Drei Karten globaler Raumordnung auf Grundlage der Heartland-Theorie (1904 / 1934 / 1944)

Die Heartland-Theorie des britischen Geografen Halford J. Mackinder ist eines der bedeutendsten geostrategischen Konzepte, das kontinuierlich bis in die Gegenwart hinein als Erklärungsmuster herangezogen wird, um geopolitische Ambitionen einzelner Staaten oder Konflikte im globalen Kontext zu deuten.

Drei Karten Globaler Raumordnung auf Grundlage der Heartland-Theorie (1904 / 1934 / 1944)

Die Heartland-Theorie des britischen Geografen Halford J. Mackinder ist eines der bedeutendsten geostrategischen Konzepte, das kontinuierlich bis in die Gegenwart hinein als Erklärungsmuster herangezogen wird, um geopolitische Ambitionen einzelner Staaten oder Konflikte im globalen Kontext zu deuten. Entscheidend für die Präsenz und anhaltende Popularität der Theorie ist die Verbreitung von Karten, in denen die grundlegenden Parameter der Theorie abgebildet werden. Die Karte fungierte als komplexitätsreduzierende Vermittlerin zwischen Theorie und Rezipient:innen. Durch die Karte etablierte sich die Imagination einer globalen Raumordnung, die sowohl für die deutsche Geopolitik in der Zwischenkriegszeit als auch für die US-amerikanische Debatte über die Ausrichtung der Außenpolitik während und nach dem Zweiten Weltkrieg Wirkmacht besaß.

The naturel seats of power (1904)

Auf der Karte, die dem Abdruck des Vortrags „The geographical pivot of history“ von Mackinder am 25. Januar 1904 vor der Royal Geographical Society beigefügt ist, steht die pivot area im Zentrum einer dreigliedrigen, globalen Raumordnung. 1904 verwendete Mackinder den Begriff pivot area (Dreh- und Angelpunkt) zur Beschreibung des Großraums, den er ab 1919 durchgehend als Heartland bezeichnete. Die Mercator-Projektion verzerrt Regionen im Süden und im Norden der Karte. Je weiter ein Gebiet vom Äquator entfernt ist, desto größer wird es auf der zweidimensionalen Karte abgebildet. In der Konsequenz erscheint die pivot area größer und damit hervorgehoben gegenüber anderen Weltregionen. Die Karte zeigt eine globale Raumordnung, die in drei charakteristische Regionen eingeteilt ist. Im Zentrum steht die pivot area, um die sich in zwei hintereinanderliegenden Halbmonden zuerst die inneren und marginalen Regionen, dahinter die äußeren und insularen Gebiete anschließen. Die Karte verzichtet auf die Abbildung von Grenzen zwischen politischen Entitäten, verwendet aber geografische Begriffe („Wüste“), um Klimazonen zu beschreiben.

Abb. 1: Halford J. Mackinder, „The natural seats of power“, The geographical pivot of history, in: The Geographical Journal 23/4 (1904), S. 435.

Karte des geopolitischen Drehzapfens der Weltgeschichte (Nach Mackinder)(1934)

Der deutsche Geopolitiker Karl Haushofer adaptierte Mitte der 1920er-Jahre Mackinders Theorie. Haushofers Idee eines Kontinentalblocks, bestehend aus Deutschland, Italien, der Sowjetunion und Japan, sah die pivot area im Zentrum eines Machtblocks, der unter deutscher Führung zum Gegengewicht zur britischen Großmacht werden sollte. Zur Veranschaulichung seiner Adaption griff Haushofer die Karte Mackinders auf und ergänzte sie um weitere Elemente, Symbole und Spezifikationen, die dem Vokabular der deutschen Geopolitik entnommen waren (z.B. „Hauptdruckräume“). Haushofer hielt sowohl an der Mercator-Projektion als auch am Begriff pivot area fest, obwohl Mackinder 1919 in „Democratic Ideals and Reality“ den Großraum nunmehr durchgehend als Heartland bezeichnete, woran ersichtlich wird, dass Haushofer sich ausschließlich auf die Version der Theorie von 1904 berief. Haushofer zieht Linien in die Karte ein, die die von Mackinder entworfenen Halbmonde als Teile der globalen Raumordnung voneinander abgrenzen. Die Territorien sogenannter Haupt-Kultur-Mächte werden abgrenzt.

Abb. 2: Karl Haushofer,„Karte des geopolitischen Drehzapfens der Weltgeschichte (Nach Mackinder)“, Weltpolitik von heute, Berlin 1934, S. 50.

Geopolitical Map of Eurasia(1944)

In den USA war es Nicholas J. Spykman, der Mackinders Theorie aufnahm, sie aber in eine ganz eigenständige Richtung weiterentwickelte, indem er den Fokus nicht mehr auf das Heartland, sondern auf die von ihm als Rimlands bezeichneten Regionen lenkte, die direkt an das Heartland angrenzten. Spykman nutzte eine von Osborn Maitland Miller modifizierte Variante der Mercator-Projektion, die Regionen im Süden und Norden des Globus weniger stark verzerrte, was zur Relativierung der Größe des Heartlands im Vergleich zu den Rimlands führte. Das Heartland wird ebenso wie das Rimland von einer Linie umrissen. Spykman kombinierte geopolitische und topografische Kartenelemente, um die natürliche Unterscheidung von Heartland und Rimlands zu betonen. Die Karte ist weitaus komplexer als ihr Vorbild, zumal sie neben den topografischen Elementen, die Verkehrswege zu Land, Luft und Wasser integriert, worin sich die Anpassung der Karte an die zeitgenössischen militär-strategischen Entwicklungen zeigt.

Abb. 3: Nicholas John Spykman,„Geopolitical Map of Eurasia“, The Geography of the Peace, hrsg. von Helen R. Nicholl, Neuaufl., Hamden, Conn. 1969, S. 38.

Zugehöriger Essay: Travelling spatial imagination - Die internationale Popularisierung der Heartland-Theorie Halford J. Mackinders

Travelling spatial imagination – die internationale Popularisierung der Heartland-Theorie Halford J. Mackinders[1]

Von Oliver Krause

Die Wiederkehr einer geopolitischen Theorie

In Anbetracht des Aufmarschs der russischen Armee an der ukrainischen Grenze vor Kriegsausbruch rekurrierte der Schweizer Journalist Eric Gujer in der Samstagsausgabe der Neuen Zürcher Zeitung vom 19. Februar 2022 auf eine geopolitische Theorie vom Beginn des 20. Jahrhunderts, um die langfristigen Ziele des Machtstrebens Wladimir Putins zu beleuchten.

