Englische Handwerker im Paris des Jahres 1867
Von Christophe Charle
Im Jahre 1862 schickte die Regierung Napoleons III. eine Delegation französischer Arbeiter zur Londoner Weltausstellung. Die Arbeiter sollten neue Erkenntnisse gewinnen, wie sich das wirtschaftliche und soziale Leben in England, der führenden Industriemacht der Zeit, in den letzten Jahren verändert habe.Fünf Jahre später, als die Weltausstellung 1867 in Paris stattfand, fanden in umgekehrter Richtung ähnliche Reisen statt und so bewilligte das englische House of Lords eine Summe von 500 Pfund, was mit einer zusätzlichen Anleihe von 1039 Pfund, 19 Schilling und 6 Pence ein Gesamtbudget von 38000 Goldfranc ergab. Die beträchtliche Summe sollte es 80 englischen Arbeitern ermöglichen, für drei Wochen nach Paris zu reisen. Eine Delegation aus Birmingham, die durch einen am Fortschritt der Industrie interessierten Gentleman geleitet wurde, schloss sich der Unternehmung an. Darüber hinaus unterstützten die Handelskammern von Bradford und Nottingham ebenso wie die Magistrate von Sheffield und Coventry die Initiative. Nach England zurückgekehrt, erstatteten die Reisenden ausführlich Bericht. In der nachfolgend abgedruckten Quelle sind zwei Ausschnitte aus diesen Berichten wiedergegeben: der erste verfasst von dem Londoner Kunsttischler Charles Alfred Hooper, der zweite von William Bramhall, einem Werkzeugmacher aus Sheffield.
Die Berichte sind eine außergewöhnliche Quelle: Sie vermitteln ein fast naives Bild vom Paris der Arbeiter und tun dies unabhängig vom bürgerlichen Blick auf die Arbeiterklassen. Sie sind überdies auch nur wenig von den politisch stark vorstrukturierten Positionen militanter Gewerkschaftsanhänger geprägt. Durch publizierte Texte waren uns bisher nur diese beiden Sichtweisen überliefert. Unsere vorliegenden Textausschnitte geben demgegenüber ein eher schwankendes Bild: Einerseits zeigen sie die Verwunderung der Arbeiter, die ihr Land zum ersten Mal verlassen und in eine kurz zuvor durch Napoleon III. und seinen Präfekten Haussmann erneuerte Hauptstadt eintauchen. Andererseits sehen die englischen Arbeiter mit Erstaunen das Leben der einfachen kleinen Leute auf den Pariser Straßen – ein Leben, das dem ihren zwar hinsichtlich der verrichteten Arbeit überaus ähnlich ist, gleichzeitig sich aber doch sehr durch seine Sitten und Gebräuche sowie nicht zuletzt durch seine andere Lebensart unterscheidet. Zumal sie mit ihrem französischen Gegenüber nicht direkt sprechen konnten, waren die englischen Arbeiter gleichsam ein wenig in der Situation von verlorenen Ethnologen in einem unbekannten Land, die auch dessen Sprache nicht verstehen.
Zweifellos existiert keine französische Sichtweise auf England und umgekehrt keine englische auf Frankreich ohne den Rückgriff auf jene Stereotypen und Vorurteile, die in beiden Ländern jeweils seit Jahrhunderten über den Nachbarn entwickelt wurden. Auch unsere Zeitzeugen entgehen dem nicht. Dies zeigen etwa die Bemerkungen über die angebliche „Fröhlichkeit“ oder „Sorglosigkeit“ eines als „gesellig“ geltenden Volkes, das vor allem auf Straßen und öffentlichen Plätzen lebt. Spuren eher negativer Vorurteile werden vor allem beim zweiten Berichterstatter William Bramhall sichtbar. Stolz, ein „true born Englishman“ zu sein, schaut er durchaus herablassend auf dieses „Volk von Aufständischen“ herunter, das sich dennoch einem Staat unterwerfe, in dem, im Unterschied zu England, keine Meinungsfreiheit herrsche.
