“Russengas” und Röhrendeals. Der österreichische Erdgasliefervertrag mit der UdSSR, 1968[1]
Von Robert Groß
Warum über Erdgas schreiben
Erdgas und die Abhängigkeit Europas von russischen Erdgasimporten sind spätestens seit dem Einmarsch Russlands in die Ukraine im Februar 2022 in aller Munde. In der ersten Betroffenheit schien es Medienvertretern und Nichtregierungsorganisationen, als bestätige sich der lang gehegte Verdacht, Russland und seine Vorgängerin, die UdSSR, hätten diese Abhängigkeit herbeigeführt, um Energie als Waffe gegen „den Westen“ einzusetzen.[2] Die UdSSR/Russland hätten demnach eine ähnliche Strategie verfolgt wie jene Staaten des Globalen Südens in den 1970er-Jahren, die sich in der Organisation erdölexportierender Länder (OPEC) gegen „den Westen“ verbündet hatten.[3] Diese Erzählung wurde insbesondere von den USA und dem Nordatlantischen Verteidigungsbündnis (NATO) geprägt, um Sanktionen zu legitimieren und den Ausbau der fossilen Industrie in der UdSSR zu behindern. Sie entspricht jedoch nur zum Teil den historischen Tatsachen.[4] Darauf wiesen der Technik- und Umwelthistoriker Per Högselius und der Politologe Thane Gustafson in ihren auf konsequenter Archivrecherche basierenden Studien zur Geschichte des Erdgashandels zwischen der UdSSR und westeuropäischen Staaten hin.[5] Die Aufarbeitung der Geschichte der Erdgasversorgung Europas bedeutet daher auch, verkürzte und oft politisch oder wirtschaftlich motivierte Narrative als solche zu entlarven.
In Österreich ist die Importabhängigkeit von russischem Erdgas bis heute überdurchschnittlich hoch. Als erste westliche Demokratie schloss Österreich am 1. Juni 1968 einen Erdgasliefervertrag mit der UdSSR ab. Die Erdgaslieferungen erreichten Österreich im Oktober 1968 (Artikel 2). Sie markierten das Ende langjähriger Bemühungen um Erdgasimporte und läuteten eine neue Ära der europäischen Energieversorgung sowie der wirtschaftlichen und politischen Annäherung zwischen Ost und West ein. Dem Vertragsabschluss folgte der Aufbau einer transnationalen Infrastruktur, die die sowjetischen Erdgasfelder mit den Küchen, Badezimmern, Fabriken und Gaskraftwerken Westeuropas verband. Dieses Gasnetz zählt heute zu den komplexesten und auch teuersten paneuropäischen Infrastrukturnetzen Europas. Im Zuge des Auf- und Ausbaus wurde Österreich zu einer Drehscheibe des Erdgashandels. Die Geschichte der Erdgasversorgung Europas ist daher untrennbar mit der österreichischen Energiegeschichte verbunden und umgekehrt. Darüber hinaus trieb der Erdgashandel neben der politischen und wirtschaftlichen auch die infrastrukturelle Integration der Nationalstaaten Europas voran.[6] Im Folgenden wird der erste „Russengas-Vertrag“ mit Österreich energiehistorisch eingeordnet.
Wie das Erdgas in die Stadtgasnetze kam
Erdgas ist seit Jahrhunderten bekannt, wurde aber außerhalb der USA erst seit den 1950er-Jahren in größerem Umfang genutzt. Bis dahin wurde die Gaswirtschaft von Stadtgas aus Kohle und Koksgas, einem Nebenprodukt der Stahlindustrie, dominiert. Insbesondere in Ballungsräumen wurden die Gasnetze seit dem 19. Jahrhundert von einer Vielzahl privater und öffentlicher Akteure betrieben. In der Zwischenkriegszeit kam es zur Gründung bedeutender Unternehmen wie Distrigaz in Belgien (1929), das Stadtgas nach Antwerpen lieferte. In diese Zeit fällt auch die Gründung des Vorläufers der Ruhrgas (1926), die ab 1929 Köln versorgte.[7] Diese städtischen und regionalen Gasversorgungsunternehmen waren später bedeutsame Faktoren in den Importverhandlungen und beim Aufbau nationaler und transnationaler Erdgasinfrastruktur.
