Das europäische Puppenhaus: Dingley Hall

Als im Jahr 1875 die beiden Bankierssöhne Isaak und Laurence Currie begannen, ein Bücherregal aus Mahagoni in ein Puppenhaus zu verwandeln, ahnten sie nicht, welche Dimensionen ihr „Projekt“ wenige Jahre später annehmen sollte. Innerhalb von sechs Jahren entstand daraus ein dreigeschossiges Herrenhaus mit 15 Zimmern, drei Meter lang, zwei Meter hoch, 50 Zentimeter tief. Um es stilvoll zu gestalten, trugen die beiden Jungen 1100 Einzelteile zusammen, darunter 52 Puppen und mehr als 150 winzige Bilder, Spiegel, Möbel, Kandelaber, Photoalben und Bücher. Alle diese Wohnaccessoires wurden wohl überlegt erworben und in die einzelnen Räume des „doll house“ platziert. Jedes Zimmer hatte seine eigene Farbgebung, ausstaffiert mit Tapeten und Teppichen unterschiedlichsten Designs. Auf diese Weise entstand eine viktorianische Welt im Kleinen, ein Panoptikum der englischen upper middle class, die sich als Quelle zur europäischen Bürgertumsgeschichte mit unterschiedlichen Akzentuierungen nutzen lässt. [...]

Das europäische Puppenhaus: Dingley Hall[1]


Von Gunilla Budde

Als im Jahr 1875 die beiden Bankierssöhne Isaak und Laurence Currie begannen, ein Bücherregal aus Mahagoni in ein Puppenhaus zu verwandeln, ahnten sie nicht, welche Dimensionen ihr „Projekt“ wenige Jahre später annehmen sollte. Innerhalb von sechs Jahren entstand daraus ein dreigeschossiges Herrenhaus mit 15 Zimmern, drei Meter lang, zwei Meter hoch, 50 Zentimeter tief. Um es stilvoll zu gestalten, trugen die beiden Jungen 1100 Einzelteile zusammen, darunter 52 Puppen und mehr als 150 winzige Bilder, Spiegel, Möbel, Kandelaber, Photoalben und Bücher. Alle diese Wohnaccessoires wurden wohl überlegt erworben und in die einzelnen Räume des „doll house“ platziert. Jedes Zimmer hatte seine eigene Farbgebung, ausstaffiert mit Tapeten und Teppichen unterschiedlichsten Designs. Auf diese Weise entstand eine viktorianische Welt im Kleinen, ein Panoptikum der englischen upper middle class, die sich als Quelle zur europäischen Bürgertumsgeschichte mit unterschiedlichen Akzentuierungen nutzen lässt.

Zum ersten eignet sich „Dingley Hall“ dazu, eingefahrene Vorstellungen einer starren, geschlechtsspezifisch grundierten Sphärentrennung, die lang mit Blick auf das europäische Bürgertum als klassenspezifische Eigenart betrachtet wurde, aufzustören. Eine starre Trennung von privat und öffentlich, von Männer- und Frauenwelten gab es ebensowenig für den Vater der beiden Currie-Söhne, einem wohlhabenden Londoner Bankier, für den seine diversen Herrenhäuser gleichzeitig zu adäquaten Wohnstätten seiner Familie wie zu eindrucksvollen Schaustücken seines beruflichem Erfolgs, seiner Kunstkennerschaft und seines guten Geschmacks dienen sollten. Ebenso wie er akribisch Buch führte über alle seine Erwerbungen, ihre Herkunft und ihre Kosten, machten es ihm seine Söhne als gelehrige Schüler mit ihrem kleinen Herrenhaus nach. Die Einrichtung eines Herrenhauses, ob groß oder klein, geriet so zu einem wohl geplanten Projekt, dessen gedeihliche Entwicklung nicht dem Zufall überlassen wurde, sondern genauer Planung unterlag. Man wollte zwar geschäftstüchtig vorgehen, konnte aber gleichzeitig aus dem Vollen schöpfen. Dabei ging es weniger darum, das abgeschlossene Refugium eines home, sweet home, sondern eine respektable Visitenkarte der Familie zu schaffen. Wir wissen nicht, ob die kleinen Bauherren ihre beiden, kurz vor Beginn ihres Hausprojektes kurz nacheinander verstorbenen Schwestern einbezogen hätten. Da es ihnen nicht darum ging, dem Haus und seinen Bewohnern Leben einzuhauchen, wie es ihre spielenden Schwestern versucht hätten, ist das eher unwahrscheinlich. „It is a boy’s thing“, wiesen sie zumindest eine kleine Kusine energisch zurück.

Zum zweiten räumt das Haus nicht nur mit üblichen geschlechtsspezifischen Rollenmustern auf, sondern auch mit der Vorstellung eines weitgehend säkularisierten, entkirchlichten Bürgertums namentlich Ende des 19. Jahrhunderts. Eine kleine Kapelle im obersten Stock des Puppenhauses verweist sowohl auf den hohen Stellenwert der Religion im Lebenshaushalt dieser Bürgerfamilie als auch auf die religiöse Toleranz der großen und kleinen Currie-Männer. Die Mutter von Isaak und Laurence war vom in der upper middle class üblichen anglikanischen zum katholischen Glauben konvertiert. Damit sie die ihrer Konfession gemäßen Messen auch zelebrieren konnte, richtete Bertram Currie auf all seinen Anwesen eigene Kapellen für seine Frau ein, seine Söhne taten es ihm in „Dingley Hall“ nach. Und dies wohlüberlegt: Gerade für den Raum, der die Kapelle beherbergt, gibt es eine Vielzahl und Vielfalt von kleinen Messgerätschaften sowie unterschiedliche Talare und Altarbehänge, die es auch den Jungen erlaubten, in ihrem Puppenhaus das Kirchenjahr nachzuvollziehen. Religion, dies macht dieser Raum deutlich, spielte in der Familie Currie eine keineswegs marginale Rolle, sondern war essentieller Teil im Wertekanon. Und die katholische Kapelle im viktorianischen Herrenhaus zeigt auch, dass Religion nicht als Teil einer unhinterfragten Tradition betrachtet wurde, sondern Anstoß gab zu intensiven theologischen Studien und Überlegungen. Wenige Jahre später konvertierte auch der Vater zum Katholizismus.