Trotz dieser vergleichsweise abgestandenen Allgemeinplätze weisen die Widersprüche zwischen den beiden Berichten auf das Bild hin, das sich die Arbeiter, nicht zuletzt durch den Vergleich, von ihrer eigenen, der englischen Gesellschaft machen. Der erste Text von Charles Alfred Hooper ergeht sich bezeichnenderweise in Bemerkungen zur Sauberkeit: „clean, white, neat“ sind von ihm wiederholt benutzte Adjektive. Dieses neue Bild vom Glanz und strahlendem Weiß der Häuser, von Eleganz und Anstand der wohl gekleideten Einwohner sind zumindestens erstaunlich, vor allem vor dem Hintergrund älterer, insbesondere englischer Reiseberichte aus der Zeit vor 1850, die ebenfalls Schilderungen von Paris enthielten. Damals dominierten noch Dreck, Verschmutzung, schlechte Luft und unübersehbar arme, oft zerlumpte Bevölkerung die Beschreibungen der Stadt.Nun aber hatte sich dieses Bild gewandelt: Vorrangig handelte es sich dabei um die sichtbaren Folgen der Haussmannschen Stadtsanierung, die besonders die zentral gelegenen Viertel von ihren Elendsbehausungen sowie ihrer dort ansässigen armen Bevölkerung befreit hatte. Hooper weist überdies auch auf die neuen Boulevards hin, welche die Arbeiterdelegation bei ihrer Ankunft am Gare du Nord zu Gesicht bekam und hebt hier besonders die „Grands Boulevards“ hervor, die dem zeitgenössischen Sprachgebrauch folgend nur kurz „The Boulevard“ genannt werden. Auf diesen Boulevards konzentrierten sich Vergnügungen verschiedener Art, Cafés und große Restaurants – eine Mischung, die sie zur Attraktion für alle zur Ausstellung angereisten Ausländer werden lassen sollte.
Aber der glänzende Eindruck bezieht sich ebenso auf den äußeren Anblick der Pariser Handwerker und Arbeiter, also nicht etwa nur auf das bürgerliche Paris der ausländischen Touristen. Ein Textausschnitt beschäftigt sich so auch mit der Rue Saint Antoine, einer Straße im wenig bürgerlichen Osten von Paris, die kaum von der großen Stadterneuerung betroffen war. Hier wecken zwei Gruppen das Erstaunen unseres Zeugen Charles Alfred Hooper: Zunächst die Straßenhändler, die, trotz ihrer bescheidenen Kleidung, („their clothes though poor and patched are not in rags“) sich sehr um Anstand und Sauberkeit besorgt zeigen. Ohne die Exaktheit des Berichts überschätzen zu wollen, lässt sich dieser vorteilhafte Eindruck allerdings wahrscheinlich durch die Verbindung günstiger Umstände erklären: Zum einen durch die schöne Jahreszeit, zum anderen durch den Andrang von Einheimischen und Fremden während der Weltausstellung, wodurch der Umsatz an frischen Produkten sicher auf dem Höhepunkt war. Dies kam wiederum dem Kleinhandel der untersten Volksschichten zu Gute.
Aber Hooper bemerkt noch mehr: Die andere Gruppe, die ihn durch ihr Auftreten beeindruckt, ist die der Soldaten: „How smart they look, how important“. Hier wird letztlich implizit ein klassisches Merkmal der englischen Gesellschaft deutlich, in der das Militär, im Unterschied zu Frankreich, durch eine gesellschaftliche Randstellung gekennzeichnet war. Englische Soldaten wurden schlecht behandelt und von den Höherrangigen oft verachtet. Gleichzeitig spiegelt sich in der Bewunderung des soldatischen Auftritts in Frankreich auch die Realität des Zweiten Kaiserreichs wider. Von Großmachtsträumen eingenommen und gestützt auf den französischen Chauvinismus, der zum Drama von 1870 führen sollte, scheute der Kaiser der Franzosen keine Mühe, seiner Armee ein vornehmes Aussehen zu geben. Und so wurden die französischen Uniformen zu dieser Zeit als die schönsten Europas angesehen und sogar von den amerikanischen Truppen kopiert, die sich im Sezessionskrieg gegenüberstanden.
