Persönliche Familiengeschichte als Zugang zu einer vergleichenden europäischen Familienforschung
Von Michael Mitterauer
Für eine vergleichende Erforschung historischer Familienformen in Europa kommt der Debatte um die so genannte „Zadruga“ entscheidende Bedeutung zu. Das Interesse an dieser insbesondere im westlichen Balkanraum verbreiteten Familienform reicht wissenschaftsgeschichtlich bis weit ins 19. Jahrhundert zurück. Vielfältige ideologische Implikationen flossen dabei in diese Debatte ein. Nationalisten sahen in der „Zadruga“ eine spezifische Ausdrucksform nationaler Identität. Für Panslawisten bedeutete sie wegen auffallender Analogien zu Familienstrukturen in Russland ein wertvolles gemeinsames Erbe aus urslawischer Frühzeit. Und noch unter kommunistischer Herrschaft wurde der Gemeinschaftsbesitz der „Zadruga“ als Vorform eigener Gesellschaftsvorstellungen idealisiert. Für westliche Wissenschaftler war die „Zadruga“ stets als kontrastierende Familienform interessant. In evolutionistischen Modellen der Familienentwicklung eignete sie sich zur Rekonstruktion vermeintlicher Frühstadien, die generell in der europäischen Geschichte durchlaufen worden wären, sich im Südosten aber länger erhalten hätten. Unabhängig von solchen Rückprojektionen galt ihr auch in der vergleichenden historischen Familienforschung der neueren Zeit besondere Aufmerksamkeit, speziell in der Tradition der „Cambridge Group for the History of Population and Social Structure“, die diesbezüglich seit den 1960er Jahren Maßstäbe setzte. Studien über die „multiple-family households“ in Südosteuropa dienten nun gleichsam als Kontrastfolie, um die Dominanz von „simple-family households“ in West- und Mitteleuropa besser verstehen zu können. Entsprechungen zwischen „einfachen Familienhaushalten“ und dem so genannten „European marriage pattern“ (John Hajnal) führten dazu, dass das mit Familienstrukturen des Balkanraums korrespondierende Heiratsmuster als „non European“ etikettiert wurde. Hier setzt nun die jüngste Diskussionsphase um die „Zadruga“ an, die in starkem Maße auch diskursanalytische Strömungen der neueren Geschichtswissenschaft aufgreift. Gegenüber der vergleichenden historischen Familienforschung, die südosteuropäische Verhältnisse mit denen anderer europäischer Großräume kontrastiert, wird der Vorwurf des „othering“, das heißt der Konstruktion des Anderen in der Abgrenzung zum Eigenen, erhoben. Aussagen über die „Zadruga“ gelten grundsätzlich als Bestandteil eines abwertenden Balkan-Bildes. Der Begriff „Zadruga“ selbst wird als wissenschaftliches Kunstwort in Frage gestellt – und mit ihm zugleich der bezeichnete Inhalt. Die Debatte ist damit an einem Punkt angelangt, an dem es angebracht erscheint, sich wiederum verstärkt den Quellen zuzuwenden.
Die historische Familienforschung hat seit den 1960er Jahren ihren vergleichenden Studien vor allem solche Quellen zugrundegelegt, die quantifizierend auswertbar sind – also Zensuslisten, Urmaterial von Volkszählungen, so genannte „Seelenbeschreibungen“ und ähnliche Typen von Personenstandslisten. Führende Vertreter dieser Richtung formulierten sogar den Standpunkt, dass nur mit Quellen und Methoden dieser Art valide Resultate zu erzielen seien. Für die hier angesprochene „Zadruga“-Problematik gilt das sicher nicht. Abgesehen von der dürftigen Quellenlage bezüglich solcher Personenstandslisten in Südosteuropa, lassen sich viele wesentliche Fragen der Diskussion auf der Basis derartiger Quellen gar nicht klären. So soll hier ein Quellentyp ganz anderer Art aufgegriffen und in ersten Ansätzen interpretiert werden, der insgesamt für eine vergleichende historische Familienforschung europaweit stärkere Beachtung verdient.
