Stand auf der Pariser Weltausstellung / Die schwarzen Männer (1899–1900); Émile Gallé : Stand à l’Exposition universelle de Paris / Les Hommes noirs (1899–1900)

Émile Gallé: Stand auf der Pariser Weltausstellung / Die schwarzen Männer (1899–1900)[1]

Émile Gallé : Stand à l’Exposition universelle de Paris / Les Hommes noirs (1899–1900)

Abb. 1: Stand auf der Pariser Weltausstellung

Fig. 1: Stand à l’Exposition universelle de Paris


Abb. 2: Die schwarzen Männer/Detail 1

Fig. 2: Les Hommes noirs/Détail 1


Abb. 3: Die schwarzen Männer/Detail 2

Fig. 3: Les Hommes noirs/Détail 2


Abb. 4: Die schwarzen Männer/Detail 3

Fig. 4: Les Hommes noirs/Détail 3


Abb. 5: Die schwarzen Männer/Detail 4

Fig. 5: Les Hommes noirs/Détail 4



[1] Gallé, Émile, Stand auf der Pariser Weltausstellung 1900, Fotografie, Privatarchiv; ders., Die schwarzen Männer, 1899–1900, collection particulière.


Die schwarzen Männer (1899–1900), Eine Vase von Émile Gallé für die Sache von Dreyfus[1]

Von Bertrand Tillier

Die Dreyfus-Affäre wird meist als eine politische und moralische Krise mit tiefen Wirkungen auf die französische Gesellschaft oder die diplomatischen Beziehungen zwischen Deutschland und Frankreich betrachtet. Sie ist aber auch ein Kristallisationspunkt für die europäische öffentliche Meinung. Die Ereignisse und Entwicklungen in der Affäre, die Debatten und die Leidenschaften, die sie entfachte, und auch der Kampf um die Werte von Gerechtigkeit und Wahrheit, den sie vorantrieb, bildeten die ersten Momente eines europäischen Gewissens. Es manifestierte sich auf unterschiedliche Weise: durch Petitionen, Zeitschriften, Illustrationen, Karikaturen, Zeichnungen in der Tagespresse, Plakate, Postkarten und vieles mehr. All diese Medien verband, dass sie sich für eine rasche kollektive Mobilisierung eigneten, leicht reproduzierbar waren und zur Massenkultur gehörten.

Welche Strategien verfolgten in diesem politischen und polemischen Kontext die Künstler in Europa? Die meisten von ihnen entschieden sich dafür, kritische oder satirische Bilder an die Presse zu geben, wie z.B. Jean-Louis Forain, Caran d’Ache, Félix Vallotton, Théophile-Alexandre Steinlen und Maximilien Luce. Ihnen war bewusst, dass ihre Werke in verschiedenen Zeitungen in Europa nachgedruckt werden würden: z.B. im Punch in London, im Simplicissimus in München, im Wahren Jakob in Berlin und im Asino in Rom. Einige Künstler schufen Gemälde, die sie zu verschiedenen Anlässen in Europa ausstellten, wie der Pole Samuel Hirszenberg das Bild Der ewige Jude (1899, Israel Museum) oder der Schweizer Ferdinand Hodler verschiedene Versionen von Die Wahrheit (um 1900). Émile Gallé fertigte mehrere Glaswaren und Möbel, die er ausstellte, in der Presse bewarb und an Kunstliebhaber in- und außerhalb Frankreichs verkaufte. Im Europa der Nationen und Nationalismen war er einer der Ersten, die noch vor dem Internationalismus der Avantgarden des 20. Jahrhunderts begriffen, welche Möglichkeiten eine internationale Tribüne wie die Pariser Weltausstellung von 1900 bot. Das zeigt die Geschichte einer seiner Vasen, mit der er für Dreyfus Stellung bezog: Die Schwarzen Männer.

