„Ueberall herrscht Ordnung…“ – Die Gründung der psychiatrischen Heilanstalt Sonnenstein als Spiegel neuer Wissensordnungen im frühen 19. Jahrhundert

Die Eröffnung der Heil- und Pflegeanstalt Sonnenstein 1811 im sächsischen Pirna steht für einen nachhaltigen Wandel im Umgang mit psychischen Erkrankungen im 19. Jahrhundert. Die gezielte Herauslösung der Irrenden aus den regulären Sammelanstalten sowie deren separierte Unterbringung in Instituten mit medizinisch-therapeutischer Motivation, war in diesen Zeiten ein Novum. Um herauszuarbeiten, was Heilung in diesem Zusammenhang bedeutete, muss zunächst ein Blick auf die strukturellen Umstände dieser Form der Heilanstalt geworfen werden. Ein Zeitungsartikel des in Pirna ansässigen Amtsarztes Dr. Gottlieb Schmalz über das erste Jahr dieser Einrichtung gibt einen Einblick in die zeitgenössische Rezeption dieser vermeintlichen progressiven Musteranstalt der Irrenfürsorge. Die kritische Betrachtung dieses Berichts verdeutlicht dabei, dass es weniger um die Gewinnung neuer medizinischer Erkenntnissen ging, sondern vordergründig um die Schaffung neuer Ordnungsstrukturen, die letztlich in einer Weiterentwicklung der psychiatrischen Praxis mündeten.

“Ueberall herrscht Ordnung…” – Die Gründung der psychiatrischen Heilanstalt Sonnenstein als Spiegel neuer Wissensordnungen im frühen 19. Jahrhundert[1]

Von Elisa Kewitsch

Im 19. Jahrhundert vollzog sich ein Paradigmenwechsel im Umgang mit psychischen Erkrankungen. Mit der Herauslösung der sogenannten Irren aus den Sammelanstalten der Internierung, den Zucht-, Armen- und Waisenhäusern, veränderte sich in weiten Teilen Europas die Wahrnehmung und Handhabung des Wahnsinns. Angetrieben von den Idealen der Aufklärung und katalysiert durch die Französische Revolution kam es ausgehend von England und Frankreich zu einer Neubewertung der Irrenfürsorge, in deren Zuge sich die frühe Anstaltspsychiatrie etablierte.[2] Die Heil- und Verpflegungsanstalt Sonnenstein im sächsischen Pirna sollte – 1811 eröffnet – eine jener Musteranstalten werden, deren progressive Ausrichtung und das damit verbundene Heilungsversprechen in ganz Europa bis hin nach Russland Beachtung fand.[3]

Doch worin bestand die neue Heilmethode? Mit Hilfe welcher Mittel versprach man, den bisher als unbezwingbar geltenden Wahnsinn zu behandeln, zu beherrschen und gar zu heilen? Von „geläuterten Grundsätzen“[4] berichtet der vorliegende Zeitungsartikel aus der Leipziger Literaturzeitung[5] aus dem Jahr 1812. Verfasst von dem in Pirna ansässigen Amtsarzt Dr. Gottlieb Schmalz (1777–1861), informiert der für die intellektuelle Leserschaft geschriebene Beitrag über das erste Jahr psychiatrischer Praxis der Heilanstalt Sonnenstein und entwirft ein geradezu romantisches Bild von Ordnung und fügsamen Patient:innen auf ihrem Weg zurück in die Gesellschaft. Schmalz praktizierte zwar nicht als psychischer Arzt, er zählte allerdings zu den renommiertesten deutschen Augenärzten und erhielt als interessierter Fachkollege eine Führung durch die neue Heilanstalt, die den neugierigen Blicken von Laien verschlossen bleiben sollte.[6] Anhand dieses ersten Zeitungsartikels, der über die Heilanstalt Sonnenstein erschien, soll die zeitgenössische Rezeption der sich im Wandel befindlichen Irrenfürsorge beleuchtet werden. Dass die Genese der Psychiatrie nicht nur über das Sammeln von Wissen, sondern in hohem Maße auch über die Ordnung von Wissen vonstatten ging und welche Rolle dabei das Nicht-Wissen spielte, wird in diesem Essay diskutiert.

Bei dem „Unternehmen die Narren zu heilen“[7] war Ordnung weit mehr als nur die halbe Miete. Das macht bereits der Gründungsprozess der Heilanstalt Sonnenstein deutlich. Schmalz beschrieb das bisherige Straf- und Versorgungssystem Sachsens als eine „Amalgamation von Heil- und Versorgungs-, und Zucht- und Armen- und Kranken-Hause“. Damit verwies er auf die als ungünstig und überholt erachteten Sammelinstitutionen des sogenannten gemeinsamen Hauses, einer Form der Verwahrung und Versorgung von Sträflingen, Armen, Kranken und Waisen, basierend auf der Idee, dass Menschen, die Schuld an der Gesellschaft auf sich geladen hatten, diese u.a. durch die Pflege von Bedürftigen wieder abarbeiten sollten. Eine der größten Einrichtungen dieser Art im Königreich Sachsen war das Zucht-, Armen- und Waisenhaus Torgau, das um 1811 über 700 Personen fasste. Besonders die zuständige Kommission für Straf- und Versorgungsanstalten beklagte, „daß bey einer so zahlreichen und so vermischten Menge von groben Bösewichten und leichteren Verbrechern, sodann von Wahnsinnigen und Kranken, und von gesunden aber körperlich unbehülflichen und elenden Armen die Disciplin zu erhalten, eine fast unerreichbare Forderung ist".[8] Die genannten Häuser waren also nicht mehr nur Orte der Absonderung von Devianz, an sie wurde auch die Anforderung gestellt, eine gewisse Ordnung, eine Disziplin der hier lebenden Menschen zu ermöglichen.