Die ersten Erdgasnetze entstanden im Umfeld der Erdölexploration. Das als Nebenprodukt anfallende und als wertlos erachtete Erdgas wurde zunächst einfach abgefackelt. In Rumänien, Österreich, Norditalien und Südwestfrankreich, aber auch in Großbritannien, Deutschland, Belgien, der Tschechoslowakei und der Sowjetunion begann ab den 1930er-Jahren die lokale Nutzung von Erdgas. Es wurde dem Stadtgas beigemischt und half so, Kohle für andere Zwecke einzusparen.[8] In stark importabhängigen Gebieten wie Österreich wurde Erdgas auch zur kalorischen Stromerzeugung eingesetzt.[9] Die aufgrund zerstörter Transportinfrastruktur getätigten Überlegungen zur nationalen Energiesouveränität während des Zweiten Weltkrieges waren ein wichtiger Impulsgeber für die Erdgaswirtschaft, etwa in Norditalien oder Frankreich. Dennoch erlangte der neue Energieträger in Europa bis 1945 allenfalls regionale Bedeutung, während ihm in den USA im nationalen Energiemix bereits zentrale Bedeutung zukam.[10]
Energiewirtschaftlich glich Europa in den 1950er-Jahren einem Mosaik voneinander isolierter Erdgasnetze. Und auch die unternehmerischen Aktivitäten existierten – politisch kaum koordiniert – nebeneinander. Nationale Erwägungen spielten allenfalls in Frankreich und Großbritannien eine Rolle, wo die Gaswirtschaft verstaatlicht war. Aber auch hier befand sich die Stadtgaswirtschaft wegen steigender Kohlepreise und zunehmender Konkurrenz aus der Erdölindustrie auf dem Rückzug.[11] Das änderte sich, als 1956 in der algerischen Wüste ein riesiges Erdgasfeld entdeckt wurde. Die Wirtschaftskommission für Europa der Vereinten Nationen (UNECE) richtete eine blockübergreifende Arbeitsgruppe ein. Auch die Organisation für europäische wirtschaftliche Zusammenarbeit (OEEC) befasste sich ab 1956 in ihren Energieausschüssen mit Erdgasfragen.[12] Regierungs- und Industrievertreter tauschten sich über den Stand der nationalen Verteilernetze, rechtliche Aspekte des transnationalen Pipelinebaus sowie technische und kommerzielle Aspekte des Erdgashandels aus. Vor allem in Italien, Frankreich und Großbritannien machte sich eine regelrechte Saharagaseuphorie breit.[13]
Wichtig für die verstärkte Zusammenarbeit der Gaswirtschaft in Europa war auch der Erdgasfund in der niederländischen Provinz Groningen im Jahr 1959. Dieser wurde zwischen 1963 und 2023 von der Nederlandse Aardolie Maatschappij (NAM) bewirtschaftet und ermöglichte den Verzicht auf Kohle in der Gasproduktion, aber auch in allen anderen Bereichen des wirtschaftlichen Lebens. Der niederländische Finanzminister Jelle Ziljstra erinnerte sich später an eine Energiewende: „Unzählige Bezirke, jeder mit einem eigenen kleinen Gaswerk! Sogar einer mit weniger als achttausend Einwohnern. Stellen Sie sich das vor! Es war schmutzig, es war teuer, es war ineffizient [Übersetzung R.G.]“.[14] Die ersten Exportverträge der NAM folgten in den Jahren 1966 und 1967 mit Gaz de France (GdF), Thyssengas und Ruhrgas (beide BRD) und der schon erwähnten belgischen Distrigaz. Der Beginn der Erdgasimporte aus den Niederlanden leitete vielerorts das Ende der Stadtgasproduktion ein, die infolge der Kohlekrise in Westeuropa kaum noch rentabel war.[15] Für Österreich kam der Import von niederländischem Erdgas aber wegen der Entfernung sowie des im Vergleich mit dem österreichischen Erdgas deutlich niedrigeren Brennwerts nicht infrage. Beides hätte sich nachteilig auf den Endpreis ausgewirkt: die Distanz über den nötigen Rohrleitungsbau und der niedrigere Brennwert über die Umrüstung der österreichischen Infrastruktur. Der Brennwert ist nicht nur für den Preis des Erdgases, sondern auch für den sicheren Betrieb der Infrastruktur relevant und wurde daher stets vertraglich festgeschrieben (Artikel 4).