„Damals [1919] stand die eurasische Landmasse, der aus Europa und Asien bestehende Superkontinent, im Zentrum des Interesses. Wer dieses kontrolliere, beherrsche die Welt, behauptete der Geograf Halford Mackinder. Seit China zur Aufholjagd angesetzt hat, ist Eurasien noch wichtiger geworden. Hier leben fünf Milliarden Menschen, die zwei Drittel des globalen Bruttoinlandsprodukts erwirtschaften. […] Mehr noch als vor hundert Jahren gilt heute der Satz: Wer den Superkontinent kontrolliert, beherrscht die Welt. Das gibt dem von einer postsowjetischen Schwäche genesenen Russland neue Chancen. Putin will, daran besteht kein Zweifel, Russland einen Platz als Grossmacht neben den USA und China verschaffen.[2]

Gujer transponierte Mackinders Heartland-Theorie, deren Grundzüge der Brite erstmals 1904, in überarbeiteter und erweiterter Form 1919 und noch einmal 1943 publizierte[3], in die Gegenwart, um eine Deutung der geopolitischen Konstellation zu liefern. Edward Said und Michael C. Frank bezeichnen so flexible Theorien als „travelling theories“.[4] Die Heartland-Theorie wird von Akteuren immer wieder umgeformt, ergänzt und neu interpretiert, bleibt aber bestimmte Faktoren betreffend über die Jahrzehnte hinweg resistent gegen Veränderungen. Maßgeblich für den internationalen und interkontinentalen Transfer der Theorie sind neben dem Text komplexitätsreduzierende Karten. Sowohl Mackinder selbst als auch seine Adepten Karl Haushofer und Nicholas J. Spykman publizierten Karten in ihren Veröffentlichungen, die sich als Allegorien zukünftiger globaler Raumordnungen etablierten, in denen sehr unterschiedliche Globalisierungsentwürfe zum Ausdruck kamen, die alle den gleichen Ursprung zu haben scheinen.

Die zentrale geografische Kategorie der Heartland-Theorie ist ein Großraum, den Mackinder bereits 1904 als heart-land, vornehmlich aber noch als pivot area bezeichnet hatte.[5] Zum zentralen Begriff seiner Theorie machte Mackinder den Begriff Heartland erst in seinem Buch „Democratic Ideals and Reality“, das nach dem Ersten Weltkrieg erschien, womit auch konzeptionelle Änderungen einhergingen.[6]Pivot area-Konzept (1904) und Heartland- Theorie wurden in der Rezeption trotz zahlreicher Unterschiedlichkeiten als Einheit wahrgenommen, wofür Mackinder unter anderen auch selbst sorgte, indem er 1943, darauf verwies die Heartland-Theorie bereits 1904 entwickelt zu haben.[7]

Der Ursprung der Heartland-Theorie Mackinders – das pivot area-Konzept

Die pivot area verortete Mackinder 1904 im nördlichen Asien. Sie erstreckte sich bis in den Mittleren Osten und die westlichen Provinzen Russlands bzw. der Sowjetunion (Abb. 1). Entscheidend war die Idee, dass die Beherrschung eines Großraums, der keinen Zugang zu eisfreien Häfen besaß, auf der Basis der vorhandenen Rohstoffe – Öl, Erze, Holz – das Potential bot, den Beherrscher zur politischen Großmacht aufsteigen zu lassen, sofern es gelingen würde, die Rohstoffe durch den Ausbau der Transportwege und die Industrialisierung der Region mittels einer wachsenden Bevölkerung nutzbar zu machen. Beherrsche man die pivot area, könne über Zwischenschritte aus der regionalen Großmacht ein Hegemon werden, indem angrenzende Gebiete, zuerst Osteuropa, später der gesamte europäische und asiatische Kontinenterobert würden. Die Expansion würde den Zugang zu den Weltmeeren über eisfreie Häfen ermöglichen und aus der Landmacht eine amphibische Weltmacht machen. Mackinder, der als britischer Imperialist im Interesse des Empires argumentierte, sah dieses Szenario als unumgängliches Ende der Geschichte, wenn es nicht gelänge, eine Allianz gegen den Beherrscher der pivot area zu schmieden.

Das Aufzeigen der Parameter verdeutlicht, dass die Bindung des Konzepts an den von Mackinder identifizierten Großraum eine Konstruktion ist, die das Bedrohungsszenario vor allem auf dem Zugang zu Rohstoffen und der Motivation einer Bevölkerung aufbaut und damit weniger standortgebunden ist, als das Umreißen des Großraums auf der Karte suggeriert. Zudem sind Mackinders Argumente von sozialdarwinistischen Konzepten des naturgegebenen Konflikts zwischen Bevölkerungsgruppen, aber auch von den Ideen Lamarcks geprägt, die der natürlichen Umwelt einen Einfluss auf die Herausbildung von typischen Eigenschaften und physiologischen Erscheinungen zusprechen, die in jedem Lebewesen bereits angelegt seien. [8]

Mackinder führte im pivot area-Konzept historische Analogien an, um nachzuweisen, dass die Bedrohung für Europa immer aus dem Osten erwuchs. Von Dschingis Khan bis zu den Osmanen bedrohten asiatische Reitervölker den Okzident, deren Mobilität ihnen die Expansion über das angestammte Gebiet hinaus ermöglichte. Mackinder führte den Expansionsdrang auf die lebensräumlichen Bedingungen zurück, in denen die Nomaden aufwuchsen. Das Klima in der pivot area machte die Reitervölker zu Eroberern. Im Gegensatz zu den Reitervölkern standen die seefahrenden Völker, deren Mobilität durch technische Errungenschaften wie den Suezkanal erhöht wurde und die den Reitervölkern dadurch überlegen waren. Ein Instrument, um die Mobilität auf dem Festland zu verbessern, sah Mackinder im Ausbau des Schienennetzwerks in der pivot area, die 1904 vom russischen Zarenreich beherrscht wurde. In einer Verbindung zwischen dem Zarenreich und dem Deutschen Kaiserreich lag für Mackinder das größte Potential, um die Erschließung der pivot area durch die Eisenbahn voranzutreiben und gleichzeitig einen Zugang zu eisfreien Meeren zu gewinnen, was zur Errichtung eines empire of the world führen könnte, das die bestehende balance of power zum Nachteil für Großbritannien aus dem Gleichgewicht bringen würde. Das zweite Szenario war die Einnahme der pivot area durch China mit der organisatorischen Unterstützung Japans. Darin spiegeln sich bereits Überlegungen zu den Folgen des russisch-japanischen Kriegs wider, der zwei Monate vor der Veröffentlichung von Mackinders Artikel begonnen hatte.[9] Mackinders pivot area-Konzept fand in Großbritannien jedoch nur wenig Gehör und fiel dem Vergessen anheim, da das Zarenreich nach dem russisch-japanischen Krieg nicht mehr als Gefahr für britische Interessen galt und sich weder die Chinesen noch die Japaner anschickten, die Herrschaft über die pivot area zu gewinnen.