Wayne Vucinichs Artikel „A Zadruga in Bileca Rudine“, den ich im Anhang meines Beitrags in stark gekürzter Form und in deutscher Übersetzung wiedergebe, ist zunächst ganz allgemein ein autobiografischer Text. Vucinich berichtet über persönliche Erfahrungen, die der Autor in seiner Herkunftsfamilie in der östlichen Herzegovina in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg gemacht hat, bzw. über mündlich in der Familie tradierte Überlieferungen. Im Unterschied zu Zeugnissen der Popularen Autobiografik, die in neuerer Zeit als historische Quellen zunehmend an Bedeutung gewinnen, handelt es sich nicht um lebensgeschichtliche Aufzeichnungen über die eigene Familie, die für Kinder, Verwandte und sonstige nahestehende Personen festgehalten wurden. Vielmehr schreibt hier ein Wissenschaftler für die Wissenschaft. Als Sohn einer Emigrantenfamilie in den Vereinigten Staaten geboren, kam Wayne Vucinich 1918 als Fünfjähriger in die „Zadruga“ seines Vaters in Bileca Rudine, wo er seine Jugend verbrachte. Sein Wissen um das Zusammenleben in dieser spezifischen Familienform beruht also auf unmittelbarer Erfahrung. Nach seiner Rückkehr in die Vereinigten Staaten machte Wayne Vucinich dort als Wissenschaftler Karriere. Zum Zeitpunkt der Abfassung des Textes im Jahre 1973 war er Professor für Geschichte an der Stanford University. Der Blick zurück auf seine Herkunftsverhältnisse scheint somit doppelt gebrochen – durch die Reflexion als Emigrant aus räumlicher Distanz und durch die Reflexion des Wissenschaftlers, der seine Familiengeschichte als Fallstudie für einen historischen Band mit einer allgemeinen Zielsetzung schreibt. Noch ein weiteres Moment der Verallgemeinerung kommt hinzu: Der Text ist als Beitrag für die Gedenkschrift für einen Fachkollegen abgefaßt, nämlich den prominenten Historiker und Politikberater Philip Mosely (1905-1972). Mosely war einer der ersten, der allgemeine Arbeiten über die „Zadruga“ mit konkreten Fallstudien verband. Vucinich verstand den Beitrag über seine eigene Familie als Analogie zu diesen Fallstudien Moselys. In seine autobiografische Darstellung sind so in vielfältiger Weise allgemeine Fragestellungen der „Zadruga“-Forschung eingegangen. Für einen lebensgeschichtlichen Text als Quelle vergleichender historischer Familienforschung ist das eine einmalige Situation. Aber auch ohne diesen Kontext haben sicher derartige Ego-Dokumente für komparative Studien hohen Quellenwert.
Wayne Vucinichs autobiografischer Text betont sehr stark Phänomene, die in der wissenschaftlichen „Zadruga“-Diskussion eine Rolle spielen. Die Auswahl der wiedergegebenen Textpassagen setzt in diese Richtung zusätzliche Akzente. So wurden alle Berichte aufgenommen, die sich auf die jeweilige Zusammensetzung der Familie vom frühen 19. Jahrhundert bis zu der vom Autor mit 1925 angesetzten Auflösung der „Zadruga“ beziehen. Einige spezifische Strukturmerkmale dieser Familienform werden dabei deutlich erkennbar. Als Wichtigstes ist sicher die strikte Patrilinearität zu nennen, die den ganzen von der Familiengeschichte behandelten Zeitraum hindurch beibehalten wurde. Söhne bleiben stets im Haus, auch wenn sie schon verheiratet sind, Töchter hingegen verlassen grundsätzlich bei der Heirat das Haus. Mit dem Verbleib mehrerer verheirateter Söhne, die auch nach dem Tod des Vaters in Besitzgemeinschaft zusammenleben, hängt die patrilinear-komplexe Struktur dieses Familientyps zusammen. „Patrilinear-komplexe Familienstruktur“ meint mehr als bloß „multiple-family household“, ganz zu schweigen von der völlig undifferenzierten Terminologie „Großfamilie“. Natürlich handelt es sich bei einem 29-Personen-Haushalt, wie ihn Wayne Vucinich für 1918 beschreibt, um eine in West- und Mitteleuropa damals unbekannte Haushaltsgröße – ohne Erklärung des patrilinearen Grundmusters bleibt jedoch die Struktur dieses Familientyps unverstanden.
Die entscheidende Zäsur im Entwicklungszyklus der von Wayne Vucinich beschriebenen Hausgemeinschaft ist nicht der Tod des Haushaltvorstands („domacin“), sondern die Aufspaltung in zwei oder mehrere neue Hausgemeinschaften. Mit dem Tod des „domacin“ kommt es zu keinem Besitzwechsel. Alle Männer der Patrilinie besitzen ja gemeinsam den Hof, so dass kein Erbfall eintritt. Bloß das Oberhaupt wechselt. In der Regel übernimmt der jeweils älteste Mann diese Position. Das muss nicht der Sohn sein. Als sich Onkel Ivan 1918 aus dieser Position zurückzieht, folgt ihm mit Onkel Rade der nächstälteste Bruder. Es herrscht also Senioriätsprinzip. Patriarchalismus als Entsprechung zu Patrilinearität und Senioritätsprinzip wird bei Wayne Vucinich am Beispiel dieses Onkels Rade beschrieben. Frauen als Oberhaupt der Familie kommen in keiner Phase des Entwicklungszyklus vor. Beispielhaft zeigt sich so an dieser Familiengeschichte ein Merkmalsyndrom besonderer Art, zu dem es in bäuerlichen Familien West- und Mitteleuropas kaum eine Entsprechung gibt.