Mit der Schließung der größten Sammelanstalt Sachsens zu Gunsten eines von Napoleon angeregten Festungsbaus in Vorbereitung seines Russlandfeldzuges sah man sich gezwungen, alle Insass:innen der Einrichtung in Torgau rasch umzuquartieren. Die bereits ausgearbeiteten Pläne zur Reform der Straf- und Versorgungsanstalten fanden damit den „günstigsten Zeitpunct“ zur Umsetzung. Binnen weniger Monate zogen die Straftäter:innen in das zum neuen Zuchthaus erkorene Schloss Lichtenburg bei Prettin, während für die Waisenkinder das eigenständige Waisenhaus Langendorf eröffnet wurde. Das bereits bestehende Zuchthaus Zwickau diente fortan nur noch zur Aufnahme besonders schwerer Straftäter:innen. Das Zucht-, Armen- und Waisenhaus Waldheim wurde in diesem Zuge zu einer Straf- und Versorgungsanstalt und sollte die als unheilbar geltenden Kranken sowie die wegen leichterer Verbrechen verurteilten Straftäter:innen aufnehmen. Sonnenstein galt als Kernstück der Neustrukturierung des sächsischen Anstaltsgefüges und diente vorrangig zur Behandlung der als heilbar erachteten psychisch Kranken. 1811 wurden 202 Personen aus den Anstalten Torgau und Waldheim nach Sonnenstein verlegt.[9]

Was in Sachsen nahezu schlagartig vonstatten ging, entspricht einer Entwicklung, die in Frankreich, England, Italien und auch einigen deutschen Ländern im Verlauf des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts zu beobachten war. Die Betreuung und Verwahrung der Irren wurde sukzessive aus den Strafanstalten herausgelöst, und auch der Umgang mit diesen Menschen änderte sich dementsprechend. Allen voran ist hier der Leiter der beiden größten Pariser Anstalten Philippe Pinel mit seiner legendären Befreiung der Irren von den Ketten aus dem Jahr 1793 zu nennen, deren Signalwirkung auf die europäische Psychiatrie kaum zu überschätzen ist. Auch wenn der Mythos Pinel relativiert werden muss, weil das Ereignis bei weitem nicht so flächendeckend war, wie es den Anschein erweckte (tatsächlich wurden zunächst nur 12 Menschen von den Ketten befreit) und mit Sicherheit nicht nur von ihm allein getragen wurde, so markiert es dennoch eine wichtige Veränderung. Die Irren wurden als behandelbar angesehen, als Menschen, die vielmehr eines Arztes als eines Gefängnisaufsehers bedurften. Zugleich etablierte sich in dieser Zeit die Psychiatrie zunehmend als medizinisches Fachgebiet, das eigene Institutionen in Form der frühen Anstaltspsychiatrien, der sogenannten Heil- und Pflegeanstalten, einforderte. Unter englischem und französischem Einfluss begann das deutsche Anstaltswesen sich an dem Prinzip der moralischen Behandlung zu orientieren, das Therapie mit der Erziehung der Patient:innen gleichsetzte und davon ausging, dass vermeintliche moralische Schwächen die Heilung blockierten.[10]

Innerhalb kürzester Zeit entstand auch in Sachsen ein funktional differenziertes Gefüge der Einsperrung und Versorgung, das nicht mehr nur das Bedürfnis nach Absonderung von Devianz, Armut und Kriminalität von der Gesellschaft erfüllte, sondern dem Wunsch nach einem zunehmend differenzierteren Umgang mit diesen Menschen nachkam. Der Unterscheidung zwischen Armen, Kranken, Kriminellen, Arbeitsfähigen und Nicht-Arbeitsfähigen wurde in dieser Form institutionell Rechnung getragen, wobei den Zeitgenoss:innen die Wirkmächtigkeit dieser Strukturen besonders durch die lückenlose Versorgung, Verwahrung und Verwaltung gesellschaftlicher Randgruppen gewährleistet schien. Je feingliedriger das Institutionsgeflecht, desto effizienter sollte sich die Arbeit mit Personen, deren Verhalten als korrekturbedürftig galt, gestalten. Diese neue Ordnung zeigt, dass sich die zugehörigen Wissensbestände im Wandel befanden. Wahnsinn wie auch Kriminalität und Armut rückten ins Zentrum humanwissenschaftlicher Betrachtungen und wurden zum Objekt einer Arbeit an den betreffenden Personen. Diese von der englischen Moral-Sense-Philosophie angeregte philanthropische Reformbewegung strebte durch die Segregation der einzelnen Gruppen und die allgemeine Verbesserung der Bedingungen ihrer Einsperrung eine nutzenmaximierende Hebung der Moral und des sittlichen Zustandes des gesamten Landes an. Dem Phänomen der Strafe wurde somit das Motiv von Vergeltung und Sühne entzogen, stattdessen wurde es mit Ideen von Verbesserung, Heilung und Erziehung aufgeladen.[11]

Den Anstalten Sonnenstein und Waldheim kam dabei eine besondere Rolle zu, da ihr institutionelles Ineinandergreifen die Versorgung psychisch Kranker wiederum umfänglich abdecken sollte. Dies betonte auch Schmalz, als er schrieb: „Durch Beachtung dieses einzigen Zwecks [der Heilung psychischer Erkrankungen] ist Einheit in das ganze Institut [Sonnenstein] gekommen. Alles was hier ist, und thätig ist, alle moralischen und physischen Kräfte, die hier vereint worden sind, wirken blos zur Heilung der Geisteskranken, während in Waldheim nach ganz andern Gesetzen nur die Versorgung der Unheilbaren, ihre Unschädlichkeit für die menschliche Gesellschaft, und ein diesen Unglücklichen noch übriger Lebensgenuss beabsichtigt wird. – Mit jener Heil- und dieser Versorgungs-Anstalt […] ist der Organismus dessen geschlossen, was die Polizey für die Irrenden zu realisieren vermag.“