Mackinders Entwurf einer zukünftigen Weltordnung – die Heartland-Theorie

Nach dem Ersten Weltkrieg veränderte Mackinder das pivot area-Konzept unter dem Eindruck des deutschen Großmachtstrebens, was an dem grundsätzlich beschriebenen Bedrohungsszenario des ab 1919 als Heartland-Theorie firmierenden Denksystems indes nichts änderte. In „Democratic Ideals and Reality“ von 1919 galten Mackinder die Deutschen, nicht mehr die Slawen, Chinesen oder Japaner, als das bedrohlichste Volk; seine expansive Politik und das Streben nach der Kontrolle über das Heartland beruhe auf der Kombination von preußischem Militarismus und Fichtes Philosophie.[10] Mit der Neuausrichtung wandelten sich die Motive für die Expansion. Mackinder führte in der Heartland-Theorie kulturelle Faktoren für den deutschen Expansionsdrang an. Mit der Wendung von einer geografisch-deterministischen zu einer kulturalistischen Argumentation bot die Theorie eine vollkommen neue Lesart an, als das ursprüngliche pivot area-Konzept und eröffnete dadurch weitere Anknüpfungspunkte für Adaptionen. Mackinder selbst hatte gezeigt, dass die Motive für den Expansionsdrang austauschbar waren. Nationalistische und militaristische Ideologien galten fortan als mögliche Motivationen für die Expansion. Die Flexibilität der Theorie, die Mackinder ihr selbst einschrieb, machte den Theorie-Komplex, den er geschaffen hatte, vielseitig adaptierbar.

Was Mackinder in „Democratic Ideals and Reality“ neben der Ausdifferenzierung des Konzepts und der Abwandlung der Expansionsmotive gelang, war die formelhafte Zusammenfassung der Heartland-Theorie, die im Zusammenspiel mit der kartografischen Abbildung zur Popularität der Theorie beitrug. Die Formel beinhaltete eine Kausalität, die auf ein Ziel hin ausgerichtet war, das unvermeidbar und daher teleologisch zu sein schien. Gleichzeitig erweiterte Mackinder in der Heartland-Theorie die interkontinentale Begrenztheit des pivot area-Konzepts auf Eurasien zur Betrachtung einer dystopischen globalen Raumordnung, da die Beherrscher des Heartlands über den eurasischen Kontinent hinaus die Weltinsel (Europa, Asien und Afrika) erobern würden. Vor einer solchen Machtkonzentration müssten auch die übrigen Mächte kapitulieren.

„Who rules Eastern Europe commands the Heartland.

Who rules the Heartland commands the World Island.

Who rules the World Island commands the World.”[11]

Erst die intensivere Auseinandersetzung mit der Neuordnung Europas nach dem Ersten Weltkrieg machte die Ideen Mackinders anschlussfähig für nationale Strategien geopolitischen Denkens aus dem Bewusstsein verlorengegangener Stärke heraus. Das suchende Tasten nach einer Position in der neuen Ordnung nach dem Versailler Friedensschluss führte zur intensiven Rezeption und Adaption des pivot area-Konzepts im Deutschen Reich, die Akteure wie Karl Haushofer als intellektuelle Grundlage für die Begründung eines territorialen Revisionismus instrumentalisierten.[12]

Von der Dystopie zur Utopie – Karl Haushofers Wendung des pivot area-Konzepts

Die Flexibilität der Ideen Mackinders zeigte sich ertsmals in der Adaption des pivot area-Konzepts durch den deutschen Geografen Karl Haushofer in den 1920er-Jahren. Haushofer, der Doyen der deutschen Geopolitik und Herausgeber der Zeitschrift für Geopolitik, bezog sich, wie wenige nach ihm, ausschließlich auf das pivot area-Konzept von 1904. Auch wenn er „Democratic Ideals and Reality“ kannte, bezog er sich aus verständlichen Gründen nicht auf die Heartland-Theorie. Mackinder hatte die Deutschen als Bedrohung für den Weltfrieden und Kriegstreiber dargestellt. Haushofer war hingegen von der Idee eines Kontinentalblocks fasziniert, die er im pivot-area-Konzept vorgezeichnet fand, der durch das Deutsche Reich und die Sowjetunion gebildet werden könnte, an den sich Japan als Seemacht im Osten anschließen würde. Damit könnte ein entscheidendes Gegengewicht eines landbasierten Machtblocks zu Großbritanniens Seemacht gebildet werden.[13] Haushofer hatte einige Zeit als Militärbeobachter in Japan verbracht und über den Aufstieg Japans an der Universität München promoviert, an der er später Honorarprofessor für Geografie wurde.[14]

Was Haushofer vollbrachte, war die Verwandlung des dystopischen pivot area-Konzepts des britischen Imperialisten Mackinder in eine intellektuell anmutende Utopie deutscher Weltmachtstellung, indem er für ein Bündnis des Deutschen Reichs mit der Sowjetunion argumentierte. Am Zustandekommen des deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakts hatte Haushofer allerdings keinen Anteil, so wie er im Allgemeinen sehr geringen direkten Einfluss auf die Außenpolitik des „Dritten Reichs“ besaß.[15] Haushofer sah das pivot area-Konzept als Anleitung zur Weltherrschaft einer kontinentalen Macht, was ganz neue Möglichkeiten der Rezeption und Adaption im Anschluss eröffnete, bis hin zu der gegenwärtiger neofaschistischer Intellektueller wie Alexander Dugin.[16]

Haushofer öffnete Mackinders pivot area-Konzeptfür utopische Narrative, die sich in der deutschen Geopolitik mit einem Revisionismus verbanden, der die Argumentation lieferte, um abgetrennte Gebiete zurückzufordern, die von deutschsprachiger Bevölkerung besiedelt waren, was zur Popularität der deutschen Geopolitik in konservativen Kreisen beitrug.