Mit den spezifischen Strukturmerkmalen der Familienverfassung hängt eine Besonderheit des Migrationsverhaltens zusammen, das im Leben Wayne Vucinichs besondere Bedeutung erlangen sollte. In den Jahren 1905 bis 1919 wanderten sein Vater und zwei Onkel nach Amerika aus. Sie behielten dabei „volle Rechte als Mitglieder der Zadruga“. Dafür schickten sie gelegentlich Geld nach Hause, das der Familie Grunderwerb und Bautätigkeit ermöglichte. Als zwei der drei Brüder 1919 während der Grippe-Epidemie starben, kehrte der Dritte mit den verwaisten Kindern des Ältesten in die Heimat zurück. Von den in Mittel- und Westeuropa verbreiteten Migrationsmustern ohne Rückkehrrecht, aber auch ohne besondere Verpflichtungen gegenüber der Familie, die man verlassen hat, unterscheidet sich dieses Wanderungsverhalten sehr grundsätzlich. Es wurzelt in besonderen Faktoren der Familienstruktur, nämlich dem kollektiven Eigentum aller männlichen Angehörigen der Hausgemeinschaft – auch der noch minderjährigen. Eine temporäre Abwesenheit bedeutet diesbezüglich keine Beeinträchtigung. Auch die von den Verhältnissen im Westen abweichende Form der Versorgung von Waisenkindern kommt in der Familiengeschichte Wayne Vucinichs anschaulich zum Ausdruck. Wo verheiratete Brüder in Hausgemeinschaft zusammenleben, bedarf es keiner besonderen Aufnahme durch Zieheltern.
Hinweise auf den sozialen Kontext patrilinear-komplexer Familienformen in Südosteuropa gibt bereits die Einleitung der zitierten Stelle über die Herkunft der Familie. Die Familienüberlieferung leitet sie vom Stamm der Piperi ab. Ethnografische Daten scheinen dem Wissenschaftler Wayne Vucinich aber eher für eine Herkunft vom Stamm der Drobnjaci zu sprechen. Welche diese beiden Varianten auch immer die zutreffende ist – die Familie dürfte ursprünglich in einen umfassenden Stammesverband eingebunden gewesen sein. In Montenegro, wo die Familie herstammt, in Nordalbanien, im Kosovo haben sich solche Zusammenhänge zum Teil bis ins 20. Jahrhundert hinein erhalten. Im westlichen Balkanraum ist in älterer Zeit mit einer stärkeren Verbreitung solcher Erscheinungen zu rechnen. Die Entstehung von Stämmen, und mit ihnen von patrilinear-komplexen Familienstrukturen, ist hier also sicher nicht erst ein neuzeitliches Phänomen. Auch ein anderer Hinweis der Quellenstelle ermöglicht weiterführende Schlüsse auf den Charakter der beschriebenen patrilinearen Abstammungsgemeinschaft. Wayne Vucinich erwähnt, dass sein Großvater Jeremije eine „citulja“ begonnen hat, in die vom Priester Geburten, Heiraten und Todesfälle der Familie eingetragen werden sollten – eine Aufgabe, die dieser nur mangelhaft erfüllte. Ein solches Familienregister, wie es sich auch sonst im Verbreitungsgebiet der „Zadruga“ häufig findet, ist etwas ganz anderes als die im Westen seit der frühen Neuzeit auf Pfarrebene geführten Tauf-, Heirats- und Sterberegister. Es dient nicht der obrigkeitlichen Kontrolle, sondern dem innerfamilialen Kult. An anderer, hier nicht aufgenommener Stelle erwähnt Wayne Vucinich die Feier der so genannten „Slava“ zu Ehren des Hauspatrons, im Falle seiner Familie des heiligen Georg, die die Angehörigen der patrilinearen Abstammungsgemeinschaft zu einem großen religiösen Fest in häuslichem Rahmen zusammenführte. Bei diesem Fest wurde auch der Toten gedacht. Dem hier praktizierten Gedenken diente die „citulja“ als Grundlage. Die „Slava“ hatte also auch den Charakter eines Ahnenfests. Das Abstammungsbewusstsein der die „Slava“ Feiernden besaß eine starke religiöse Komponente. Unter den christlichen Familienkulturen Europas ist ein solches religiös verankertes Ahnenbewusstsein ein einmaliges Phänomen. Auch dieses Moment weist historisch weit zurück.