Das beschriebene institutionelle Ineinandergreifen, wie in einem Organismus, verbildlicht nicht nur das reibungslose Funktionieren beider Anstalten als Systeme der Fürsorge, es impliziert auch, dass der Trennung dieser Institutionen etwas Natürliches innewohnte. Die Reform des Anstaltssystems wirkte nicht mehr wie ein künstlicher Eingriff, sondern wie das Ergebnis natürlicher Fortentwicklung staatlicher Institutionen.[12] Beide Anstalten, obwohl getrennt und nach unterschiedlichen Regeln geführt, bildeten in dieser Metapher eine Einheit, die zudem die ganzheitliche und umfassende Fürsorge Sachsens auf dem Gebiet der Psychiatrie verdeutlichen sollte. Erst mit der Etablierung dieser Ordnung konnte eine institutionell verankerte und damit breit angelegte Heilung der als heilbar erachteten Personen überhaupt ermöglicht werden.[13]

Die Idee, gesellschaftliche Randgruppen voneinander zu trennen und gewissermaßen zu sortieren, machte wiederum eine Auswahl der Patient:innen unumgänglich. „Es werden nur heilbare Irrende [in Sonnenstein] aufgenommen. […] Die Unheilbaren […] werden entweder sogleich anfänglich, oder nach vergeblichem Bemühen um ihre Wiederherstellung in das grosse Versorgungshaus der menschlichen Hinfälligkeit nach Waldheim abgegeben.“ Bereits hier wird deutlich, dass dieses Kategoriesystem nur im Rückgriff auf bestimmte Erfahrungswerte aufgebaut werden konnte, die zum Teil auf das Wissen von Torgau zurückgingen, grundlegend aber aus Frankreich stammen dürften, wo die Psychiater Pinel und sein Schüler Jean Étienne Esquirol die Trennung von als heilbar und als unheilbar eingestuften Patient:innen ebenso handhabten.[14] Da der Sonnensteiner Anstaltsleiter Dr. Ernst Pienitz seine Ausbildung auch von Pinel in Paris erhielt, ist von einem französisch-deutschen Wissenstransfer auszugehen. Anderenfalls wäre es nicht möglich gewesen, bestimmte Patient:innen bereits vor den Therapieversuchen Sonnensteins als potentiell heilbar oder unheilbar zu deklarieren. Anhand der sächsischen Patienten- und Verwaltungsakten lässt sich ablesen, dass besonders die Dauer der Erkrankung für die Prognose von Heilbarkeit herangezogen wurde. Je kürzer die psychische Auffälligkeit bestand, desto eher ging man davon aus, die betreffende Person wiederherstellen zu können. In vielen Fällen dürfte allerdings bereits die Kategorisierung selbst für die Validität der Prognose gesorgt haben, denn bereits die Zuschreibung von Heilbarkeit bzw. Nicht-Heilbarkeit war wirkmächtig.[15] Für den Einzelnen bedeutete sie entweder Heilungsversuche in Sonnenstein oder die Verwahrung in Waldheim und konnte damit den weiteren Verlauf eines Lebens maßgeblich beeinflussen. Die Ordnung, in die sich die Patient:innen einfügen mussten, war somit bereits Teil einer Arbeit, die Ärzte, Pfleger:innen und Mitglieder des sächsischen Verwaltungsapparates an ihnen leisteten, sodass sie im Idealfall wieder zu „gesunden und nützlichen Staatsbürgern gedeihen“[16] konnten.

Der Gedanke ordnungsstiftender Strukturen blieb allerdings nicht bei der anstaltsübergreifenden Segregation von Menschen stehen. Denn auch in Sonnenstein selbst wurde „eine zweckmässige Vertheilung der Irrenden überall eingerichtet. Die Rasenden sind ganz entfernt. Wahnsinnige mit fixen Ideen sind geordnet, und so in Zimmer zusammengestellt, dass die Mittheilung und Austauschung dieser krankhaften Einbildungen eher zur schnellen Aufklärung, als zu grösserer Verwicklung derselben beytragen könne.“ Der hier eingesetzten Ordnung und Trennung der Patient:innen wurde also bereits eine therapeutische Wirkung zugeschrieben. Auch Gottlob Adolf Ernst von Nostitz und Jänckendorf, Leiter der Kommission für Straf- und Versorgungsanstalten, betonte die Bedeutung der „Classeneintheilung für den Heilzweck“[17] und verwies darüber hinaus auf die so entstandene Möglichkeit einer gezielten Beobachtung der separierten Patient:innen: „Kein sorgfältiger Irrenarzt wird ihre Wichtigkeit verkennen und sich für den Heilzweck des Vortheils berauben, der durch eine richtige auf Beobachtung der Einzelnen zu begründende Vertheilung der Seelengestörten in den verschiedenen Wohnzimmern und Schlafbehältnissen zu erzielen und zuweilen wirksamer ist als was Arznei und sonstiger Kurversuch vermag, daher diese Vertheilung recht eigentlich dem Heilplane angehört und dessen Erfolg zum großen Theile bedingt.“[18] Mit dieser Praxis wurde Sonnenstein gleichermaßen als Heilungsstätte wie auch als Forschungseinrichtung konzipiert, denn die aus den Beobachtungen gewonnenen Erkenntnisse flossen unter anderem in Aufsätze des Anstaltsleiters ein, die in Zeitschriften für die sich herausbildenden psychiatrischen Wissenschaften zirkulierten.[19] Zu dieser Wissenszirkulation trug in den nächsten Jahren auch die Nutzung der Anstalt als Ort der Aus- und Weiterbildung junger Ärzte bei. Einige dieser als Hilfsärzte und Hospitanten angestellten Berufseinsteiger sollten später ihrerseits wiederum bedeutende Ärzte auf dem Gebiet der Psychiatrie werden.[20] Dass die wissenschaftliche Vernetzung nicht nur die deutschen Länder umfasste, zeigt sich beispielsweise daran, dass die russische Kaiserinmutter Maria Feodorowna 1828 von Nostitz „die genauesten und jede Einzelheit umfassenden Mittheilungen über die Heil- und Verpflegungsanstalt zu Sonnenstein“[21] erbat mit dem Ziel, das psychiatrische System Russlands zu reformieren. Bereits im Folgejahr konnte eine dreibändige Beschreibung der Anstalt[22] vorgelegt werden, die in ihrer Ausführlichkeit einzigartig ist und tatsächlich 1832 für die Errichtung einer Heilanstalt aller Gemütskranken (Bol’nica vsech skorbjaščich) in St. Petersburg nach Sonnensteiner Vorbild herangezogen wurde.[23]