Die Karte aus Haushofers populärem Buch „Weltpolitik von heute“ (Abb. 2) nimmt Mackinders Einteilung der Welt auf, ergänzt die Darstellung allerdings um zahlreiche Details, die zur Differenzierung innerhalb der dreigeteilten Weltordnung führen (vgl. Abb. 1).[17] Haushofer hielt an der Mercator-Projektion Mackinders und der Begrenzung der pivot area fest. Am wichtigsten für die Differenzierung sind die zusätzlichen Schraffuren in der Karte, die zur Identifikation von spezifischen Räumen dienen, was eine Ausdifferenzierung innerhalb der Regionen bewirkte, sowie die erklärende Legende. Auffällig ist, dass Haushofer im Gegensatz zu Mackinder konkrete Linien in die Karte einzog, um den inneren und äußeren Halbmond voneinander abzugrenzen [siehe Abb. 1 und 2]. Die Setzung der Linien führte zum Ausschluss Frankreichs aus dem inneren Halbmond, wodurch die französische Kultur nicht als „Haupt-Kultur-Macht“ des inneren Halbmonds angeführt werden musste, was als bewusste Entscheidung Haushofers gesehen werden kann, um die Überlegenheit der deutschen Kulturnation gegenüber Frankreich zu betonen. Die Konzentration auf Kulturen ermöglichte es Haushofer indes, die indische Kultur ebenso wie die griechische und die chinesische als „Haupt-Kultur-Macht“ zu kennzeichnen. Er versucht also, die kulturelle Entwicklung über Jahrtausende hinweg in einer Karte abzubilden und gleichzeitig alle „Haupt-Kulturen“ innerhalb des angestrebten Kontinentalblocks zu verorten, die sich letztlich alle gegen die imperialistischen Seemächte verbünden sollten. Die Karte zeigt, dass Haushofer nicht in nationalstaatlichen, sondern in kulturräumlichen Dimensionen dachte, wie es auch seine Zeitgenossen Leo Frobenius und Oswald Spengler taten.[18]

Für Haushofer wie für Mackinder war der Gegensatz zwischen Landmacht und Seemacht das bestimmende Motiv im Konflikt um die globale Vorherrschaft, der über die Jahrhunderte hinweg in verschiedenen Spielarten auftrat. Dem ursprünglich eurasischen Gegensatz zwischen den „meerbestimmten Randländer[n]“, die an das Mittelmeer angebunden waren, und der „zentralen Steppenmacht der Alten Welt“ folgte die imperialistische Globalisierung des Konflikts durch die Kolonisierung Südostasiens, Südamerikas und Afrikas und den Aufbau des britischen Empires, aus der die Anbindung der europäischen Mächte an die Ozeane resultierte.[19] Die Kolonien der europäischen Mächte im äußeren Halbmond bezeichnete Haushofer als „Pfandräume der randständigen Mächte“. Als randständige Mächte zählten die Niederlande, Großbritannien und Frankreich, die sich im äußeren Halbmond und damit außerhalb eines möglichen Kontinentalblocks befanden. „Hauptdruckräume“ waren die Regionen auf dem Territorium von Mächten innerhalb des äußeren Halbmonds, in denen durch Bevölkerungswachstum Druck entstand, der eine Erweiterung des eigenen Territoriums als Notwendigkeit rechtfertigte, mit der zusätzliche Siedlungsräume gewonnen werden sollten (siehe Abb. 2). Das Motiv des Bevölkerungsdrucks bestimmte allerdings nicht nur das Handeln der Mächte im äußeren Halbmond. Haushofer nutzte dieses Motiv auch als Argument, um den territorialen Revisionismus im Deutschen Reich zu begründen und machte es zum wichtigen Bestandteil der deutschen Geopolitik.[20]

Die Bevölkerungsdichte im Deutschen Reich nach dem Ersten Weltkrieg beruhte weniger auf einem starken Bevölkerungswachstum durch Geburten als vielmehr auf der Ansiedlung deutscher Bevölkerung aus abgetrennten Gebieten auf dem Reichsgebiet. Die in den abgetrennten Gebieten verbliebene deutsche Bevölkerung galt als zusätzliches Faustpfand, um eine Rückgewinnung der Gebiete zur rechtfertigen, die Haushofer auch als Präsident des Volksbunds für das Deutschtum im Ausland einforderte. Die Voraussetzung für dieses Denken, wonach der Bevölkerungsdruck eine Expansion über die nationalen Grenzen hinaus rechtfertige, lag im Rückbezug auf die Idee des Geografen Friedrich Ratzel, Staaten als Organismen zu betrachten, die verschiedene Stadien durchlebten. Ein wachsender Organismus müsse sich ausbreiten.[21] Der Staat als Organismus expandiere zum Nachteil angrenzender Gebiete und Staaten, die ein Stadium der Stagnation oder des Niedergangs durchlebten. Ein wachsender, als Organismus gedachter Staat hat nach Ratzel das natürliche Recht, sich Territorien anderer Staaten als zusätzlichen „Lebensraum“ einzuverleiben.[22] Haushofer und die deutsche Geopolitik argumentierten in der Zwischenkriegszeit für eine Ausdehnung des Deutschen Reichs in Gebiete, die als deutsche Kulturlandschaft betrachtet wurden, weil sie von einer deutschsprachigen oder deutschstämmigen Bevölkerung besiedelt waren. Dadurch ergab sich eine konzeptionelle Nähe zur nationalsozialistischen „Blut-und-Boden“-Ideologie, die vor allem in der US-amerikanischen Bewertung zur Ineinssetzung von deutscher Geopolitik und nationalsozialistischer Außenpolitik führte. In der Realität gab es entscheidende Differenzen zwischen der rassistischen „Blut-und-Boden“-Politik der Nationalsozialisten und der geografisch-deterministischen deutschen Geopolitik.[23]

In Haushofers Karte vereinten sich vielfältige theoretische und ideologische Motive, verborgen hinter grafischen Mitteln und einer verschlüsselten Legende, die ohne die Kenntnis der geopolitischen Begrifflichkeiten unverständlich bleibt. Mit ausreichender Kenntnis lässt sich an ihr allerdings das breite Spektrum der ideengeschichtlichen und ideologischen Grundlagen der deutschen Geopolitik aufzeigen. Die Komplexität der Karte Haushofers verhinderte ihre breite Rezeption. Haushofers Adaption war sehr spezifisch und an eigens entwickelte Kategorien gebunden, die außerhalb seines eigenen geopolitischen Denksystems nicht funktionierten, da sie an keine bestehende Denktradition anschließen konnten, was die Karte als Instrument der Popularisierung seines geopolitischen Konzepts unbrauchbar machte.

