederlassung, die sich aufgrund von nationalen politischen Interessen und antifranzösischen Ressentiments über weite Strecken des 19. Jahrhundert ganz vom Pariser Zentralrat löste, war der Verein der Heiligen Kindheit in Wien.

[39] Der Schutzengelverein stand unter der kirchlichen Leitung des Kölner Erzbischofs. Vgl. Jansen, Das Päpstliche Missionswerk, S. 54.

[40] Vgl. ebd., S. 64f.

[41] Heywood führt den Rückgang der französischen Einnahmen vor allem auf den Verlust Elsass-Lothringens, stagnierende Wirtschaft und Geburtenraten sowie die antiklerikale Regierung zurück. Vgl. Heywood, Missionary Children, S. 458.

[42] Jansen, Das Päpstliche Missionswerk, S. 65.

[43] Vgl. Kindermissionswerk/Die Sternsinger (Hg.), Damit Kinder, S. 71.

[44] POSI, Serie C, 56 Togo, Hermann Bücking, 29.11.1896.

[45] Diese Zeile bildete die zentrale Passage eines Vereinsliedes, welches wie folgt begann: „Heidenkindlein in der Ferne, Wie machst du das Herz mir schwer! Gingst zur Schul‘ und Kirche gerne, Wenn dort Schul‘ und Kirche wär‘; Drum will ich mein Scherflein spenden, Beten mit gefalt’nen Händen: Zu uns komme, Herr, dein Reich! Zu uns komme, Herr, dein Reich!“ Die folgenden acht Strophen begannen schließlich leicht abgewandelt: „Armes Kindlein in der Ferne, – Wie machst du das Herz mir schwer!“ Menhofer, P. Gerhard, Handbüchlein des Kindheit Jesu-Vereines, Innsbruck 1923, S. 41f.



Literaturhinweise

  • Fleckenstein, Gisela; Schmiedl, Joachim (Hgg.), Ultramontanismus.Tendenzen der Forschung, Paderborn 2005.
  • Green, Abigail; Viaene, Vincent (Hgg.), Religious Internationals in the Modern World. Globalization and Faith Communities since 1750, New York 2012.
  • Habermas, Rebekka; Hölzl, Richard (Hgg.), Mission Entangled. Missionarinnen und Missionare als Akteure der Transformation und des Transfers. Außereuropäische Kontaktzonen und ihre europäischen Resonanzräume (1860-1940), Köln 2014.
  • Heywood, Colin (Hg.), A Cultural History of Family and Childhood in the Age of Empire, London u.a. 2010.
  • Jensz, Felicity; Acke, Hanna (Hgg.), Missions and Media (Missionsgeschichtliches Archiv 20), Stuttgart 2013.