Unser Zeuge geht in seinem Bericht jedoch noch weiter und wagt eine Analyse der sozialen Verhältnisse, die von üblichen bekannten Überlegungen merklich abweicht. Der spannungsfreiere Eindruck, den die sozialen Beziehungen und das städtische Leben in Paris insgesamt machen, ist demnach nicht nur auf den anderen „Nationalcharakter“ sondern auch auf unterschiedliche Arbeitsverhältnisse zurückzuführen: In Frankreich waren sowohl Heimarbeiter („workmen who occupy floors and do their work at home“) als auch die Arbeiter in den in der Regel kleinen Werkstätten weniger dem hierarchischen Druck der Vorarbeiter und Arbeitgeber unterworfen. Ihre Tage waren zwar insgesamt länger, der Arbeitsrhythmus aber weniger straff, was zu einer entspannteren Atmosphäre zwischen Arbeitern und ihren Vorgesetzten beitragen sollte. Vorarbeiter waren generell entgegenkommender und tolerierten ein gewisses „laissez aller“, da sie sich daran erinnerten, dass sie selbst einmal an der Stelle der Arbeiter gestanden hatten und sich auch äußerlich nicht von diesen unterschieden („the foreman appeared in the same garb as the men“). Im Gegensatz dazu identifizierten sich englische Vorarbeiter unserem Zeugen zufolge bereits mit ihren Chefs, was auch an der Kleidung zu sehen war („who wear fine cloth, and decorate their persons with jewellery“). Zahlreiche andere Berichterstatter bestätigten diese außergewöhnlichen Beziehungen im Milieu der kleinen Handwerker. Paris sollte eine Stadt der Kleinbetriebe bleiben, in denen die Vorgesetzten meist ehemalige Vorarbeiter oder ehemalige Facharbeiter waren. Der starke Wechsel in der Belegschaft, vor allem, wie hier, zu Zeiten guter Geschäfte, zwang die Meister und Gesellen, auf die Empfindlichkeiten der qualifizierten Arbeiter Rücksicht zu nehmen. Im Falle von Spannungen wären diese andernfalls nur allzu schnell bereit gewesen, die Werkstätten zu verlassen, was wiederum die dringende Bearbeitung von Bestellungen verhindert hätte. In London hingegen, wo die Konzentration weiter vorangeschritten und das Handwerk im Rückzug begriffen war, waren die Verhältnisse in den Betrieben durch einen größeren Druck auf die Arbeiterschaft geprägt. Gleichzeitig machte sich in England die durch den Ausbau neuer Transport- und Handelsnetze gesteigerte Konkurrenz der großen Industriestädte bemerkbar – ein Umstand, den der Verfasser des Berichts, der selbst aus der britischen Hauptstadt stammte, aus eigener Erfahrung nur allzu gut kannte.
Was die Lebensbedingungen anbetrifft, sind sich die Berichterstatter völlig uneins, und so findet man in den Berichten dieselben widersprüchlichen Schilderungen über das Schicksal der Pariser Arbeiterschaft wie in der Historiografie. Für Charles Alfred Hooper ist das Leben eines Arbeiters in Paris leichter als in London, weil die Stadt kleiner und die Übervölkerung aufgrund der kleineren Familien weniger groß ist. Für den zweiten Berichterstatter William Bramhall aus Sheffield, der Paris eher mit seiner mittleren Industriestadt vergleicht, ist das dortige Arbeiterleben dagegen in einem heruntergekommenen Zustand. Er nimmt hier ein klassisches Thema zeitgenössischer französischer Streitschriften wieder auf, wonach die Haussmannsche Stadtsanierung die Mieten in die Höhe getrieben, einen Teil des preiswerten Wohnraums vernichtet und die Arbeiter zum Teil gezwungen habe, sich weit vom Zentrum entfernt niederzulassen; und zwar nicht nur in den äußeren Stadtbezirken, die erst kurz zuvor, im Jahr 1860, angegliedert worden waren, sondern sogar „beyond the fortifications“, das heißt dort, wo das, was man anfing „Vorort“ (banlieue) zu nennen, beginnen sollte.Bramhalls Beschreibung, der zufolge Arbeiter „six miles“, also fast zehn Kilometer, zurücklegen mussten, um von ihrer Wohnung zu ihrer Arbeit zu gelangen, scheint jedoch ein wenig übertrieben. Historische Studien zeigen, dass die Arbeiter nach wie vor ein großes Interesse daran hatten, in der Nähe ihrer Werkstätten und Fabriken zu wohnen, und zwar aus Zeitgründen, denn wenn man bei der erwähnten Entfernung zwei Stunden Fußweg einrechnet, kommt man bereits auf einen Arbeitstag von 14 Stunden. Einige Historiker haben ferner in Hinblick auf die nur teilweise nach industriellen Maßstäben ablaufende Arbeit in den Werkstätten gezeigt, dass es den dort beschäftigten Arbeiterinnen und Arbeitern vielfach gelang, Unterkünfte in den Hinterhäusern der neu renovierten Verkehrsachsen zu finden, wodurch sie die vorteilhafte Nähe zu ihren Auftraggebern beibehalten konnten. Die Analyse unseres Werkzeugfabrikanten aus Sheffield betrifft allerdings wahrscheinlich eher den metallverarbeitenden Bereich, den er im Übrigen auch gut kannte. Der beginnende Einsatz von Maschinen, die Nutzung von Dampf als Energiequelle sowie das Anwachsen großer Fabriken führten in diesem Bereich dazu, dass sich viele Betriebe vom alten Pariser Stadtkern entfernten und häufig in den Vororten ansiedelten. Dort konnten sie Freiflächen nutzen und gleichzeitig auch dem Stadtzoll entgehen, der kurz zuvor auf die neuen Stadtgrenzen ausgeweitet worden war.