Ein zweites Heartland in Nordamerika – die Anschlussfähigkeit der Heartland-Theorie in den USA

Um zu verstehen, warum die Heartland-Theorie auch noch im 21. Jahrhundert als Erklärungsmuster geopolitischer Konflikte präsent ist, muss der transkontinentale Wissenstransfer im Zuge ihrer Rezeption und Adaption und der damit verbundenen Übersetzung von Text in Karte in den USA in den Fokus genommen werden. Erst die von US-amerikanischen Akteuren und europäischen Immigranten konstruierte Verknüpfung zwischen der nationalsozialistischen Außenpolitik, der deutschen Geopolitik und Haushofers Bezugnahme auf Mackinder weckte in den USA das Interesse an der Heartland-Theorie, wobei völlig außer Acht gelassen wurde, das Haushofer nie auf die Heartland-Theorie Bezug nahm[24]

Abgesehen von einigen kurzen, beiläufigen Rezensionen blieb die Rezeption des pivot area-Konzeptsin den USA ebenso aus wie in Großbritannien. Erst Mackinders „Democratic Ideals and Reality“ fand tiefer greifende Beachtung bei den Rezensenten US-amerikanischer Tageszeitungen. In der New Yorker The Sun erschien 1919, im Jahr der Publikation des Buchs, eine Rezension, in der die Theorie detailliert dargestellt wurde und Mackinders Warnung Erwähnung fand, dass es dem Deutschen Reich nicht gelingen dürfe, das Heartland einzunehmen.[25] Über den Kreis der Geografen hinaus blieben Mackinders Entwürfe einer dystopischen Weltordnung in den USA vor dem Zweiten Weltkrieg aber weitgehend unbekannt. Zudem lehnte der prominente US-amerikanische Geograf Isaiah Bowman Mackinders Heartland-Theorie aufgrund des inhärenten Determinismus ab, weswegen sie unter US-amerikanischen Geografen zwar rezipiert, jedoch nicht adaptiert wurde.[26] Das pivot area-Konzept fand dabei entweder gar keine Beachtung oder wurde als eine erste Fassung der Heartland-Theorie behandelt. Edmund A. Walsh, der 1919 die School of Foreign Service an der Georgetown University gründete und ihr vorstand, legte indes als einer der ersten Wissenschaftler in den USA, die sich dem Feld der geopolitics widmeten, den Grundstein für die intensive Auseinandersetzung mit der deutschen Geopolitik und die Adaption der Heartland-Theorie in den Vereinigten Staaten während des Zweiten Weltkriegs. Walshs Expertise qualifizierte ihn, Haushofer nach dem Zweiten Weltkrieg zu befragen, um festzustellen, ob dessen Verbindungen zum nationalsozialistischen Regime eine Anklage bei den Nürnberger Prozessen rechtfertigen würden. Walsh plädierte nach eingehender Befragung Haushofers dafür, ihn nicht in Nürnberg anzuklagen.[27]

Wirklich entscheidend für die Rezeptionsgeschichte der Heartland-Theorie in den USA war der deutsch-sowjetische Nichtangriffspakt vom August 1939. Es schien eingetreten, wovor Mackinder 1919 gewarnt und worauf Haushofer hingearbeitet hatte: Deutsche und Slawen hatten sich vereint. Das Bündnis machte Mackinder über Nacht zum geopolitischen Propheten und die Heartland-Theorie zur Blaupause für eine dystopische Teleologie der Weltgeschichte. Wer das Heartland beherrscht, bedroht vor allem die demokratisch-liberale Weltordnung, da der Beherrschung des Heartland die Kontrolle über die Weltinsel folgen würde, was als Voraussetzung für die Kontrolle der gesamten Welt galt. Keine zwei Monate nach dem Bündnisschluss veröffentlichte Richard H. Stokes einen Artikel in der Evening Post, in dem die deutsche Geopolitik und Mackinders Formel aus „Democratic Ideals and Reality“ als Stichwortgeber für das deutsch-sowjetische Bündnis identifiziert wurden, wodurch Haushofers Adaption Mackinder ebenfalls in den Fokus geriet und die Ineinssetzung von pivot area-Konzept und Heartland-Theorie ihren Ausgang nahm.[28]

Damit begann die intensive Auseinandersetzung mit der Heartland-Theorie in den USA als dystopische Prophezeiung einer totalitären Weltordnung unter Hitlers Führung, die um jeden Preis verhindert werden musste. Darin deutete sich an, dass die Stigmatisierung der Heartland-Theorie als intellektuelle Grundlage von Weltmachtstreben im Namen totalitärer Ideologien als Argument nutzbar war, um ein militärisches Vorgehen gegen Akteure und Staaten, die sich diesem Ziel verschrieben hatten, zu legitimieren. Die Gefahr, die von einer Ideologie ausging, die nach der Weltherrschaft strebte, ließ sich nach dem Zweiten Weltkrieg auf die Bedrohung der demokratisch-liberalen Welt durch den Kommunismus übertragen. Das Auswechseln der Motivlage hatte Mackinder vorbereitet. Nach dem Zweiten Weltkrieg war es nicht mehr der Nationalsozialismus, sondern der Kommunismus, der das Heartland zur Basis seiner Weltherrschaftsansprüche machen würde. Die Herrschaft über das imaginierte Heartland im Namen totalitärer und autokratischer politischer Systeme wurde zum Sinnbild für die globale Bedrohung westlicher Werte. Im öffentlichen US-amerikanischen Diskurs diente die Anspielung auf die Heartland-Theorie seit dem Zweiten Weltkrieg der Legitimierung des Eingreifens der US-Streitkräfte in regionale und globale Konflikte, das gegenüber den Traditionen des Isolationismus und der Monroe-Doktrin gerechtfertigt werden musste.