Zum dritten und besonders evident: Die Ausstattung von Dingley Hall unterstreicht eine zunehmend Europäisierung von Konsumgewohnheiten und Geschmacksvorlieben. Im Laufe der sechs Jahre, in denen das Puppenhaus Gestalt annahm, füllten es die beiden Jungen mit Hilfe einer hochmobilen Verwandtschaft mit kleinen Gegenständen aus ganz Europa – noch zum Teil lesbare Etiketten unter den Winzigkeiten verraten dies ebenso wie die Inventarliste der kleinen Hausherren. Bei ihren Einkäufen und Bestellungen bewegten sie sich zunehmend im gesamteuropäischen Raum. Waren die ersten Möbelchen noch primär in London, Edingburgh und Bath erstanden worden, wurde es in den folgenden Jahren selbstverständlich, dass die kleinen Kristalleuchter aus Murano kamen, die mit Goldmustern bedruckten Möbel aus Thüringen, weitere seidenbezogene Sitzgruppen aus Frankreich, die Gipsreliefs und goldgrundierten Bilder in der Kapelle aus Florenz, Holzgeschirr aus Seiffen im Erzgebirge, Keramik in der Küche aus Dänemark und ein Schreibset aus Limoge. Die Tapetenstoffe entstammten den Wiener Werkstätten ebenso wie ein Großteil der Puppen, die „Dingley Hall“ bevölkerten. So wie sich gesamteuropäisch bis in die Kinderstuben durchsetzte, wo man was am besten einkaufte, kamen auch Stilvorlieben auf, die im Puppenhaus ihren Niederschlag fanden. Mit der Öffnung Japans im Jahr 1854 nach fast 250 Jahren selbst gewählter Isolation stieg auch die, durch mit handfesten ökonomischen Interessen gekoppelte Begeisterung für alles Japanische auf europäischer Seite. Exportartikel wie die ukiyo-e-Farbholzschnitte, Lackarbeiten, Fächer, Buddha-Statuen und Wandschirme überschwemmten den Markt und fanden Eingang in bürgerlicher Wohnstätten – so auch in „Dingley Hall“, in dem ein ganzes Zimmer im „Japanese Style“ kreiert wurde. Einige der kleinen Einrichtungsgegenstände hatten die Bankierssöhne nicht nur über Kataloge bestellt oder sich von Familienmitgliedern von deren Reisen mitbringen lassen. Sie selbst waren, je älter sie wurden, immer häufiger und immer länger auf dem europäischen Kontinent unterwegs, begleiteten die Eltern auf deren Europareisen und besuchten dabei auch die Spielwarenläden des besuchten Landes. Ein winziges Detail aus dem Bestand des Puppenhauses zeigt die häufige, wochenlange Abwesenheit der Hausherren: Nesselhüllen, die vor der Abreise von den Dienstboten über die Möbel gestülpt wurden, gibt es auch in Kleinformat für das Miniaturmobiliar.


[1] Essay zur Quelle: Puppenhaus Dingley Hall (1875)


Litertaturhinweise:

  • Budde, Gunilla-Friederike, Auf dem Weg ins Bürgerleben. Kindheit und Erziehung in deutschen und englischen Bürgerfamilien, 1840-1914, Göttingen 1994.
  • Cassis, Youssef, Wirtschaftselite und Bürgertum. England, Frankreich und Deutschland um 1900, in: Kocka, Jürgen (Hg.), Bürgertum im 19. Jahrhundert. Deutschland im europäischen Vergleich, 3. Bde., Bd. 2, München 1988, S. 9-34.
  • Powell, John, Testimony in High Places.
  • Hijiya-Kirschnereit, Irmela (Hg.), Kulturbeziehungen zwischen Japan und dem Westen seit 1853, München 1999.
  • Conrad, Sebastian, Globalisierung und Nation im deutschen Kaiserreich, München 2006.


Zugehörige Quelle:
Puppenhaus Dingley Hall (1875)

Puppenhaus Dingley Hall (1875)[1]

Gesamtansicht


Kapelle


Japanisches Zimmer


Küche


Grünes Zimmer


Die Veröffentlichung dieser Abbildungen erfolgt mit Unterstützung und freundlicher Genehmigung des Spielzeugmuseums Soltau, Soltau. © 2008 Copyright Spielzeugmuseum Soltau.



[1] Norddeutsches Spielzeugmuseum Soltau. Die Gesamtansicht (Schwarz-Weiß-Foto) wurde vor 1909 von einem anonymen Fotografen aufgenommen; die nachfolgenden Fotos wurden für das Spielzeugmuseum Soltau von Herrn Horst Wundschuh aufgenommen.


Zugehöriger Essay:
Budde, Gunilla: Das europäische Puppenhaus: Dingley Hall

Für das Themenportal verfasst von

Gunilla-Friederike Budde

( 2008 )
Zitation
Gunilla-Friederike Budde, Das europäische Puppenhaus: Dingley Hall, in: Themenportal Europäische Geschichte, 2008, <www.europa.clio-online.de/essay/id/fdae-1461>.
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