Neben Algerien und den Niederlanden stand Anfang der 1960er-Jahre auch die UdSSR im Mittelpunkt der europäischen Importbemühungen. Aufgrund der reichen Erdgasvorkommen wurde dort bereits 1944 eine 800 Kilometer lange Erdgasleitung errichtet, um die Energieversorgung Moskaus sicherzustellen. Ab 1948 wurde Kiew mit Erdgas aus Galizien versorgt. Die Wende zum Aufbau eines Erdgasverbundnetzes kam mit dem 20. Parteitag der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU) 1956, auf dem eine Vervierfachung der Erdgasförderung beschlossen wurde. Dies erforderte den koordinierten Ausbau der Erdgasnetze. 1956 wurde eine 1.300 Kilometer lange Pipeline von Stawropol nach Moskau gelegt, die man 1959 bis ins heutige St. Petersburg verlängerte. Weißrussland, Lettland und Litauen wurden Anfang der 1960er-Jahre an die Erdgasfelder der Ukraine angeschlossen, ebenso Moldawien und die Region um Odessa. 1961 war gar von einer Verfünfzehnfachung der sowjetischen Erdgasförderung die Rede.[16] Der Aufbau eines die Mehrzahl der sowjetischen Teilrepubliken integrierenden Erdgassystems und die Erschließung neuer Gasfelder in Sibirien schienen in unmittelbare Nähe gerückt. Die Prioritäten der Planwirtschaft verzögerten jedoch den Ausbau, da die erforderlichen Rohre und Kompressoren zwar dem sowjetischen militärisch-industriellen Komplex, nicht aber der zivilen Energiewirtschaft zur Verfügung standen.[17]
Anfang der 1960er-Jahre zeichnete sich eine Exportstrategie der UdSSR ab. Gleichzeitig führte die Kubakrise zu einer Verhärtung der Fronten zwischen den Großmächten. Die UdSSR galt bis dahin als lukrativer Absatzmarkt für Großrohre aus der BRD und Italien.[18] Das 1962 vom NATO-Rat beschlossene „Röhrenembargo“ sollte den Bau einer Ölpipeline in die DDR verhindern, verzögerte aber auch die Erschließung der sibirischen Gasfelder für den europäischen Markt. Frankreich zeigte seit 1956 Interesse am sowjetischen Erdgas. Auch Enrico Mattei von der italienischen Ente Nazionale Idrocarburi (ENI) reiste regelmäßig nach Moskau. Seit 1964 gab es Pläne für den Bau der Trans-European Pipeline, die Erdgas über Ungarn und Jugoslawien nach Italien bringen sollte. Das Projekt hätte Italien zu einer Drehscheibe für den Erdgastransit zwischen Ost und West gemacht, scheiterte aber aus zwei Gründen: Erstens wollten sich Ungarn und Jugoslawien nicht finanziell beteiligen. Zweitens war die Stahlindustrie Italiens gar nicht in der Lage, die von den Sowjets gewünschten Großrohre zu liefern.[19] Als das Röhrenembargo im November 1966 aufgehoben wurde, war der Bau einer Exportpipeline über österreichisches Territorium für das Moskauer Politbüro bereits beschlossene Sache,[20] und die Eckpfeiler des Importvertrags zwischen Moskau und Wien waren ausverhandelt.
Österreich und die europäische Erdgasgeschichte
Seit den 1930er-Jahren wird im österreichischen Bundesland Niederösterreich im Umfeld der Erdölfelder auch Erdgas gefördert. Mit der Eingliederung Österreichs ins Deutsche Reich mussten die dort tätigen britischen, US-amerikanischen und niederländischen Unternehmen die Konzessionen an die Deutschen abtreten. 1945 fiel die Förderung in die Hände der Sowjets. Diese gründeten die Sowjetische Mineralölverwaltung (SMV), die Erdöl förderte und als Reparationsleistung in die umliegenden osteuropäischen Staaten transportierte. Erdgas war lästiges Beiwerk, mit dem die Erdölraffinerien beheizt wurden. Erst mit der Gründung der Niederösterreichischen Gasvertriebs-GmbH (NIOGAS) 1954 durch die Landesregierung wurde das fossile Gas wirtschaftlich und politisch relevant. Im Jahr darauf (1955) erfolgte die Verstaatlichung der SMV als Österreichische Mineralölverwaltung (ÖMV). Wie ihre Vorgängerin weigerte sie sich, Erdgas an Niederösterreich abzugeben. 