Die in Sonnenstein praktizierte Ordnung erstreckte sich allerdings nicht nur auf die Gruppierung der Patient:innen, sondern drang auch bis in die kleinsten und scheinbar marginalsten Lebensbereiche. Sie umfasste den gesamten Tagesrhythmus, die Mahlzeiten, die Freizeitbeschäftigungen und die Schlafenszeiten. „Ueberall herrscht Ordnung“, bewunderte der Pirnaer Amtsarzt Dr. Schmalz, und bezog sich dabei gleichermaßen auf die Aufteilung der Patient:innen, die hygienischen Zustände im gesamten Haus und den rigiden Tagesablauf. Mit dem Läuten der Anstaltsglocke begann der Tag um 5 Uhr, gefolgt von der Morgenandacht und der Musterung. Um 6:30 Uhr gab es Frühstück, und von 7 bis 11 Uhr kamen unterschiedliche, nicht näher spezifizierte Therapie- und Heilmittel zur Anwendung. Nach dem Mittagessen und einer anschließenden Ruhepause gingen die Patient:innen von 14 bis 18 Uhr verschiedenen Arbeiten nach. Der Tag endete mit nach Patientenklassen getrennten Freizeitbeschäftigungen nach dem Abendessen, gefolgt vom Abendgebet und dem Schlafengehen um 21 Uhr.[24]

Die Patient:innen fanden sich also in einem umfassenden System disziplinierender Ordnung wieder, in dem die Idee der Herstellung einer vernünftigen Norm durch beständige Korrektur in Form von Überwachung, Ermahnung und Bestrafung verwirklicht werden sollte. Michel Foucault bezeichnete diese Praxis als „panoptisches System“ und arbeitete die These heraus, dass die grundlegende Behandlungslogik weniger auf medizinische Wissensbestände zurückgriff, sondern sich in Wirklichkeit auf „das Spiel von Befehl und Gehorsam“[25] reduzieren ließ, in dem die Patient:innen, ähnlich Kindern, zu Wohlverhalten erzogen wurden. Die in der Anstalt installierte Disziplin durchzog die Institution als komplexes System der Macht, das sich ausgehend vom Arzt an dessen Spitze auf verschiedenste Streuungen, Relais und Geflechte verteilte.[26] Die Macht der Psychiatrie materialisierte sich beispielsweise in Form der ärztlichen Visite und der Verteilung der Patient:innen auf unterschiedliche Zimmer. Sie wurde getragen von Wärter:innen und Pfleger:innen, die dem Arzt stets Bericht über Wohl- und Fehlverhalten erstatteten, worin zugleich das wichtigste Element dieses Systems bestand. Die Patient:innen befanden sich in einem Zustand der permanenten potentiellen Überwachung. Dabei war es unerheblich, ob diese Überwachung tatsächlich kontinuierlich geleistet wurde, denn allein die Möglichkeit des Gesehen-Werdens, das Wissen der Patient:innen, unter Beobachtung zu stehen, erzeugte ein Umfeld stetiger Kontrolle, das wiederum die Disziplin des Hauses stabilisierte. Als Ort disziplinierender Ordnung wirkte die Anstalt an sich bereits therapeutisch[27], indem sie dem Wahnsinn, gedacht als entfesselter Kraft des Individuums[28], Einhalt gebot. Pinel beschrieb die Therapie des Wahnsinns als „Kunst den Wahnsinnigen, so zu sagen, zu unterjochen“[29], womit der Moment der Unterordnung unter die Disziplin auch den Beginn der Heilung markierte.[30]

Folgt man den Ausführungen von Dr. Schmalz, zeigt sich zudem, dass die Aufrechterhaltung der Machtasymmetrie zwischen Arzt und Patient:in innerhalb der Anstalt in hohem Maße auf einem Spiel von Wissen und Nicht-Wissen fußte. Er beschrieb die Grundlage der psychischen Heilmethode folgendermaßen: „Zuvörderst wird es den Kranken so viel als möglich verheimlicht, dass sie in einem Narrenhause seyen.“ Vielmehr sollte das Augenmerk der Patient:innen auf die geordneten Verhältnisse der Anstalt gelenkt werden, die das Grundelement der Behandlung und Heilung in Sonnenstein darstellten. „Man muss es selbst beobachtet haben“, schrieb der Autor begeistert „wie bald sie sich in die allgemeine Ordnung fügen, ja sich den Zweck ihres Daseyns selbst verheimlichen, um die Wirkung dieser allgemeinen Behandlung lebhaft zu erkennen“. Nicht nur, dass sich die Patient:innen willfährig der in Sonnenstein herrschenden Disziplin unterordneten, in der Wahrnehmung des Autors schien die Ordnung selbst den Platz ihres Wahnsinns einzunehmen. Foucault zufolge ist der Moment, in dem der Wahnsinn als Geisteskrankheit klassifiziert wird, auch der Moment der Manifestation eines Macht-Wissens: Die Rollen Arzt/Patient:in sind damit vergeben und statten ersteren mit Macht aus, während zweitem diese entzogen wird. Dem nunmehr Kranken wird das Wissen über seine Krankheit abgesprochen.[31] Ganz im Gegensatz zu seinem Arzt, der sich durch seine Position an der Spitze der Anstalt zu einer beinahe allwissenden Figur erhob. Ihm gegenüber stand der Patient, der, wie Schmalz weiter ausführte, „aus seinem Ich herausgetreten ist, und deshalb, ohne es zu ahnen, wie ein Kind behandelt werden muss“.