In den USA erschienen in den 1940er-Jahren zahlreiche Artikel und Bücher, aber auch Filme, die sich der Heartland-Theorie und ihrer angeblichen Bedeutung für die deutsche Kriegsführung widmeten, was für die Popularisierung der Heartland-Theorie und ihrer Ineinssetzung mit dem pivot area-Konzept sorgte.[29] Ein Faktor, der ihre Rezeption und zügige Adaption in den USA begünstigte, lag auf der semantischen Ebene. Der Begriff Heartland war bereits vor dem Ersten Weltkrieg ein weit verbreitetes Lexem im amerikanischen Englisch, das unter anderem als Eigenname fungierte, andererseits bereits als Bezeichnung von Großräumen in den USA Verwendung fand.[30] Anders als in Deutschland konnte die öffentliche Debatte über die Heartland-Theorie in den USA in den 1940er-Jahren an bestehende Wissenstraditionen anschließen, die dort auf institutioneller Ebene aufgebaut wurden, wie die zahlreichen Kurse zu geopolitischen Themen an der School of Foreign Service der Georgetown University zeigen. Seit den 1930er-Jahren gab es eine kritische Auseinandersetzung mit der deutschen Geopolitik und Mackinders Heartland-Theorie in der Geografie und Politikwissenschaft, die zusätzlich die Hypothese der Verknüpfung beider untermauerte.[31] Unter diesen Voraussetzungen war es kaum erstaunlich, dass die Debatte über die Heartland-Theorie sehr schnell die politischen Feuilletons amerikanischer Zeitungen und populärer Zeitschriften füllte. Zudem führte der erneute Krieg in Europa zur Diskussion über die Rolle der USA, wobei die Heartland-Theorie als Argument für einen Kriegseintritt angeführt wurde, da sich der Krieg nach Mackinder nicht auf Europa und die Alte Welt begrenzen würde.

Die Rezeption der Heartland-Theorie brachte die Idee hervor, ein amerikanisches Heartland im Mittleren Westen als Gegenpol zu Mackinders Heartland zu verorten, das die Basis einer amerikanischen Weltmacht sei, der es gelingen müsse, gegen die Beherrscher des Heartlands in der Alten Welt zu obsiegen, um die bestehende Weltordnung zu verteidigen. Die Argumentation, Nordamerika habe ein eigenes Heartland, verfing auch noch im Kalten Krieg. In den 1950er-Jahren spielten Autorinnen wie Dorothy Thompson in ihren zahlreichen Artikeln für den Evening Star über die geopolitische Theorie Mackinders immer wieder auf das amerikanische Heartland an, das vor den Angriffen der Sowjets geschützt werden müsse, wie die Amerikaner sich ebenso strategische Gedanken machen sollten, wie das Heartland des Gegners bedroht werden könne, um ein Abschreckungsszenario aufrechtzuerhalten.[32] Thompson bezog sich in ihren Beiträgen auf Mackinders Heartland-Theorie, bis die Idee in das US-amerikanische Instrumentarium zur Analyse außerpolitischer Beziehungen eingegangen war und die Erwähnung der Metapher Heartland ausreichend war, um das dahinterliegende Konzept bei den Leser:innen zu aktivieren.

Im Verlauf des vielschichtigen Rezeptionsprozesses zwischen 1939 und den 1950er-Jahren kam es zur Komplexitätsreduktion der Heartland-Theorie, die vor allem durch die verkürzte Darstellung in Zeitungs- und Zeitschriftenartikeln und durch populäre Karten erreicht wurde, die den Artikeln beigegeben wurden. Karten wurden nicht nur Artikeln in populären Zeitschriften beigefügt, sondern fanden auch in Veröffentlichungen des Naval War College Verwendung, um vor allem die neuen Strategien zu veranschaulichen, die sich durch die zivile und militärische Nutzung des Flugzeugs seit den 1940er-Jahren ergaben.[33] Das Flugzeug eröffnete neue Verkehrswege über die Pole hinweg, die zu vollkommen neuen Darstellungen der Welt führten. Durch die technischen Errungenschaften rückten die beiden Heartlands auf dem eurasischen und nordamerikanischen Kontinent in der Wahrnehmung enger zusammen, da die Distanz zwischen ihnen über den Nordpol geringer war als über die beiden Ozeane und nun von Flugzeugen überwunden werden konnte. Mittelabstandstreue Azimutalprojektionen veranschaulichten die Nähe zwischen den Kontinenten der nördlichen Hemisphäre und verdeutlichten die Bedrohungslage, die für die USA von der Sowjetunion als Beherrscherin des eurasischen Heartland ausging, wodurch sich das Interesse an der Heartland-Theorie noch verstärkte.

Neben der öffentlichen Debatte über die Frage, was die US-Amerikaner von der Heartland-Theorie lernen könnten, reflektierten zahlreiche Wissenschaftler, unter ihnen viele europäische Immigranten wie Hans Weigert, Robert Strausz-Hupé und Franz Neumann, aber auch US-Amerikaner wie Edward Mead Earl, George B. Cressey, Harold und Margaret Sprout über die Anschlussfähigkeit der Theorie.[34] Die wichtigste Adaption der Heartland-Theorie in den USA lieferte der niederländisch-amerikanische Politikwissenschaftler Nicholas J. Spykman 1944 in „Geography of the Peace“, das erst posthum erschien.[35] Der als Professor für Internationale Beziehungen in Yale lehrende Spykman griff Mackinders These von der entscheidenden Bedeutung des eurasischen Heartland auf, setzte aber neue Prämissen, um eine US-amerikanische Sicherheitsstrategie zu entwerfen. Spykman wollte verhindert sehen, dass sich die Beherrscher des Heartland auf angrenzende Territorien ausbreiteten. Was bei Mackinder und Haushofer als innerer Halbmond bezeichnet wurde, deutete Spykman zu den Rimlands um, die das Heartland umgeben (Abb. 3). Die Verteidigung der eurasischen Rimlands gegen eine aggressive Expansion aus dem Heartland heraus würde das von Mackinder beschriebene Szenario verhindern können. Die geografische Lage, das Klima und die Topografie waren für Spykmans wie auch für Mackinders und Haushofers Konzeption die grundlegenden und bestimmenden Faktoren der Beschreibung geopolitischer und geostrategischer Entwicklungen.