Émile Gallé (1846–1904), der Gründer und erste Präsident der École du Nancy, war nicht nur ein Kunsthandwerker, der für seine Möbelkreationen, seine Glas- und Keramikkunst wie auch für sein leidenschaftliches Interesse an Literatur und Botanik berühmt war. Er war auch ein Humanist und Aktivist, der zu vielfältigen Anlässen sein Werk in den Dienst von moralischen und politischen Angelegenheiten stellte und Sensibilität für aktuelle internationale Entwicklungen zeigte: Er unterstützte das Engagement von Bernard Lazare für die Juden in Rumänien, die Opfer von staatlichem Antisemitismus wurden. Er ehrte den irischen Patrioten William O’Brien für seinen Kampf um die Unabhängigkeit des katholischen Irlands vom anglikanischen England. Er sensibilisierte die öffentliche Meinung für die Massaker und Ausschreitungen, denen die Armenier im ottomanischen Reich des „roten (blutigen) Sultans“ Abdülhamid II. ausgesetzt waren. Er klagte die Untaten bei der Kolonisierung Westafrikas an, indem er den Skandal um die „Freiheitsdörfer“ bekannt machte, in denen die französischen Truppen mehrere tausend ehemalige Sklaven unterbrachten, die zwar befreit waren, aber weiter als billige Arbeitskräfte abhängig gehalten wurden. Außerdem war er aktiv an der Gründung der Liga der Menschen- und Bürgerrechte, der Volkshochschule und des Volkshauses in Nancy beteiligt. Der geborene Lothringer Gallé, der die deutsche Annexion der östlichen Gebiete nach der Niederlage von 1870 miterlebt hatte, verteidigte unermüdlich die Minderheitenrechte, das Recht auf territoriale Unabhängigkeit, religiöse Toleranz und die individuellen Bürgerrechte.

Während der hitzigsten Jahre der Dreyfus-Affäre von 1898 bis 1900 widmete Gallé der Sache des jüdischen Hauptmanns, der ungerechter Weise des Verrats schuldig gesprochen und zur Deportation verurteilt worden war, zahlreiche Glaskunstarbeiten. Er überließ sie z.B. dem Richter Henry Hirsch, verschenkte sie, insbesondere an den Anwalt Joseph Reinach, oder widmete sie Prominenten, die von Dreyfus’ Unschuld überzeugt waren – Auguste Scheurer-Kestner, Émile Zola, Pierre Quillard und Sarah Bernhardt.[2] Zur Weltausstellung 1900 in Paris, deren Vorbereitung ihn während der Jahre 1898 und 1899 fast ausschließlich beschäftigte, präsentierte er eine große Zahl seiner „sprechenden Glaskunstwerke“, die Werte wie Gerechtigkeit, Wahrheit, Menschlichkeit, Vernunft und Aufklärung beschworen. Angeordnet waren sie auf einem nach dem Vorbild eines Glasbrennofens gestalteten Stand. Zusammen mit der spektakulären Amphore des Königs Salomon, die im Museum der Schule von Nancy aufbewahrt wird, gehört die Vase Die schwarzen Männer zu diesem Ensemble, das eine Inschrift Hesiods auf dem Mantel des Ofens krönte:

„Aber wenn alle Männer boshaft, falsch und untreu sind
Ergreife ich die üblen Dämonen des Feuers: Die Vasen bersten! Der Ofen stürzt ein!
Damit alle lernen, Gerechtigkeit zu üben.“

Der „rächende Ofen“, wie ihn der Komponist und Dreyfus-Anhänger Albéric Magnard nannte[3], war mit Glaskrügen dekoriert, die von den sieben Krügen Marjolaines inspiriert waren. Das Motiv ist einem poetischen Märchen aus dem 1894 erschienenen Buch von Monelle entlehnt, in dem Marcel Schwob junge Mädchen beschrieb, die mit dem Geheimnisvollem ringen.[4] In „Die Träumerin“ war Marjolaine die Waise eines Vaters, der Erzähler und Bildner von Träumen gewesen war. Er hatte ihr als einziges Erbe eine armselige Strohhütte und einen Kamin hinterlassen sowie „die sieben Krüge, die ganz verraucht oben auf der Esse standen und voller Geheimnisse waren“ und „an einen hohlen und wellenförmigen Regenbogen“ erinnerten.

Schwob beschrieb den Inhalt eines jeden Kruges mit einer Fülle an Details und symbolistischen Assoziationen, die Gallé faszinierten. Aber diese Wunder, Träume und Geheimnisse waren nur von Marjolaine wahrnehmbar, die „die Wahrheit wußte“, während jene, „die von diesen Dingen nichts wußten“, nur alte, unbedeutende Krüge sahen.[5]

Gallé übernahm diese Ambivalenz des Sichtbaren, um seine Glaswaren anzuordnen. Auch die Vase Die schwarzen Männer ist davon durchdrungen.