Die Irren wurden somit als „kriminelle Zöglinge“[32] betrachtet, die durch Erziehung wiederhergestellt werden konnten, sodass sie den für sie als richtig erachteten Platz in der Gesellschaft wiederfänden. Es ging also um die Formung nützlicher Staatsbürger:innen.[33] Das zentrale Mittel dieser Korrektion war, genauso wie bei Straftäter:innen, die Arbeit. Durch sie gelang es, die Segregation der Patient:innen noch weiter auszudifferenzieren, wobei sich die Arbeitsfelder auch nach sozialer Klasse und Geschlecht unterschieden. In der Quelle heißt es dazu: „Den Gebildetern ist in einem anständigen geräumigen Versammlungs-Saale eine Bibliothek angewiesen. Hier sieht man sie übersetzen, copiren, lesen, Auszüge fertigen, rechnen, zeichnen. Ein dort stehendes Fortepiano und mehrere andere musikalische Instrumente beschäftigen die Musikverständigen. – Da ein solches Haus ein kleiner Staat im Staate ist, so finden alle Professionisten hier ihre Arbeit. Zu einem gewissen Grade hergestellt, treibt jeder sein Handwerk unter zweckmässiger Aufsicht. Der Landmann baut den Garten und das Feld. Der weibliche Antheil sorgt für den Anzug, die Wäsche u.s.w.“

Die Heilanstalt Sonnenstein hierbei als Staat im Staate zu bezeichnen, ist keine bescheidene Zuschreibung. Sie impliziert, dass das hier erschaffene Ordnungssystem die gesellschaftlichen Verhältnisse außerhalb der Anstalt abbildete und darüber hinaus wegen der hier herrschenden Disziplin einen kleinen idealtypischen Staat darstellte. Jedem wurde hier sein Platz zugeteilt, ein Platz, der sich in weiten Teilen an gender- und schichtspezifischen Kriterien orientierte. Die Arbeit als Therapiemittel förderte einerseits die Trennung der Patient:innen und zeigte ihnen andererseits ein vernünftiges, standesgemäßes Verhalten auf. Sonnenstein wurde damit zu einer Art Trainingslager für das Leben außerhalb der Anstalt und ließ zusammen mit dem geforderten unbedingten Gehorsam „Ort und Krankheit wie durch ein Gaukelspiel vergessen“. Hier begegnet dem Leser und der Leserin erneut das Nicht-Wissen der Patient:innen: Die Anstalt mit ihren Regeln, ihrem Zeitplan, ihren Hierarchien wurde zu einer so wirkmächtigen Struktur, dass sie, als System einmal in Gang gesetzt, scheinbar wie von selbst arbeitete und ihre Wirkung entfaltete. Ihre Ordnung wurde für die Patient:innen zur Realität in Form der Disziplin und Sonnenstein wiederum zu einem „Agent[en] der Realität“[34], dem sich der Wahnsinn im Laufe der Therapie beugen sollte. Mit der Einhaltung der institutionsinternen Regeln konnten Patient:innen ihre Rekonvaleszenz zeigen und Ärzte diese wiederum ablesen. Das Kriterium der Heilung, die Wiedereingliederung in die gesellschaftliche Ordnung, war zugleich das Instrument, mit dem geheilt wurde.[35]

Es zeigt sich also, dass die Geschichte der Psychiatrie in ihren Anfängen weit weniger eine Geschichte der medizinischen Praxis (im Sinne einer Verfeinerung der Diagnostik oder einer neuartigen Medikalisierung) als vielmehr eine Geschichte der Ausdifferenzierung und Transformation von Institutionen der Einsperrung war. Die Wissensbestände über psychische Erkrankungen und deren Heilung konstituierten sich dabei über die neu etablierten Ordnungsstrukturen der verschiedenen Anstalten selbst, sodass die Anordnung der Menschen und die Generierung humanwissenschaftlicher Erkenntnisse in einem direkten Verhältnis zueinander standen. Die Ordnung der Anstalt schuf damit eine Machtasymmetrie zwischen Arzt und Patient:innen, deren Wahnsinn zum Objekt wissenschaftlicher und therapeutischer Arbeit wurde, während man ihnen selbst jegliche Kenntnis über ihre Situation absprach. Hinter den veränderten Ordnungspraktiken standen sich ebenso im Wandel befindende Wissenspraktiken, die sich aus einem bürgerlich geprägten Idealbild gesellschaftlicher Ordnung speisten.



[1] Essay zur Quelle: Artikel in der Leipziger Literaturzeitung von Heinrich Gottlieb Schmalz, Einige Worte über die neue Heilanstalt für Irrende zu Sonnenstein (10.10.1812) [Transkript], in: Themenportal Europäische Geschichte, 2022, URL: <https://www.europa.clio-online.de/quelle/id/q63-77069>

[2] Vgl. Heinz Schott / Rainer Tölle, Geschichte der Psychiatrie. Krankheitslehren, Irrwege, Behandlungsformen, München 2006, S. 236f.