1957 hatte die NIOGAS schließlich eigene Konzessionen erworben und drohte an, selbst Erdgas zu fördern, wenn die ÖMV weiterhin keines verkaufen würde. Erst als die Regierungsspitze vermittelnd eingriff, stimmte das verstaatlichte Unternehmen einem zehnjährigen Erdgasliefervertrag zu und sah sich überdies dazu gezwungen, der NIOGAS einen 50-prozentigen Rabatt einzuräumen. Dieser ermöglichte es, innerhalb weniger Jahre ein regionales Erdgasnetz von rund 700 Kilometern Länge aufzubauen, sechs kommunal betriebene Stadtgaswerke aufzukaufen, auf Erdgas umzustellen und das Gasnetz in die benachbarten Bundesländer Oberösterreich und Steiermark auszudehnen. Und so rangierte Niederösterreich Anfang der 1960er Jahre unter den Erdgasspitzenverbrauchern innerhalb Europas.[21]
Der Erdgasboom war aber nicht nachhaltig. Schon Anfang der 1960er-Jahre zeichnete sich ab, dass die Nachfrage viel schneller wuchs als das Angebot. Doch die ÖMV sah keinen Grund zu handeln. Man hatte eine neue Raffinerie gebaut und produzierte massenhaft Heizöl. Die Konkurrenz durch das Erdgas war eher geschäftsschädigend. Um der Tatenlosigkeit etwas entgegenzusetzen, gründeten die Landesgasversorger von Niederösterreich, Wien und der Steiermark 1962 die Austria Ferngas (AFG). Diese bemühte sich mit Gasgesellschaften aus der BRD, der Schweiz, Frankreich, Italien, Jugoslawien und der ČSSR um Importmöglichkeiten. Die ÖMV lehnte eine Zusammenarbeit ab. Als die UdSSR Anfang 1964 den Bau der Hochdruckpipeline Bratstvo nach Bratislava ankündigte, nahm die AFG Kontakt mit der sowjetischen Außenhandelsorganisation Sojuznefteexport (SNE) auf und bot sich als nationaler Importeur an. Das Angebot aus Österreich wurde zunächst ignoriert, auch weil sich das sowjetische Gasministerium Mingazprom außerstande sah, Exportverpflichtungen einzugehen. 1966 reiste schließlich eine AFG-Delegation nach Moskau und handelte den ersten Importvertrag über rund 1,5 Milliarden Kubikmeter Erdgas pro Jahr aus. Im Gegenzug sollte Österreich Großrohre und technische Ausrüstung liefern (vgl. Artikel 2.1).[22]
Der von der AFG angebahnte Vertrag kam aber nie zustande, denn zwischenzeitlich hatte auch die ÖMV mit Moskau Kontakt aufgenommen. Ein Vertragsabschluss der AFG hätte das fossilenergetische Monopol des verstaatlichten Unternehmens wegen der jahrzehntelangen Vertragslaufzeit nachhaltig gebrochen. Zudem hätte eine derartige Konstruktion die Republik als Eigentümerin der ÖMV um enorme Einnahmen aus dem Erdgasgeschäft gebracht. Außerdem galt es, den Plan der ENI zu vereiteln, eine Importroute über Ungarn und Jugoslawien zu etablieren. Denn so wären der ÖMV Transitgebühren und damit finanzielle Ressourcen für den Ausbau der Erdgasinfrastruktur entgangen. Im August 1967 empfing die ÖMV also eine elfköpfige sowjetische Delegation in Wien und verhandelte während eines zweiwöchigen Aufenthaltes auf Schloss Hernstein die Eckpunkte jenes Vertrages, der schließlich im Juni 1968 unterzeichnet wurde. Aufgrund der drohenden Erdgaskrise in Österreich pochte die ÖMV auf einen möglichst raschen Lieferbeginn, wogegen sich die Sowjets vergeblich wehrten. Man einigte sich auf einen Lieferbeginn im September 1968. Den Bedenken der Sowjets gegen einen frühen Lieferbeginn wurde durch eine Einigung auf eine stufenweise Erhöhung der Liefermengen in den ersten Jahren Rechnung getragen (Artikel 2). Zudem erklärten sich die Österreicher bereit, das nötige Verbindungsstück zwischen Bratislava und Baumgarten bereits 1968 so zu dimensionieren, dass später auch die zusätzlichen Mengen nach Italien und Frankreich transportiert werden konnten.[23] Damit war die Integration der Erdgasnetze von West- und Osteuropa technisch-infrastrukturell auf lange Sicht bewerkstelligt.