Im April 1898 schrieb Émile Gallé in der Revue des arts décoratifs: „Heute muss man Blumen vor die Füße der Barbaren werfen! Man muss die berührende Anmut ihres Sterbens über die bescheidensten Gegenstände ausbreiten! Was bedeutet es schon, wenn hunderte dieser schönen Stückchen Leben unter den Raubtieren und Bestien im Staub ihr Leben aushauchen, wenn nur ein einziger in dieser den blühenden Pfaden entfremdeten Meute eine Blume mit nach Hause nimmt! Was bedeutet der Schmerz, was die tausendfache Zerstörung der Blüten, wenn eines dieser harten Herzen sich einen Moment für eine zu Boden geworfene Rose erbarmt und sich trotz seiner Müdigkeit und des Abscheus vor am Boden liegenden Dingen hinabbeugt.“[6] Diese Erklärung spricht von der Resignation des Künstlers und zugleich von der Hoffnung, die ihn im Kampf für die Wiederherstellung der Wahrheit antrieb. Mit dem Bild der vom Welken bedrohten Blume definierte Gallé auch die Begriffe von Anmut und Schönheit im Gegensatz zur Barbarei der Gleichgültigkeit. Zugleich führt er die Idee eines notwendigen Opfers ein, dessen Schauplatz auch sein Werk ist.

„Das Denken Gallés stimmt in seinem Wesen mit dem von Carrière überein. Für Eugène Carrière wie auch für Gallé bedeutete das Künstlersein in erster Linie ein Mensch zu sein, der unter den Leiden der anderen leidet und sich an ihren Freuden erfreut; ein Mensch, der weit davon entfernt ist, sich den Problemen seiner Zeit, den Kontakten mit anderen Menschen und den Konflikten innerhalb des Volkes zu entziehen; der sich vielmehr in alle großen Auseinandersetzungen seiner Epoche einmischt und an allen Bestrebungen, Nöten und Wünschen seiner Zeit Anteil nimmt“, schrieb Gaston Varenne voller Anerkennung.[7] Kurz zuvor hatte der Kunstkritiker Roger Marx das politische Engagement von Gallé unterstrichen: „Nichts lag ihm ferner, als zaghaft in der sicheren Abgeschiedenheit eines Elfenbeinturmes zu leben. Er wollte den Lärm der Außenwelt hören und sich in die Ereignisse seiner Zeit einmischen. Genauso wie er während des unseligen Krieges seine Pflicht als Patriot erfüllte, erlebte man ihn später mit dem gleichen Einsatz als Staatsbürger. Er fragte sich, wer denn die Massen leiten sollte, wenn sich die Eliten der Verantwortung entzögen?“[8] Varenne und Marx reagierten damit nach dem Tod Gallés auf unterschiedliche Weise auf die scharfen Angriffe, denen der Künstler während der Dreyfus-Affäre ausgesetzt gewesen war. Die Zeitung L’Est républicain in Nancy hatte damals sein Engagement ironisch kommentiert:

„X. Ihre Mitteilung, dass G..., der exquisite Glaskünstler, ein Dreyfusianer oder Dreyfusard ist, überrascht mich!!
Z. Mehr noch, er ist Dreyfusartiste.“[9]