[3] Die wechselvolle Geschichte des Umgangs mit psychischen Erkrankungen zeigt sich am Standort Sonnenstein besonders eindrücklich, wurde die einstige Reformanstalt doch ab 1940 mit einer Gaskammer und zwei Verbrennungsöfen ausgestattet und diente bis 1941 als eine von sechs nationalsozialistischen Tötungsanstalten der sogenannten Aktion T4. Im Rahmen dieses industriell betriebenen Massenmordes wurden innerhalb von 15 Monaten über 13.000 psychisch kranke und körperlich behinderte Männer, Frauen und Kinder ermordet; vgl. Boris Böhm, Die Geschichte der Heil- und Pflegeanstalt Sonnenstein 1811–1939, Pirna 2011, S. 150–153.

[4] Heinrich Gottlieb Schmalz, Einige Worte über die neue Heilanstalt für Irrende zu Sonnenstein, in: Leipziger Literaturzeitung, 3.10.1812, Sp. 1953–1957, und 10.10.1812, Sp. 2004–2005, hier Sp. 1954; im Folgenden stammen alle Quellenzitate, soweit nicht anders vermerkt, aus den hier abgedruckten Quellenausschnitten.

[5] Die Leipziger Literaturzeitung erschien von 1800 bis 1834 und beförderte mit fachübergreifenden Rezensionen nationaler und internationaler Neuerscheinungen den intellektuellen Austausch im mittel- aber auch gesamtdeutschen Raum. Mitunter diente das Blatt auch der Publikation eigenständiger Artikel, die aktuelle Aspekte der Zeitgeschichte diskutierten; vgl. Peter Ufer, Leipziger Presse 1789 bis 1815. Eine Studie zu Entwicklungstendenzen und Kommunikationsbedingungen des Zeitungs- und Zeitschriftenwesens zwischen Französischer Revolution und den Befreiungskriegen, Münster 2000, S. 108f.

[6] Seine Verbindungen zu Sonnenstein waren trotz der fehlenden Professionalisierung auf dem Gebiet der psychiatrischen Arbeit so eng, dass er während der Napoleonischen Kriege im Jahr 1813 in Abwesenheit des Direktors der Anstalt die Aufsicht über Sonnenstein innehatte; vgl.: Heinrich Aster, Die Kriegsereignisse zwischen Peterswalde, Pirna, Königstein und Priesten im August 1813, Dresden 1845, S. 82f.

[7] Friedrich Nasse, Ueber die Benennung und vorläufige Eintheilung des psychischen Krankseyns, in: ders. u.a. (Hrsg.): Zeitschrift für psychische Ärzte 1818, Heft 1, S. 17–48, hier S. 17.

[8] Sächsisches Hauptstaatsarchiv Dresden (SHStAD), 10116 Loc. 5930, Bl. 6.

[9] Vgl. Falk Bretschneider, Gefangene Gesellschaft. Eine Geschichte der Einsperrung in Sachsen im 18. und 19. Jahrhundert (Konflikte und Kultur – Historische Perspektiven, Bd. 15), Konstanz 2008, S. 279; Böhm, Die Geschichte der Heil- und Verpflegungsanstalt Sonnenstein, S. 14.

[10] Vgl. Schott / Tölle, Geschichte der Psychiatrie, S. 59–62, 237, 244f., 259f.

[11] Vgl. Falk Bretschneider, Die Gefängnisklinik. Wissenschaft und Strafvollzug im 19. Jahrhundert. Das Beispiel Sachsen, in: Désirée Schauz / Sabine Freitag (Hrsg.), Kriminalpolitik zwischen Wissenschaft und Praxis im 19. und frühen 20. Jahrhundert (Wissenschaft, Politik und Gesellschaft, Bd. 2), Stuttgart 2007, S. 199–224, hier S. 202f.

[12] Vgl. Albrecht Koschorke u.a., Der fiktive Staat. Konstruktionen des politischen Körpers in der Geschichte Europas, Frankfurt am Main 2007, S. 357.

[13] Auch Christian August Fürchtegott Hayner, dem Direktor der Anstalt Waldheim, gelang es zuvor, Patient:innen als geheilt zu entlassen. Dies waren allerdings singuläre Fälle, während Sonnenstein die Heilung nun in Serie ermöglichen sollte.

[14] Vgl. Schott / Tölle, Geschichte der Psychiatrie, S. 237.

[15] Vgl. Geoffrey C. Bowker / Susan Leigh Star, Sorting Things out. Classification and its Consequences, Cambridge, Massachusetts 2000, S. 9.

[16] Christian August Fürchtegott Hayner, Von der Verpflegungsanstalt Waldheim zu Sachsen, in: Zeitschrift für psychische Ärzte, 1822, Heft 2, S. 89–138, hier S. 90f.

[17] Gottlob Adolf Ernst von Nostitz und Jänckendorf, Beschreibung der königlich sächsischen Heil- und Verpflegungsanstalt Sonnenstein, Bd. 1, Teil 1, Dresden 1829, S. 199.

[18] Ebd.

[19] Vgl. Ernst Gottlob Pienitz, Resultate der Heil- und Verpflegungsanstalt auf dem Sonnenstein, in dem Verlauf dreier Jahre, vom 1sten Januar 1814 bis Ende des Jahres 1816, in: Zeitschrift für psychische Ärzte 1818, Heft 1, S. 117–127; ders., Jahresbericht über die Irrenanstalt auf dem Sonnenstein nebst einigen Krankengeschichten, in: Zeitschrift für psychische Ärzte 1818, Heft 3, S. 386–393.