Stellt man beide Schilderungen einander gegenüber, findet man sowohl in den Werturteilen als auch in den konkreten Details zwei grundlegend unterschiedliche Interpretationsmuster. Der zweite Berichterstatter, Bramhall, sieht in Frankreich eine dekadente Nation, deren Blüte sich dem Ende zuneigt und die einer Regierung unterworfen ist, die nun als Erbe des napoleonischen Größenwahns für ihre Träume von Ruhm Steuergelder („heavily taxed things“) verschwenden muss und die ihre besten Bürger dem Militärdienst opfert. Diese Analyse drückt ohne Zweifel nicht nur eine liberale englische „Gallophobie“ aus, sondern nimmt zugleich jene Kritiken auf, die zur gleichen Zeit auch französische Liberale und einige Republikaner äußerten. Für sie lastete in England der Staat wesentlich weniger auf der Gesellschaft als in Frankreich, auch wenn das Second Empire bereits zögerlich erste Reformen angestoßen hatte, die schließlich 1870 zur Einführung eines parlamentarischen Systems führen sollten. Die Interpretation des Londoner Handwerkers Hooper, der dem Kunstgewerbe angehört, ist im Gegenzug durch sein ästhetisches Empfinden beeinflusst. Paris erscheint ihm als eine schöne Stadt und die in diesem ästhetischen Umfeld erzogenen Einwohner voller Lebensfreude. Dies steht in einem starken Gegensatz zu der immer verraucht erscheinenden und in Nebel gehüllten englischen Metropole, in der der Kampf ums Überleben sowie die feststehenden sozialen Hierarchien auch das gesellschaftliche Gefüge unter permanenter Spannung hielten. Selbst die französische Kaiserin, der Hooper – laut Bericht – einmal zufällig begegnet, scheint ihm zugänglich und doch respektiert zugleich zu sein, ohne dass Staatsmacht oder Ordnungskräfte intervenieren müssten. Die städtische Ordnung und das zivilisierte Verhalten der Einwohner bezaubern ihn wie ein Märchenland. Der Historiker kann mit gutem Recht über dieses kindliche Bild eines Regimes und seiner Bevölkerung lächeln, von der er weiß, dass sie einige Jahre später in Krieg, Unterdrückung, Revolte, Bürgerkrieg und Gewalt versinken wird. Aber muss er deshalb der pessimistischen Analyse des Werkzeugfabrikanten aus Sheffield folgen? Dieser nimmt die sozialen und politischen Spannungen sehr wohl wahr, die vorübergehend durch das festlich gestimmte Pariser Straßenleben während der Ausstellung verschleiert werden. Im Gegenzug übersieht er dafür den Aufstieg der Opposition, die neue Freiheiten erzwingt. Hierzu gehört das im folgenden Jahr verabschiedete Pressegesetz ebenso wie die – bereits angesprochene – langfristige Hinwendung zu einem parlamentarischen System.
Über den Bericht hinaus machen uns die beiden gegensätzlichen, ja sogar teils widersprüchlichen Analysen der beiden Arbeiter, die hier gleichsam als vergleichende Amateurhistoriker agieren, auf die Fallen aufmerksam, die sich bei der historischen Arbeit zu Europa immer wieder aufs Neue auftun.Die Frage bleibt, wie es möglich ist, sich von den vielfältigen Vorurteilsschichten zu befreien und die automatischen Antithesen zwischen Nachbarn hinter sich zu lassen, die nach wie vor unser nationales Unbewusstes prägen.