Die Idee, die Beherrscher des Heartland einzudämmen, rückte Spykmans geostrategischen Entwurf in die Nähe der wenige Jahre später von George F. Kennan entwickelten Containment-Politik. Ähnlich wie bei der Ineinssetzung von deutscher Geopolitik und nationalsozialistischer Außenpolitik ist auch die Nähe zwischen Spykmans Rimland-Theorie und der Containment-Politik der USA in den 1950er-Jahren eine Konstruktion, die der öffentlichen Wahrnehmung und der Interpretation in der Fachliteratur entstammt. Kennan berief sich nicht auf Spykman, da er die Eindämmung der Sowjetunion aufgrund des Kommunismus als notwendig ansah, den er als Ideologie betrachtete, die durch aggressive Expansion die Weltrevolution mit dem Ziel der Unterwerfung der demokratisch-liberalen Welt vorantreiben wollte. Spkymans Konzept war von geografischen Prämissen, nicht von ideologischen Gegensätzen bestimmt. Da beide Ansätze sich aber auf das Agieren in denselben Regionen der Welt (Korea, Vietnam, Iran) kaprizierten, lag es nahe, beide als kongruent zu betrachten. Durch die konstruierte Verknüpfung zwischen der Containment-Politik und Spykmans Rimland-Theorie blieb Mackinders Heartland-Theorie auch in der wissenschaftlichen und politischen Debatte präsent. Die Heartland-Theorie schrieb sich in zahlreiche Dimensionen der Debatte über die Legitimation US-amerikanischer Außenpolitik in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein, wie die Veröffentlichungen Colin S. Grays in den 1970er- und 1980er-Jahren, aber auch die beständigen Bezüge zur Heartland-Theorie in populären Medien und politischen Debatten exemplarisch zeigen.[36]

Schlussbetrachtung

Ersichtlich wurde, dass die Heartland-Theorie in den Karten zur Allegorie für die Bedrohung der demokratisch-liberalen Welt verdichtet wird. Das Heartland fungierte aber auch als Metapher für einen imaginierten Großraum, der dank reicher Rohstoffvorkommen und zunehmender Industrialisierung zum Machtzentrum einer politischen Entität werden konnte, wobei die Bindung an ein bestimmtes politisches Regime unbedeutend war.[37] Die Metapher löste sich von der ursprünglichen, regional klar definierten Bindung an einen Großraum in Asien und den Motiven, die Mackinder dem Expansionsdrang der Völker unterstellt hatte. Die entstandene Raum-Metapher Heartland war sowohl als Zentrum einer dystopischen als auch einer utopischen Weltordnung denkbar, was sie vielseitig nutzbar machte und zu ihrer Präsenz im öffentlichen, politischen und wissenschaftlichen Diskurs bis in die Gegenwart hinein beitrug.

Das Wissen über die Heartland-Theorie transferierten vor allem europäische Immigranten in die USA, wobei im transkontinentalen und internationalen Transfer innerhalb der Geografie und der Politikwissenschaften der Text der Theorie das wichtigere Medium war, das Mackinders Ideen transportierte. Innerhalb der USA und vor allem für den Wissenstransfer in die Öffentlichkeit waren komplexitätsreduzierende Karten entscheidender, die eine geografisch-deterministische, leicht verständliche Reduktion der Theorie boten, was die Entwicklung der Theorie zu einem frei flottierenden geopolitischen Konzept unterstützte, das sich aufgrund der eingeschriebenen Flexibilität und Unterkomplexität fortan auf vielfältige Konfliktlagen anwenden ließ.



[1] Essay zu der Quelle: Drei Karten globaler Raumordnung auf Grundlage der Heartland-Theorie (1904 / 1919 / 1944), in: Themenportal Europäische Geschichte, 2023, URL: <https://www.europa.clio-online.de/quelle/id/q63-78139>.

[2] Eric Gujer, Putins strategischer Plan, in: Neue Zürcher Zeitung, 19.2.2022, S. 1

[3] Halford J. Mackinder, The Round World and the Winning of the Peace, in: Foreign Affairs 21/4 (1943), S. 595-605.

[4] Michael C. Frank, Imaginative Geography as a Travelling Concept. Foucault, Said and the spatial turn, in: European Journal of English Studies 13/1 (2009), S. 61-77, hier S. 61.

[5] Halford J. Mackinder, The Geographical Pivot of History, in: The Geographical Journal 23/4 (1904) S. 421-444.

[6] Halford J. Mackinder, Democratic Ideals and Reality, London 1919. URL: <https://archive.org/details/democraticideals00mackiala/page/n5/mode/2up> (15.02.2023).

[7] Halford J. Mackinder, The Round World and the Winning of the Peace, S. 597.

[8] Gerry Kearns, The Political Pivot of Geography, in: The Geographical Journal 170/4: Halford Mackinder and the ‘Geographical Pivot of History’, Dez. 2004, S. 337-346.

[9] H. J. Mackinder, The geographical pivot of history.

[10] Halford J. Mackinder, Democratic Ideals and Reality, London 1919, S. 25.

[11] Ebd., S. 194.

[12] Michael Fahlbusch, Grundlegung, Kontext, und Erfolg der Geo- und Ethnopolitik vor 1933, in: Irene Diekmann / Peter Krüger / Julius H. Schoeps (Hrsg.), Geopolitik – Grenzgänge im Zeitgeist, Bd. 1.1: 1890 bis 1945, Potsdam 2000, S. 103-146.

[13] Karl Haushofer, Der Kontinentalblock: Mitteleuropa, Eurasien, Japan (Kriegsschrift der Reichsstudentenführung, Bd. 7), München 1941.

[14] Christian W. Sprang, Karl Haushofer und Japan. Die Rezeption seiner geopolitischen Theorien in der deutschen und japanischen Politik, München 2013, S. 78-207. URL: <https://www.academia.edu/2474883/Karl_Haushofer_und_Japan_Die_Rezeption_seiner_geopolitischen_Theorien_in_der_deutschen_und_japanischen_Politik> (2.6.2022).

[15] Mark Bassin, Race contra space: the conflict between German Geopolitik and National Socialism, Political Geography Quarterly, Vol. 6, No. 2. April 1987, S. 115-134.

[16] Siehe dazu u.a.: Alexander Dugin, Last War of the World-Island. The Geopolitics of Contemporary Russia, London 2015.

[17] Karl Haushofer, Weltpolitik von heute, München 1934.

[18] Vgl dazu Karl Haushofer, Kulturkreise und Kulturkreisüberschneidungen, in: ders. (Hrsg.): Raumüberwindende Mächte, Leipzig 1934, S. 91-109; Oswald Spengler, Der Untergang des Abendlandes, Bd. 1, Wien 1918; Leo Frobenius, Ursprung der afrikanischen Kulturen, Berlin 1898.

[19] K. Haushofer, Weltpolitik von heute, S. 51.