Uneinigkeit herrschte über den Preis (Artikel 5). Die Österreicher orientierten sich an den Preisen, die die deutschen Ferngasgesellschaften für niederländisches Erdgas zahlten. Die Sowjets bestanden auf höheren Preisen, da der Abschluss des Vertrages künftige Verhandlungen mit Italien oder Frankreich beeinflussen würde. Schließlich hing von der Höhe des Preises die Menge der von Österreich zu liefernden Rohre und sonstigen Ausrüstungen ab. Da Österreich ebenso wie Italien nicht in der Lage war, Großrohre in der von der UdSSR geforderten Menge zu liefern, hatten die ÖMV und die Vereinigten Österreichischen Eisen- und Stahlwerke (VÖEST) bundesdeutsche Unternehmen mit ins Boot geholt. Sie würden Stahlplatten in die BRD liefern, und Mannesmann und Thyssen sollten daraus Rohre herstellen, welche die VÖEST in die UdSSR verschiffen wollte. Einen weiteren Streitpunkt stellte der Anteil der Kompensationsgeschäfte an der Gesamtvergütung dar. Österreich plädierte für umfangreiche Warenlieferungen, um der heimischen Industrie zu Aufträgen zu verhelfen. Die chronisch devisenschwachen Sowjets bevorzugten jedoch einen höheren Devisenanteil, der über eine komplizierte Kreditkonstruktion abgewickelt werden sollte (Artikel 6). Die Sowjets blieben hart, und die ÖMV hatte aufgrund der befürchteten Konkurrenz wenig Spielraum. Also gab die ÖMV den aus ihrer Sicht überhöhten Preisforderungen aus Moskau nach.[24]
Der Vertragsabschluss erfolgte gerade noch rechtzeitig, um eine Energiekrise in Österreich abzuwenden. Gleichzeitig waren die heimischen Erdgasreserven noch groß genug, um technische Lieferschwierigkeiten oder einen etwaigen politisch motivierten Lieferstopp der Sowjets für mehrere Monate zu überbrücken.[25] Die Verteilung innerhalb des Landes erfolgte entlang eines Protokolls, das unter Regie der AFG erstellt wurde (Artikel 4.7). Da Österreich spätestens mit Beginn der Lieferungen nach Italien 1971 als Transitland fungierte und die Vertragsverhandlungen gezeigt hatten, wie sehr die UdSSR auf die Lieferung von Rohren angewiesen war, konnte sich die ÖMV auf der sicheren Seite wähnen. Tatsächlich ging die Vertragstreue des Ministeriums für Gasindustrie (Mingazprom) so weit, dass dieses eher bereit war, den Gasfluss in die Ukraine zu drosseln, als vertragsbrüchig gegenüber dem Westen zu werden und Sanktionen zu riskieren (Artikel 4). Dies zeigte sich in den Wintern 1969 und 1970. Während die Ukrainer:innen in eiskalten Wohnungen saßen, Schulen nicht mehr geheizt wurden und Fabriken nicht mehr produzieren konnten, vermerkte die ÖMV in ihren Übergabeprotokollen an der Übergabestelle im niederösterreichischen Baumgarten (Artikel 4) lediglich leichte Druckschwankungen. Diese wurden als „Kinderkrankheiten“ einer neuen Infrastruktur abgetan. Tatsächlich konnte der Baufortschritt in der von Mangelwirtschaft geprägten sowjetischen Planwirtschaft mit dem steigenden Exportbedarf nicht Schritt halten, sodass das für die Ukraine bestimmte Erdgas einfach in den Westen umgeleitet wurde.[26]
Erdgas als Allheilmittel
Der erste Liefervertrag mit Österreich war für Mingazprom eine Art Bewährungsprobe für den Abschluss weiterer Lieferverträge mit wesentlich größeren Abnehmern. Die BRD schloss 1970 einen Vertrag ab, Italien und Frankreich folgten 1971 und 1972. Die Vertragsabschlüsse hatten auch Auswirkungen auf Österreich. Um das Erdgas nach Italien zu transportieren, kooperierten ÖMV und ENI beim Bau der Trans-Austria-Gasleitung. Diese führte seit 1974 von Baumgarten nach Tarvis und ermöglichte neben dem Erdgastransit auch die Versorgung der südlichen Bundesländer Steiermark und Kärnten.[27] Ab 1978 wurde darüber auch Jugoslawien beliefert. Zusätzlich baute die ÖMV Speicherkapazitäten auf. Dazu wurde vor allem in den verbrauchsschwachen Sommermonaten sowjetisches Erdgas in leergepumpte Gasfelder gepresst und im Winter wieder abgegeben. 1981 eröffnete die West-Austria-Gasleitung von Baumgarten nach Burghausen. Sie bildete das Rückgrat der Erdgasversorgung der westlichen Bundesländer Tirol und Vorarlberg über das Versorgungsgebiet der Bayerischen Ferngas und der Gasversorgung Süddeutschland in Baden-Württemberg.[28] Die ÖMV realisierte den Bau gemeinsam mit der Ruhrgas und der französischen GdF, die ursprünglich über die West-Austria-Gasleitung beliefert werden sollten. Als Frankreich 1972 einen Vertrag mit der UdSSR abschloss, entschied man sich jedoch für den Bau einer eigenen Pipeline durch die ČSSR. Sie wurde 1973 fertiggestellt und mündet bei Waidhaus in die von Ruhrgas und GdF gemeinsam gebaute Mitteleuropäische Erdgasleitung, die bei Saarbrücken nach Frankreich führt.[29]