Aufgrund der Dreyfus-Affäre und im Zuge der Herausbildung einer „gesellschaftlich verantwortlichen Kunst“, die von Roger Marx gepredigt wurde[10], wandte sich Gallé zunehmend der Idee zu, dass die Kunst und das Schöne nützlich zu sein hätten. Das bezeugt eine Erklärung des Künstlers in seiner Rede über den symbolischen Dekor, die er am 17. Mai 1900 vor der Académie de Stanislas hielt: „Das Entwerfen von Motiven, um die Fassaden unserer Häuser und nützliche oder rein angenehme Gegenstände mit Linien, Formen, Nuancen und Gedanken zu versehen [...] ist eine ernsthaftere und folgenreichere Beschäftigung, als der Ornamentschöpfer gemeinhin annimmt.“[11] Gallé stellte seine Kunstkonzept in einem Text dar, der Rodins Denkmal Claude Lorain aus dem Jahr 1892 verteidigte.[12] Er definierte darin zuerst die „dekorative“ Form: Sie sei raffiniert, angenehm, verführerisch und perfekt, aber ohne moralischen Anspruch.[13] Dieser unfruchtbaren und einschränkenden Konzeption von Kunst stellte Gallé die „expressive“ Form gegenüber. Sie ermögliche es zu sehen, zu verstehen und zu fühlen, da sie sich am Schnittpunkt des „physischen und moralischen Lebens“ entwickle und zugleich die Persönlichkeit des Künstlers ausdrücke. Gallé unterstrich, dass Kunst nur dann entstehe, wenn sie expressiv sei und zwar noch bevor sie dekorativen Charakter habe. Durch diese Umkehrung richtete er die Bestimmung seiner „dekorativ“ genannten Kunst neu aus. Erst durch die Darstellung einer Botschaft, eines Engagements oder einer Überzeugung gewinne sie Gültigkeit. Auf diese Weise emanzipierte Gallé seine Kunst von den üblichen Kategorien und Kriterien. Sein Werk befreite sich von den herkömmlichen Vorstellungen, um eine andere ästhetische Funktion und eine andere moralische Bedeutung zu erlangen. Gallé forderte zugleich dazu auf, das Kunstgewerbe zu verändern. Die bürgerliche Vorstellung eines Kunstobjekts als Nippsache sollte durch den Anspruch auf staatsbürgerliche und moralische Nützlichkeit erneuert werden, die alle sozialen Schichten für die Schönheit zu sensibilisieren trachtete.

Das künstlerische und soziale Anliegen Gallés zielte sowohl darauf, das alltägliche Leben einer größtmöglichen Zahl von Kunstliebhabern jenseits der wirtschaftlichen und intellektuellen Elite zu verschönern, als auch auf die Verbreitung von Meinungen, ganz so, als wäre sein mehrdimensionales Werk eine Art Tribüne geworden. Daher stammen seine Idee einer „Kunst für alle“ und sein Eintreten für die Serienproduktion.[14] Es ist wahrscheinlich auch der Grund dafür, dass er zwei ähnliche Versionen der Schwarzen Männer schuf. Eine, die aus dem Besitz der Familie Eugène Corbins stammt, wird heute im Museum der Schule von Nancy aufbewahrt. Die andere verblieb bis in jüngere Zeit in der Familie des Künstlers[15] und gehört jetzt zur Sammlung des Corning-Glasmuseums in den USA. Weil Gallé seine Fayencen, Glaswaren oder Intarsienmöbel als Absichtserklärungen, als Verkündung von Überzeugungen, gar als Protestkundgebung, aber auch als Zeit-Zeugnisse und Denkmäler betrachtete, schuf er immer mehr polemische, apologetische, kommemorative und belehrende Werke.[16]

Gallé entschied sich angesichts der Dreyfus-Affäre für eine definitive Veränderung seines symbolischen und ikonografischen Registers. Er gab die Allegorie auf und wandte sich der Natur zu, die er für poetischer, sensibler und verständlicher hielt.[17] Sie schien ihm zudem besser zur kämpferischen Mission zu passen, mit der er sein Werk betrauen wollte. Bereits 1893 hatte er sich in seinem Kommentar zur Vase Pasteur (Paris, musée Pasteur), die man bei ihm zur Ehrung des Werkes des großen Gelehrten bestellt hatte, gefragt: „[...] wie stellt man die Metamorphose falscher Lehrmeinungen plastisch dar [...]?“[18] Auf diese Frage, die auf eine Darstellung der wissenschaftlichen Irrtümer zielt, antwortet der Glaskünstler indirekt in seiner Rede vor der Academie de Stanislas: „[...] wünschenswert wäre, dass das Symbol nicht zu rätselhaft ist; der französische Geist liebt die Klarheit, und recht hat er [...]“.[19]