[20] Zu nennen sind beispielsweise Dr. Peter Willers Jessen aus Dänemark (1793–1875), später Arzt an der königlich-dänischen Irrenanstalt zu Schleswig, Dr. Carl Friedrich Flemming (1799–1880), dirigierender Arzt in der großherzoglich-mecklenburgische Irrenanstalt Schwein-Sachsenberg, Dr. Christian Friedrich Roller (1802–1878), zukünftiger Direktor der Musteranstalt Illenau, Dr. Moritz Gustav Martini (1794–1875), später Direktor der königlich preußischen Irrenanstalt zu Leubus in Schlesien und Dr. Ernst Albert Zeller (1804–1877), der Direktor der Irrenanstalt Winnenthal in Württemberg wurde; vgl. Böhm, Die Geschichte der Heil- und Pflegeanstalt Sonnenstein, S. 18f., 26f.; 31f.

[21] Nostitz, Beschreibung der königlich sächsischen Heil- und Verpflegungsanstalt Sonnenstein, Bd. 1, Teil 1, S. V, Dresden 1829.

[22] Vgl. ders., Beschreibung der königlich sächsischen Heil- und Verpflegungsanstalt Sonnenstein, 3 Bde., Dresden 1829.

[23] Vgl. Erhard Hexelschneider, Kulturelle Begegnungen zwischen Sachsen und Russland 1790–1849 (Geschichte und Politik in Sachsen, Bd. 13), Köln 2000, S. 432f.

[24] Vgl. Böhm, Die Geschichte der Heil- und Pflegeanstalt Sonnenstein, S. 34f.

[25] Michel Foucault, Die Macht der Psychiatrie. Vorlesung am Collège de France 1973-1974, Frankfurt am Main 2005, S. 220.

[26] Vgl. ebd., S. 17.

[27] Vgl. ebd., S. 153.

[28] Vgl. ebd., S. 22.

[29] Philippe Pinel, Philosophisch-medicinische Abhandlung über Geistesverwirrung oder Manie: Mit Figuren, welche die Formen des Schedels, und Abbildungen der Wahnsinnigen darstellen, Wien 1801, 2. Abschnitt, § VI „Vortheile der Kunst die Wahnsinnigen zu leiten, um dadurch die Wirksamkeit der Arzneymittel zu unterstützen“, S. 62.

[30] Vgl. Foucault, Die Macht der Psychiatrie, S. 23–27.

[31] Vgl. ebd., S. 503.

[32] Vgl. Schott / Tölle, Geschichte der Psychiatrie, S. 55.

[33] Vgl. Bretschneider, Die Gefängnisklinik, S. 202.

[34] Vgl. Foucault, Die Macht der Psychiatrie, S. 221.

[35] Vgl. ebd., S. 241.



Literaturhinweise:

  • Boris Böhm, Die Geschichte der Heil- und Pflegeanstalt Sonnenstein 1811-1939, Pirna 2011.
  • Falk Bretschneider, Gefangene Gesellschaft. Eine Geschichte der Einsperrung in Sachsen im 18. und 19. Jahrhundert (Konflikte und Kultur – Historische Perspektiven; Bd. 15), Konstanz 2008.
  • Michel Foucault: Die Macht der Psychiatrie. Vorlesung am Collège de France 1973–1974, Frankfurt am Main 2005.
  • Erhard Hexelschneider, Kulturelle Begegnungen zwischen Sachsen und Russland 1790–1849 (Geschichte und Politik in Sachsen, Bd. 13), Köln 2000.
  • Heinz Schott / Rainer Tölle, Geschichte der Psychiatrie. Krankheitslehren, Irrwege, Behandlungsformen, München 2006.

Artikel in der Leipziger Literaturzeitung von Heinrich Gottlieb Schmalz, Einige Worte über die neue Heilanstalt für Irrende zu Sonnenstein (10.10.1812) [Transkript][1]

Leipziger Literaturzeitung

Am 3. October 1812

245. Intelligenzblatt

[Sp. 1953]

Einige Worte über die neue Heilanstalt für Irrende zu Sonnenstein bey Pirna.

Der Hr. Prof. Reil sagt im Jahr 1811 in seinen Beyträgen zur Organisation der Versorgungs-Anstalten für unheilbare Irrende, dass er im Jahre 1803 in seinem Rhapsodien die Heilmethode der Irrenden auf ein Princip zurückgeführt, und nach Maasgabe desselben Vorschläge zu einer Heilanstalt gethan habe, welche wohl allgemein gebilligt, aber nirgends ausgeführt, wohl in den Buchläden, aber nicht in den Irrenhäusern in Umlauf gekommen wären. Diesem grossen und humanen Arzte, der mit ausgezeichnetem Enthusiasmus für diese wichtige Angelegenheit der menschlichen Gesellschaft dachte und schrieb, muss die Freude wohlthun, zu erfahren, dass jene Vorschläge in dem nehmlichen Jahre, als er diese Aeusserung that, in Sachsen bereits ergriffen, und mit vorzüglichem Glücke realisirt worden waren. Als öffentlicher Arzt der Gegend, in welchem vor kurzem ein solches Institut gleichsam aus veralteten Ruinen in neuem harmonischen Leben hervorging, glaubte ich dahero nicht länger anstehen zu dürfen, das öffentlich und zeitiger zu sagen, was die hohe Behörde desselben vielleicht bis zu seiner völligen Vollendung der Bekanntmachung aufsparen wird.