Halb Westeuropa schloss in den 1970er-Jahren neue Verträge mit der UdSSR ab oder stockte bestehende Vereinbarungen auf. Die steigende Nachfrage nach Erdgas wurde auch vom wachsenden Umweltbewusstsein begünstigt. Das bei der Verbrennung von Kohle und Erdöl entstehende SO2 griff in Form von saurem Regen Gebäude an, ließ Seen versauern und stand zudem im Verdacht, Waldsterben zu verursachen. Überdies begünstigt Schwefel Korrosion in den Endgeräten. Ein niedriger Schwefelgehalt war also aus mehreren Gründen ein Qualitätskriterium. Daher wurde neben dem Brennwert auch der Schwefelgehalt des Erdgases fester Bestandteil der Vertragsverhandlungen (Artikel 4.10.1 und 4.10.2). Auf internationaler Ebene wurde das Thema Luftreinhaltung im Rahmen der ersten UN-Umweltschutzkonferenz 1972 in Stockholm aufgegriffen und resultierte 1979 in der Genfer Konvention der UNECE über weiträumige Luftverunreinigung.[30] All diese Entwicklungen machten Erdgas mit seiner fast rückstandslosen Verbrennung vor allem in Ballungsräumen zu einer effizienten Alternative zu Heizöl und Kohle. Auch die Erdgasversorger reagierten auf das Umweltbewusstsein in der Bevölkerung[31] und rückten die SO2-Emissionsfreiheit mehr und mehr in den Mittelpunkt ihrer Öffentlichkeitsarbeit,[32] wie etwa die Stadtwerke Innsbruck, die 1986 ankündigten, mit Erdgas „gegen schlechte Luft“ vorgehen zu wollen.[33]
Neben den Anforderungen des Umweltschutzes wirkten sich auch die Ölpreiskrisen günstig auf die Nachfrage nach sowjetischem Erdgas aus. Auf europäischer Ebene wurden die Energieagenden von der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) an die neu gegründete Internationale Energieagentur (IEA) delegiert. Diese entwickelte Strategien, um die Abhängigkeit von Erdöl aus den OPEC-Ländern zu verringern. Neben Lagerhaltung, Effizienzsteigerung und Sparmaßnahmen war die Diversifizierung der Energieversorgung der Mitgliedstaaten ein wichtiges Ziel der Maßnahmen der IEA.[34] In der kohlereichen BRD und in Großbritannien führte das zu einer Renaissance der Kohle. Frankreich setzte im Rahmen des Messmer-Plans, benannt nach dem französischen Premierminister (1972–1974) Pierre Messmer, auf den Ausbau der Atomenergie, um die Abhängigkeit von Erdölprodukten zu senken. Auch die BRD erlebte seit der Ölpreiskrise eine Atomeuphorie. Gleichzeitig wurde die bislang von der OECD propagierte Einschätzung von Erdgas als „zu wertvoll zum Verbrennen“ überdacht. Der neue Energieträger erhielt in den 1970ern nicht nur einen zunehmenden Stellenwert bei der Entschwefelung der Industrieproduktion, der thermischen Stromerzeugung und des Hausbrandes. Erdgas wurde auch zum Garanten für eine größere Unabhängigkeit von den OPEC-Staaten.[35]
Die Ölpreiskrisen schürten auch Ängste vor einer zunehmenden Importabhängigkeit von der UdSSR. Westeuropa sah sich daher nach alternativen Bezugsquellen um. Nun rückte Algerien erneut in den Fokus der Importbestrebungen. Das Land exportierte seit 1964 kleinere Mengen an verflüssigtem Erdgas (LNG) nach Großbritannien und Frankreich. Diese Exporte wurden Mitte der 1970er-Jahre massiv aufgestockt.[36] Schließlich wurde der Bau der Transmed Pipeline über Tunesien und Sizilien angegangen. Seit 1980 ist diese in Betrieb und versorgt neben Italien auch Mitteleuropa. Die niederländische NAM entschied sich trotz der Ölpreiskrise gegen eine Steigerung der Exporte, um die Einkommen aus den eigenen Erdgasfeldern über längere Zeit zu sichern.[37] Immerhin war abzusehen, dass auch die Erdgaspreise im Zuge der Ölpreiskrisen langfristig steigen würden.