In diesem Zusammenhang schuf Gallé „sprechende“ Glasobjekte, die für Dreyfus, die Gerechtigkeit, die Wahrheit und den Humanismus eintraten. Unter ihnen gebührt der Vase Die schwarzen Männer ein einzigartiger Platz. Gallé schuf sie gemeinsam mit dem Maler und Bildhauer Victor Prouvé (1858–1943), der auch Dreyfus-Anhänger war, und Prouvé hat sie auch kosigniert. Die aus dreischichtigem Glas gefertigte Vase mit rundem Bauch, engem Hals, zwei Henkeln und einem mit Kupfergravur erzeugten Dekor ist von der Antike inspiriert und sollte „Fanatismus, Hass, Lügen, Vorurteile, Feigheit, Egoismen und Heuchelei aller Art“[20] anprangern. Die Botschaft wird zuerst von der Pflanze vermittelt, die den Anschein einer weißen Lilie hat, sich aber als schwarzer Schierling entpuppt, den der Botaniker Gallé[21] als Symbol der Lüge und der Verleumdung verwendet, aber auch als Metapher für die Finsternis und die böse Tinte, die von den Dreyfus-Gegnern genutzt würden. Noch während die Vase entworfen wurde, kamen in Gallé schon Zweifel auf: „[...] ich fragte mich, ob diese satirische, quasi pamphletartige Bedeutung zu dem klaren, fragilen Material Glas passt. Ist es nicht eher die Domäne der Radierung, die spontan mit aller Rücksichtslosigkeit der Säure ätzt, wie es zum Beispiel Goya getan hat [...]“.[22] In der gleichen schwarzen, monströsen Art wie Goya in seinen Grafiken Los Caprichos und sogar bereit, gegen das Material Glas anzukämpfen, führte Gallé ein Dekor aus, das nach den Effekten des Materials und der Färbungen ersonnen wurde. Es stellte das Matte und das Brillante, mächtiges Schwarz und leuchtendes Gelb gegenüber. Daraus ragten formlose Lichtfelder und hybride Figuren hervor, die nicht auf „irgendeine Klasse von Staatsbürgern“[23] abzielten, sondern auf die Männer im Schatten, die Komplotte schmiedeten, von Fortschrittsfeindlichkeit getrieben und von Antisemitismus durchdrungen waren. „Ich habe nicht die Figuren vermehrt [...], ich habe sie so gestaltet, dass sie sich von den schlechten Dämpfen abheben [...], ich habe oben die Köpfe hell gelassen, als Köpfe des Lichts und der bestürzten Gerechtigkeit [...]. Die Henkel müssen meiner Meinung nach als bedrohliche Hydren gestaltet werden...“, schrieb Prouvé an Gallé.[24] Schwarze Schlammflecken und ein orangefarbenes Leuchten gehen tatsächlich aus den Kreaturen der Nacht hervor – fratzenhaft verzerrten Fabelwesen mit krallenbewehrten Pranken, Fledermausflügeln, Tentakeln einer Hydra und dem Körperbau von Raubtieren. Sie evozieren die verbündeten geheimen Kräfte der Kirche, der Armee und der Justiz, die konspirieren, um den unschuldigen Dreyfus zu verurteilen, und die entschlossen sind, eine Revision seines Prozesses zu verhindern.

Die Wirkung der Vase Die Schwarzen Menschen basiert auf der Sparsamkeit der Suggestion und auf der Verbindung von Ikonografie, Formen, Materialien, Farben und poetischem Text. Denn es ist ein „sprechendes“ Kunstwerk: Auf ihrem Hals trägt die Vase in stilisierten Lettern die Frage: „Sagt, woher ihr schwarzen Herrn?“ Die Antwort findet sich auf dem Bauch der Vase, sie scheint sich aus dem Dunst hervorzuquälen: „Kommen aus dem Erdenschlunde.“ Diese Worte stammen aus dem antiklerikalen Chanson des Dichters Pierre-Jean de Béranger (1780–1857) „Die hochwürdigen Väter“, das er 1819 schuf. Es richtete sich gegen die zunehmende Macht der Jesuiten im Frankreich der Restauration, insbesondere im Bereich der Volksbildung[25]:

„Sagt, woher ihr schwarzen Herrn?“
Kommen aus dem Erdenschlunde,
Sehn, halb Fuchs, halb Wolf, es gern
Dunkel über unsrem Bunde;
Loyola’s Schaar sind wir genannt:
Ihr wisst, warum man uns verbannt.
Da sind wir wieder, schweigt vom Grunde.
Wir stächen euren Kindern gern den Staar.
Wie’s vor Zeiten war,
Bringt sie uns nur dar
Die liebe, gute, kleine Kinderschaar.[26]

Indem er den Anfang dieses Gedichts von Béranger entleiht, versucht Gallé die Erinnerung an ein populäres Chanson wiederzubeleben, das nur wegen seines Antiklerikalismus vor dem Vergessen bewahrt wurde, welchem das Werk des Dichters seit Mitte des 19. Jahrhunderts allmählich anheimfiel. Bérangers Spottworte erlaubten es dem Glaskünstler vielleicht, die Schwärze des Dekors zu mildern und dabei das Erbe der Aufklärung zu bewahren. Der Künstler, der eigentlich die strahlenden Worte der sonnigen Verse Hugos bevorzugte („Das Licht steigt in allem auf wie eine Macht“, „Licht, du wirst nie verlöschen“, „Die Dunkelheit bedeckt die Welt/ aber die Idee illuminiert und leuchtet“), hatte auf diese Weise vielleicht ein Mittel gefunden, um über eine verzweifelte Feststellung hinauszugelangen. „Bald wird man nicht mehr das Licht ersehnen oder von Gerechtigkeit und Wahrheit reden können, ohne für einen schlechten Patrioten gehalten zu werden. Es ist schmerzhaft, das feststellen zu müssen“, klagte er in einem offenen Brief im Progrès de l’Est.[27]

Für Gallé war das Licht sowohl ein plastischer Wert, den er der Dunkelheit entgegenstellte, als auch ein moralischer Wert, der verbunden war mit den Prinzipien von Gerechtigkeit, Wahrheit, Brüderlichkeit, Gewissen, Unschuld, Menschlichkeit und Achtung, die „dem Menschen wie Fackeln gegeben wurden“, wie er an Louis Havet schrieb.[28] Indem er entschied, mit der Vase Die schwarzen Männer die Finsternis und ihre hybride Gestalt darzustellen und zu erforschen, und zwar im gleichen Moment, in dem sein Glaube an die humanistischen Werte durch die Dreyfus-Affäre gestärkt wurde, verkündete er noch einmal nachdrücklich seine Überzeugung: „[...] es gibt keine Kunst, es gibt keine Schönheit, es gibt kein anderes Interesse am Leben als das Heil der unantastbaren Ideen.“[29] Mit Blick auf diese Forderung stellt sich die Frage nach der Darstellungsweise. Wie ließen sich die Werte darstellen, die im Zuge der Dreyfus-Affäre und des davon ausgelösten Machtkampfes in den Vordergrund rückten? Wie konnte man die Affäre selbst darstellen, wenn doch, wie Gallé Hugo zitiert, die Beleidigung „niemals ein Gesicht, niemals einen Namen hat“?[30] Der symbolistische Künstler zog die Suggestion der Abbildung vor, weil Kunst seiner Meinung nach nur aus der Evokation lebt und sich nur „in Abgrenzung von der Imitation“ etabliert.[31]

Gallé stellte an seine für Dreyfus Partei ergreifenden Werke viele Ansprüche: Kraft, Ernsthaftigkeit, Belehrung, Großherzigkeit, Intelligenz u.a.[32] Sie erlaubten es ihm, seine Kunstliebhaber, die er als Betrachter und Leser ansah, zu unterweisen. Sie waren aufgefordert seine Werke zu befragen und zu dechiffrieren. „Ob man darüber spottet oder nicht, ich bleibe wie die Künstler des Mittelalters, die auf der Grundlage des Glaubens und der Ideen ihre Werke schufen, meiner Arbeitsweise treu, indem ich auf meinen Vasen Texte anbringe und meine Käufer durch Schriftzüge aufkläre“, machte Gallé in Abgrenzung zu Barrès geltend.[33] Statt die Geschichte in ihrer Gänze darzustellen, bevorzugte Gallé das Mysterium mit seinen Fragen und seiner Mehrdeutigkeit. Henriette Gallé bekannte dies indirekt in einem späten Brief an Joseph Reinach im Jahr 1906, während der erneuten Lektüre der Bände seiner Geschichte der Dreyfus-Affäre: „[...] die wunderbare Affäre bleibt fesselnd und in einiger Hinsicht noch mysteriös. Alle mit ihr zusammenhängenden Verbrechen und vor allem alle ihre Beweggründe sind, auch wenn man sie erahnt, noch nicht aufgedeckt.“[34] Ist das nicht auch die Botschaft der Schwarzen Männer, wie dies Louis de Fourcaud[35] in seiner 1903 veröffentlichten Monographie vorschlug, in der er das kompromisslose Engagement des Dreyfus unterstützenden Künstlers begrüßte: „[...] unter den Schlägen aufgepeitschter Emotionen, die aus den öffentlichen Ereignissen hervorgingen, zeigte Gallé 1900 eine Tintenphiole, die Holunderbeeren, entstellt vom Abbild der Verleumdung, und eine düstere Vase (Die schwarzen Männer), versehen mit der grauenhaften Erscheinung von Scheinheiligkeit, Lüge und Falschheit. Diese polemischen Werke haben den Weg zu neuartigen Beschwörungen einer poetischen Menschlichkeit gebahnt.“[36]