[20] Karl Haushofer, Staat, Raum und Selbstbestimmung, in: ders. (Hrsg.): Raumüberwindende Mächte, S. 63-90.

[21] Hans-Dietrich Schultz, Die deutsche Geographie im 19. Jahrhundert und die Lehre Friedrich Ratzels, in: I. Diekmann / P. Krüger / J. H. Schoeps (Hrsg.), Geopolitik, Bd. 1.1, S. 39-84.

[22] Friedrich Ratzel, Lebensraum: Eine biogeographische Studie, Tübingen 1901. URL: <https://archive.org/details/bub_gb_xyY-AQAAMAAJ/page/n1/mode/2up> (2.6.2022).

[23] Siehe dazu Rainer Sprengel, Geopolitik und Nationalsozialismus: Ende einer deutschen Fehlentwicklung oder fehlgeleiteter Diskurs?, in: I. Diekmann / P. Krüger / J. H. Schoeps (Hrsg.), Geopolitik, Bd. 1.1, S. 147-168.

[24] Mark Bassin, Race contra space: the conflict between German Geopolitik and National Socialism.

[25] N. N.: Sublimated Geography, in: The Sun, 1.6.1919, Section 6, S. 10.

[26] Isaiah Bowman, Geography vs. Geopolitics, in: Geographical Review 32/4, (Oct. 1942), S. 646-658.

[27] Siehe dazu Edmund A. Walsh, The Mystery of Haushofer, in: LIFE Magazin, 16.9.1946, S. 107-120; Dan Diner, „Grundbuch der Planeten”. Zur Geopolitik Karl Haushofers, in: Vierteljahresschrift für Zeitgeschichte 32/1 (1984), 28 S., URL: <https://www.ifz-muenchen.de/heftarchiv/1984_1_1_diner.pdf> (2.6.2022).

[28] Richard H. Stokes, Russo-German Entente follows path exposed by ”Geopolitician”. Idea of Briton, Sir Halford Mackinder, traced to ears of Hitler after lying dormant for a generation, in: Evening Star, 1.10.1939, Section C, S. 3.

[29] Der Film „Plan for Destruction“ (1943) von Edward L. Cahn führt die angebliche Existenz eines Instituts für Geopolitik an, dem Haushofer vorsteht. Haushofer referiert im Film über die Heartland-Theorie, ohne dass Mackinders Name genannt wird. URL: <https://www.youtube.com/watch?v=ncLxx9QyHOY> (2.6.2022); Gerard Toal, Critical Geopolitics. The Politics of Writing Global Space, Minneapolis 1996. URL: <https://www.academia.edu/4969479/Critical_Geopolitics_Ge%C3%A1roid_%C3%93_Tuathail> (2.6.2022).

[30] Vgl. dazu u.a. Frederick Walworth Brown, The Rise of the House of Landis, novel extract, in: Evening Times, 12.3.1910, S. 7.

[31] Siehe dazu u.a. N. N.: Georgetown revises Curriculum, placing stress on war work. New term will open next month under accelerated program, in: Evening Star, 27.6.1942, Section C, S. 8; Richard Hartshorne, Recent developments in Political Geography, I, in: The American Political Science Review 29/5 (Okt. 1935), S. 785-804.

[32] Siehe u.a. Dorothy Thompson, How Russia got in Middle East. Columnist in 1945 predicted alienation of Arab world open Gates to Reds, in: Evening Star, 12.10.1956, S. 15.

[33] Siehe u.a. Edward, J. Jr. Katzenbach, Astigmatism and Geopolitics, in: Naval War College Review 8/4, Dez. 1955, S. 21-40. URL: <https://digital-commons.usnwc.edu/cgi/viewcontent.cgi?article=7695&context=nwc-review> (15.02.2023).

[34] Siehe dazu u.a. George B. Cressey, The Basis of Soviet Stength, New York 1945; Franz Neumann, Behemoth: The Structure and Practice of National Socialism, London 1942; Robert Strausz-Hupé, Geopolitics: The Struggle for Space and Power, New York 1942; J. J. Thorndike, Geopolitics. The Lurid Career of a Scientific System which a Briton Invented, the Germans Used and Americans Need to Study, in: Life, 21.12.1942, S. 106-115. URL: <https://books.google.de/books?id=NVEEAAAAMBAJ&pg=PA106&hl=de&source=gbs_toc_r&cad=2#v=onepage&q&f=false> (15.02.2023).

[35] Nicholas J. Spykman, The Geography of the Peace, hrsg. von Helen R. Nicholl, New York 1944.

[36] Siehe u.a. Colin S. Gray, The Geopolitics of the Nuclear Era: Heartland, Rimlands, and the Technological Revolution, New York 1977; für die 1940er-Jahre siehe u.a. Edward Lewis Bartlett, Speech in the House of Representatives, 18.6.1948, 80th Congress, 2nd Session, Vol. 94, Part 7, House, Congressional Record, S. 8825-8827. URL: <https://www.congress.gov/bound-congressional-record/1948/06/18/94/house-section/article/8824-8964?q=%7B%22search%22%3A%5B%22Bartlett%22%5D%7D&s=7&r=10> (15.02.2023)

[37] Vgl. dazu Jan Helmig, Metaphern in geopolitischen Diskursen. Raumrepräsentationen in der Debatte um die amerikanische Raketenabwehr, Wiesbaden 2008.



Literaturhinweise

  • Barney, Timothy (2015): Mapping the Cold War. Cartography and the framing of America’s international power, Chapel Hill.
  • Jureit, Ulrike (2012): Das Ordnen von Räumen. Territorium und Lebensraum im 19. und 20. Jahrhundert, Hamburg.
  • Kearns, Gerry (2008): Geopolitics and Empire. The Legacy of Halford Mackinder, Oxford.
  • Rainer, Sprengel (1996): Kritik der Geopolitik. Ein deutscher Diskurs 1914-1944, Berlin.
  • Rosenboim, Os (2017): The emergence of globalism. Visions of world order in Britain and the United States, 1939-1950, Princeton.

Quelle zum Essay
Travelling spatial imagination - Die internationale Popularisierung der Heartland-Theorie Halford J. Mackinders
( 2023 )
Zitation
Drei Karten globaler Raumordnung auf Grundlage der Heartland-Theorie (1904 / 1934 / 1944), in: Themenportal Europäische Geschichte, 2023, <www.europa.clio-online.de/quelle/id/q63-78139>.
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