Die gestiegenen Ölpreise machten in den 1970ern auch die sogenannte Offshore-Förderung in der Nordsee attraktiv, die bis dato aufgrund der hohen Kosten nicht rentabel war. 1979 entdeckte Norwegen das Trollfeld, das als derart ergiebig galt, dass die USA und die NATO darin eine Möglichkeit zur „Entwöhnung“ vom sowjetischen Erdgas sahen. Anders als in der UdSSR, wo die Erdgasförderung und -vermarktung durch eine monolithische, verstaatlichte Struktur und über bilaterale Handelsverträge erfolgte (vgl. Artikel 12 zum Verbot des Weiterverkaufs), gingen die Norweger ausschließlich nach marktwirtschaftlichen Prinzipien vor. In der Umsetzung bedeutete dies, dass die westeuropäische Erdgasindustrie zur Bildung eines Konsortiums eingeladen wurde. Letzteres wurde von Ruhrgas angeführt und verhandelte mit Phillips Petroleum, einem amerikanischen Ölkonzern, der im Auftrag der norwegischen Regierung die Bohrungen in der Nordsee durchführte. Damit stellten die Norweger das Erdgasgeschäft auf eine entpolitisierte Basis. Russland übernahm dieses Modell erst nach der Wende und auch dann nur mit Vorbehalten, wie die Gaskrisen der letzten Jahre zeigten.[38]
Epilog
Lange bevor Ost und West durch Pipelines verbunden waren, führten die künftigen Handelspartner zähe Verhandlungen. Der erste Liefervertrag zwischen Österreich und der UdSSR markierte einen Wendepunkt in der europäischen Energiepolitik. Erdgas bildete die Brücke für energiepolitische Kooperationen und trieb eine beispiellose Form der infrastrukturellen Integration Europas voran. Betrachtet man diese Geschichte durch die analytische Linse lokaler und regionaler Erdgasversorger, so zeigt sich neben der blockübergreifenden Integration die für Europa typische regionale Dimension von Integrationsprozessen. Die energie- und europahistorische Einbettung des ersten „Russengas-Vertrages“ ist auch wichtig, um die Interpretation der Handelsbeziehung als einseitige Abhängigkeit, die von den Sowjets bewusst herbeigeführt worden wäre, zu relativieren, wie auch Per Högselius argumentiert.[39] Voraussetzung für das Zustandekommen der Handelsverträge war neben der Abhängigkeit der Sowjets von europäischen Großröhren und Kompressoren vor allem der Appetit der europäischen Industrie auf billige und saubere fossile Treibstoffe. Auch die Bereitschaft regionaler Gasversorger, die Industriegebiete mittels regionaler Netze zu versorgen, darf nicht außer Acht gelassen werden. Historiker:innen sind also dazu aufgerufen, das Konzept der Erdgasabhängigkeit jenseits seiner geopolitischen Dimension als eine Form alltagspraktisch ausgeprägter Abhängigkeit von fossilen Energieträgern zu begreifen. Deren Überwindung wird eine zentrale Aufgabe der kommenden Jahre sein, sofern ein Wille zur Eindämmung der Klimakrise gegeben ist.
[1] Bei dem Terminus „Russengas“ handelt es sich um eine in der Erdgaswirtschaft verwendete Herkunftsbezeichnung, die aber auch medial eingesetzt wird, siehe: B. G., Sehr wenig Bewegung bei Alternativen zum Russengas, Kurier, 13.11.2023, URL: <https://kurier.at/politik/inland/sehr-wenig-bewegung-bei-alternativen-zum-russengas/402668188> (10.1.2024); Essay zur Quelle: Vertrag zwischen Sojusnefteexport und Österreichischer Mineralölverwaltung AG über die Lieferung von Erdgas (Wien, 1. Juni 1968); [Abschrift], in: Themenportal Europäische Geschichte, 2024, URL: <https://www.europa.clio-online.de/quelle/id/q63-79127>.
[2] Vgl. Esther Stephan, Gas als Waffe – Wie sich Deutschland von Putin abhängig machte, Mitteldeutscher Rundfunk, 16.12.2023, URL: <https://www.mdr.de/nachrichten/podcast/mdr-investigativ/podcast-gas-als-waffe-audiotranskript-100.html> (10.1.2024); Herbert Lechner, An der Gasleine. Zur Geschichte der Abhängigkeit Österreichs von russischem Erdgas, Bericht der Österreichischen Energieagentur, Wien 2023, URL: <https://www.energyagency.at/aktuelles/an-der-gasleine> (10.1.2024).
[3] Henning Türk, Energiesicherheit nach der Ölkrise. Die Internationale Energieagentur 1974–1985, Göttingen 2023.
[4] Thane Gustafson, The Bridge. Natural Gas in a Redivided Europe, Cambridge/MA 2020, S. 108–109.