Durch ihr Dekor und ihre Inschrift will die Vase Die schwarzen Männer jene Menschen ansprechen, die noch nicht „die Ungeheuerlichkeit des nationalen Verbrechens empfunden haben, die zwanghafte Empfindung, dass eine Strafe um jeden Preis und sofort aufgehoben werden muss, die einen Unschuldigen trifft und sich dadurch zu einem furchtbaren Martyrium entwickelt.“[37] Gallé wollte die expressive Vase zugleich zu einem Kenotaph machen: „Mögen die von Ihnen und den Ihren erlittenen unaussprechlichen Schmerzen für unsere traurige Gemeinschaft nicht vergebens gewesen sein! Mögen sie das Gewissen aus seinem Tiefschlaf wachrütteln! Mögen viele Menschen daran denken, dass in jedem Augenblick Unschuldige die höchste Not der Verlassenheit und Verzweiflung erleiden!“[38] Diese Mahnung Gallés in einem Brief an Alfred Dreyfus, der gerade seine Erinnerungen an die Deportation veröffentlicht hatte, hätte die Erklärung Der schwarzen Männer ersetzen können; sie war der leitende Impuls für die Erschaffung der Vase.


[1] Essay zur Quelle: Émile Gallé: Stand auf der Pariser Weltausstellung / Die schwarzen Männer (1899–1900). Der Essay wurde von Thomas Höpel aus dem Französischen übersetzt. Vgl. für die französische Version Bertrand, Tillier, Les Hommes noirs, Une verrerie dreyfusarde d’Émile Gallé (1899–1900), in: Themenportal Europäische Geschichte, URL: <http://www.europa.clio-online.de/2014/Article=682>.

[2] Tillier, Bertrand, Émile Gallé, le verrier dreyfusard, Paris 2004. Siehe auch La Tacon, François, Émile Gallé, Maître de l’Art nouveau, Strasbourg 2004, S. 90–111.

[3] Perret, Simon-Pierre; Halbreich, Harry, Albéric Magnard, Paris 2001, S. 169–170.

[4] Schwob, Marcel, Das Buch von Monelle, Leipzig 1983, S. 50–53.

[5] Ebenda.

[6] Revue des arts décoratifs, XVII, April 1898, S. 144–148.

[7] Varenne, Gaston, La pensée et l’art de Gallé, in: Le Mercure de France, 1. Juli 1910, S. 31–40.

[8] Marx, Roger, Émile Gallé écrivain, in: Mémoires de l’Académie de Stanislas, 1906–1907, S. 240.

[9] L’Est républicain, „Toujours l’Affaire“, 18. Dezember 1898.

[10] Marx, Roger, L’Art social, Paris 1913.

[11] Gallé, Émile, Le Décor symbolique, 1900, wiederveröffentlicht in: Écrits pour l’Art, S. 212.

[12] Gallé, Émile, L’Art expressif et la statue de Claude Gelée par M. Rodin, 1892, wiederveröffentlicht in: Écrits pour l’Art, S. 136.

[13] Ebenda, S. 137.