Wayne Vucinich geht in seinem autobiografischen Text von einem relativ engen „Zadruga“-Begriff aus. „Seine Zadruga“ hörte für ihn zu bestehen auf, als 1925 der bis dahin gemeinsame Familienbesitz zwischen seinen Onkeln, seinen Geschwistern und ihm aufgeteilt wurde, obwohl die Familie weiterhin gemeinsam im Stammhaus wohnte. Nicht Koresidenz ist ihm das entscheidende Kriterium, sondern zusätzlich dazu auch Besitz- und Wirtschaftsgemeinschaft. Ein auf der Basis von Zensuslisten arbeitender Historiker hätte die Familie wohl weiterhin den „multiple-family households“ zugerechnet und dementsprechend von einer „Zadruga“ gesprochen. Der Sprachgebrauch in der Wissenschaft ist unterschiedlich. Der genannte Philip Mosely etwa wendet sich gegen eine Beschränkung des Begriffs „Zadruga“ auf komplexe Familienformen, weil aufgrund der institutionellen Rahmenbedingungen der Region einfache Familienformen sehr rasch zu komplexen werden können und umgekehrt. Bei allen Unterschieden in der Verwendung des Terminus konnten Wayne Vucinich und seine Fachkollegen in den 70er Jahren noch ganz unbelastet den Begriff „Zadruga“ gebrauchen, sei es in diesem oder jenem Wortverständnis. In der neueren Literatur wird man ihn sicher nicht mit der gleichen Selbstverständlichkeit im Titel eines Buches oder eines Artikels verwendet finden. Das erklärt sich sicher nicht nur aus den ideologischen Implikationen der Begrifflichkeit, derer man sich in der Zwischenzeit stärker bewusst geworden ist. Auch das Bemühen, Abwertungen zu vermeiden, spielt dabei wohl eine Rolle. Wenn mit dem Begriff „Zadruga“ soziale Merkmale der Rückständigkeit assoziiert werden, dann mag es besser sein, ihn nicht zu verwenden. Welche Terminologie aber auch immer benutzt wird – um die sachlichen Unterschiede zwischen historischen Familienverhältnissen in Südosteuropa einerseits, in Mittel- und Westeuropa andererseits wird eine vergleichende Familienforschung nicht herumkommen. Sie ergeben einen besonders starken Kontrast. Und diesen Kontrast braucht eine historisch-sozialwissenschaftliche Zugangsweise, die am Verstehen und Erklären von Unterschieden interessiert ist.
Die quantifizierende Methode hat in der vergleichenden historischen Familienforschung seit den 1960er Jahren europaweit großartige Ergebnisse erbracht. Wo man sich ausschließlich auf sie beschränkte, kam es jedoch meist zu einem Stillstand. Die Verwendung lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen als Quelle stellt scheinbar eine radikale Alternative dar. In Wirklichkeit lassen sich beide methodischen Ansätze untereinander und mit weiteren fruchtbar verbinden. Wayne Vucinich wusste um zeitgenössische Studien auf ganz anderer Quellenbasis. Explizit oder implizit sind sie in seine autobiografische Darstellung eingegangen. So ist ein Quellentyp entstanden, der sicher provokatives Potential enthält: Darf der Familienhistoriker seine eigene Familiengeschichte als Quelle konzipieren? Wenn es in einer ähnlich wissenschaftlich kontrollierten und reflektierten Form geschieht, wie bei Wayne Vucinich, so ist das sicher nicht nur erlaubt, sondern – weil in besonderer Weise weiterführend – auch wünschenswert.
[1] Essay zur Quelle Nr. 1.10, Wayne Vucinich: Geschichte meiner Familie vom 18. bis zum 20. Jahrhundert (1976).
Literaturhinweise:
Erlich, Vera Saint, Family in transition. A Study of 300 Yougoslav villages, Princeton 1966
Kaser, Karl, Familie und Verwandtschaft auf dem Balkan. Analyse einer untergehenden Kultur, Wien 1995
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Todorova, Marija N., Balkan family structure and the European pattern. Demographic developments in Ottoman Bulgaria, Washington 1993
Dies., Zum erkenntnistheoretischen Wert von Familienmodellen. Der Balkan und die „europäische Familie“, in: Ehmer, Josef; Hareven, Tamara K.; Wall, Richard (Hg.), Historische Familienforschung. Ergebnisse und Kontroversen, Frankfurt am Main 1997, S. 283-300