[5] Gustafson, The Bridge; Per Högselius, Red Gas. Russia and the Origins of European Energy Dependence, New York 2012.
[6] Thomas J. Misa / Johan Schot, Introduction. Inventing Europe: Technology and the Hidden Integration of Europe, in: History and Technology 21 (2005) 1, S. 1–19.
[7] Gustafson, The Bridge, S. 16.
[8] Per Högselius / Anna Åberg / Arne Kaijser, Natural Gas in Cold War Europe. The Making of a Critical Infrastructure, in: Per Högselius et al. (Hrsg.), The Making of Europe’s Critical Infrastructure: Common Connections and Shared Vulnerabilities, London 2013, S. 27–61, hier S. 29.
[9] Robert Groß, Verknappung, Krise und Import. Zur Geschichte der Erdgasabhängigkeit in Ostösterreich, in: Wolfgang Meixner / Gerhard Siegl (Hrsg.), Regionale Wirtschafts- und Sozialgeschichte im Zeitalter Globaler Krisen, Wien 2023, S. 243–271, hier S. 253.
[10] Högselius, Red Gas, S. 14.
[11] Gustafson, The Bridge, S. 12–14.
[12] Robert Groß / Odinn Melsted / Nicolas Chachereau, Creating the Conditions for Western European Petroculture. The Marshall Plan, the Politics of the OEEC, and the Transition from Coal to Oil, in: Journal of Energy History / Revue d’histoire de l’énergie [Online] 10 (2023), S. 1–22, hier S. 11, URL: <energyhistory.eu/en/node/345> (7.11.2023).
[13] Högselius et al., Natural Gas, S. 32.
[14] Gustafson, The Bridge, S. 15
[15] Ebd., S. 15–16.
[16] Högselius, Red Gas, S. 20.
[17] Gustafson, The Bridge, S. 50.
[18] Högselius, Red Gas, S. 24.
[19] Ebd., S. 50–58.
[20] Susanne Schattenberg, Pipeline Construction as “Soft Power” in Foreign Policy. Why the Soviet Union Started to Sell Gas to West Germany, 1966–1970, in: Journal of Modern European History 20 (2022) 4, S. 554–573, hier S. 559.
[21] Groß, Verknappung, S. 247–252.
[22] Ebd., S. 264–267.
[23] Högselius, Red Gas, S. 48–58.
[24] Ebd., S. 58–63.
[25] Groß, Verknappung, S. 247–252.
[26] Högselius, Red Gas, S. 97–102.
[27] Ebd., S. 171.
[28] Groß, Verknappung, S. 264.
[29] Högselius, Red Gas, S. 159.
[30] Sophie Lange, Die Genfer Konvention der UN ECE von 1979 über weiträumige Luftverschmutzung, in: Themenportal Europäische Geschichte, 2022, URL: <www.europa.clio-online.de/essay/id/fdae-98763> (7.11.2023).
[31] Gustafson, The Bridge, S. 101.
[32] Dietmar Bleidick, Die Ruhrgas 1926 bis 2013. Aufstieg und Ende eines Marktführers, Berlin 2018, S. 398.
[33] Rainer Gerzabek, Mit Gas gegen schlechte Luft in Innsbruck, in: Kurier, 22.4.1986, S. 16.
[34] Türk, Energiesicherheit.
[35] Gustafson, The Bridge, S. 95–99.
[36] Groß, Verknappung, S. 264.
[37] Mark H. Hayes, The Transmed and Maghreb Projects. Gas to Europe from North Africa, in: David G. Victor / Amy M. Jaffe / Mark H. Hayes (Hrsg.), Natural Gas and Geopolitics. From 1970 to 2040, Cambridge 2006, S. 49–91, hier S. 54–61.
[38] Gustafson, The Bridge, S. 122–131.
[39] Högselius, Red Gas, S. 1–2.
Literaturhinweise:
Thane Gustafson, The Bridge. Natural Gas in a Redivided Europe, Cambridge/MA 2020.
Per Högselius, Red Gas. Russia and the Origins of European Energy Dependence, New York 2012.
Dunja Krempin, Die sibirische Wucht. Der Aufstieg der Sowjetunion zur globalen Gasmacht, 1964–1982, Köln 2020.
Jeronim Perovic, Rohstoffmacht Russland. Eine globale Energiegeschichte, Wien/Köln 2022.
Susanne Schattenberg, Pipeline Construction as “Soft Power” in Foreign Policy. Why the Soviet Union Started to Sell Gas to West Germany, 1966–1970, in: The Journal of Modern European History, 20 (2022) 4, S. 554–573.