[14] Thiébaut, Philippe, Art et industrie, Pièces „uniques“ et séries „riches“ dans la production d’Émile Gallé: in: Ausstellungskatalog, Verreries d’Émile Gallé, De l’œuvre unique à la série, Paris/ Nancy, musée de l’École de Nancy, 2004, S. 13–23.

[15] Siehe den Auktionskatalog: Succession Jean Bourgogne, unique petit-fils d’Émile Gallé, Paris, SVV Ader & Nordmann, Richelieu-Drouot, 20. März 2009, Teil 54, S. 30–31.

[16] Siehe den Ausstellungskatalog: Gallé, hrsg. von Françoise-Thérèse Charpentier et Philippe Thiébaut, Paris 1985–1986.

[17] Thiébaut, Philippe, Gallé, Le testament artistique, Paris 2004.

[18] Gallé, Émile, Écrits pour l’Art, S. 151.

[19] Ebenda, S. 215.

[20] Émile Gallé an Victor Prouvé, Privatarchiv.

[21] Le Tacon, François, Émile Gallé ou Le Mariage de l’art et de la science, Paris 1995; Gallé, Émile, L’Amour de la fleur, hrsg. von François Le Tacon und Pierre Valck, Nancy 2008.

[22] Ebenda.

[23] Émile Gallé an Victor Prouvé, Privatarchiv.

[24] Victor Prouvé an Émile Gallé, 14. November 1899, zitiert in Thiébaut, Philippe, Les dessins de Gallé, Paris 1993, S. 57.

[25] Touchard, Jean, La gloire de Béranger, 2 Bde, Paris 1968.

[26] „Die hochwürdigen Väter“, in: Beranger’s Sämmtliche Werke, 1. Band, Stuttgart 21859, S. 456f.

[27] Le Progrès de l’Est, 24. Januar 1898.

[28] Émile Gallé an Louis Havet, 10. September 1899, Paris, Bibliothèque nationale de France, département des Manuscrits.

[29] Ebenda.

[30] Gallé, Émile, Le Vase Prouvé, 1896, wiederabgedruckt in: Écrits pour l’Art, S. 185.

[31] Gallé, Émile, Le Vase Pasteur, 1893, wiederabgedruckt in: Écrits pour l’Art, S. 152.

[32] Gallé, Émile, L’Art expressif et la statue de Claude Gelée par M. Rodin, S. 146.

[33] Gallé, Émile, Mes envois au Salon, 1898, wiederabgedruckt in: Écrits pour l’Art, S. 200–201.

[34] Henriette Gallé an Joseph Reinach, 17. Juli 1906, Paris, Bibliothèque nationale de France, département des Manuscrits.

[35] Louis de Fourcaud war Professor für Kunstgeschichte und Ästhetik an der École nationale des Beaux-Arts.

[36] Fourcaud, Louis de, Émile Gallé, Paris 1903, S. 46.

[37] Émile Gallé an Émile Zola, 19. Februar 1901, Paris, Bibliothèque nationale de France, département des Manuscrits.

[38] Émile Gallé an Alfred Dreyfus, 8. Mai 1901, Paris, Musée d’art et d’histoire du Judaïsme.



Literaturhinweise

  • Ausstellungskatalog: Gallé, hrsg. von Françoise-Thérèse Charpentier et Philippe Thiébaut, Paris 1985–1986.
  • Ausstellungskatalog: The Dreyfus Affair: Art, Truth & Justice, hrsg. von Norman L. Kleeblatt, New York 1988.
  • Le Tacon, François , Émile Gallé, Maître de l’Art nouveau, Straßburg 2004.
  • Tillier, Bertrand, Émile Gallé, le verrier dreyfusard, Paris 2004.
  • Tillier, Bertrand, Les artistes et l’affaire Dreyfus (1898–1908), Seyssel 2009.

Quelle zum Essay
Die schwarzen Männer (1899-1900), Eine Vase von Émile Gallé für die Sache von Dreyfus
( 2014 )
Zitation
Stand auf der Pariser Weltausstellung / Die schwarzen Männer (1899–1900); Émile Gallé : Stand à l’Exposition universelle de Paris / Les Hommes noirs (1899–1900), in: Themenportal Europäische Geschichte, 2014, <www.europa.clio-online.de/quelle/id/q63-28512>.
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