[…]

Die Einrichtung der Stadt Torgau zu einer Festung veranlasste die Verlegung des dortigen Irrenhauses. Die schon längst gefasste Idee, diese Amalgamation von Heil- und Versorgungs-, und Zucht- und Armen- und Kranken-Hause aufzuheben, und eine [Sp. 1954] Heilanstalt der Geisteskranken nach geläuterten Grundsätzen zu bilden, fand durch diese Veränderung zur Ausführung den günstigsten Zeitpunct. Unter dem Schutze eines edeln Fürsten ergriffen sie, als Vorsteher einer einsichtsvollen und menschenfreundlichen Commission vorzüglich Se. Excellenz der Herr Minister von Nostitz, und der Herr Geheime Finanz-Rath von Wagner mit einer Wärme und einer Thätigkeit, die eben so viel Bewunderung als Dankbarkeit hervorruft.

[…]

Mit dem Local wurde zugleich die ganze innre Einrichtung, die Art der Verwaltung des Hauses, und die Behandlung der Unglücklichen gänzlich umgeändert, und zu einem zweckmäßigen Ganzen geschaffen.

[…]

Der einzige Zweck des Instituts ist die Heilung der Geisteskranken. Es werden nur heilbare Irrende aufgenommen. Die Physici des Landes sind dahero durch das höchste Rescript von 1810 zu einer sehr genauen Beschreibung der Gemüths-Krankheiten bey denjenigen Attestaten angewiesen worden, die sie solchen Leidenden auszustellen haben, damit die hohe Commission sogleich erkenne, ob diese für die Heilanstalt sich qualifizieren mochten, oder nicht. […] [Sp. 1955]

Die Unheilbaren, theils diese, die ursprünglich als solche erkannt werden, theils jene, bey denen die Bemühungen der Wissenschaft und der Kunst in der Anstalt scheiterten, werden entweder sogleich anfänglich, oder nach vergeblichem Bemühen um ihre Wiederherstellung in das grosse Versorgungshaus der menschlichen Hinfälligkeit nach Waldheim abgegeben, welchem ausser der Sorge für manche andere hülflose Gebrechen, besonders die Aufbewahrung der unheilbaren Irrenden überlassen ist.

Durch Beachtung dieses einzigen Zwecks ist Einheit in das ganze Institut gekommen. Alles was hier ist, und thätig ist, alle moralischen und physischen Kräfte, die hier vereint worden sind, wirken blos zur Heilung der Geisteskranken, während in Waldheim nach ganz andern Gesetzen nur die Versorgung der Unheilbaren, ihre Unschädlichkeit für die menschliche Gesellschaft, und ein diesen Unglücklichen noch übriger Lebensgenuss beabsichtigt wird. – Mit jener Heil- und dieser Versorgungs-Anstalt, sagt der vortreffliche Reil, ist der Organismus dessen geschlossen, was die Polizey für die Irrenden zu realisieren vermag.

Wenn aber Heilung der Geisteskranken für dieses Institut Hauptzweck ist, so war es auch nothwendig, dass demjenigen, von welchem die Erfüllung desselben zunächst abhängt, dem Arzte, die Hauptleitung des Innern überlassen wurde. Diese Einrichtung ist von der Einsichtsvollen Commission unbedingt getroffen worden. Der Arzt kann hier seine Kräfte ungehindert im freyen Spiele wirken lassen, und findet nirgends, wie es in den öffentlichen Irrenhäusern gewöhnlich der Fall ist, in seinem Handeln kleinlichen Widerspruch. – Der Hr. Dr. Pieniz, in Wien und Paris für diesen Zweig der Heilkunde gebildet, mit aller Kunde seines Faches, mit Liebe für die Kunst, mit Muth und Geduld, mit einem sanften Charakter und unermüdeter Thätigkeit ausgerüstet, stehet diesem Posten mit Würde vor. Ihm ist seine Wohnung auf dem Schlosse angewiesen, damit er das Haus nie verlasse, und ihm seine Zeit allein widme, zur Entschädigung aber einer Privatpraxis von der weisen und billigen Commission mit grossen Erleichterungen die Erlaubnis gegeben worden, für Irrende, die sich an ihn wenden, eine Privat-Anstalt in seiner Wohnung zu bilden, welcher der Hr. Dr. Pieniz dem allgemeinen Plan unterlegt hat, nur mit dem Unterschiede, dass seine Kranken nicht Glieder des Ganzen , sondern seiner Familie insbesondere ausmachen.

[…] [Sp. 1956]

Dieser Zweck nun wird durch psychische und physische Mittel bewirkt. Beyde Methoden, jene ehedem unbeachtet, oder wenigstens nur mit groben Zügen bearbeitet, diese, sonst mit Unrecht allein in Gebrauch gezogen, bieten hier einander schwesterlich die Hand, zur Auflösung des schwerern Problems der Heilung der Wahnsinnigen.

Was die psychische Methode betrifft, so besteht sie ohngefähr in folgendem Verfahren.

Zuvörderst wird es den Kranken so viel als möglich verheimlicht, dass sie in einem Narrenhause seyen. Dieser barbarische Name ist daher durch die Benennung, Heilanstalt, hier gänzlich ausgerottet. – Alle Rasenden sind entfernt und in die entlegendsten Zimmer gebracht. Nirgend hört man Gerassel von Ketten, von zweckwidrigem Toben und Lärmen, Ueberall herrscht Ordnung und Aufsicht ohne Geräusch. Wer Unordnung verbreitet, wird, ohne Aufsehen zu erregen, bey Seite gebracht. Diese Ruhe und Ordnung, streng und unausbleiblich unterhalten, wird den Kranken gleichsam heilig, und prägt ihnen das Gefühl der Nothwendigkeit unauslöslich ein, so dass sie den Ort ihres Aufenthalts nicht als Gefängniss, sondern als Stätte der Heilung betrachten, wo, wie überhaupt in Krankheiten, Folgsamkeit für die Vorschriften des Arztes die erste Bedingung der Cur sey. Man muss es selbst beobachtet haben, wie bald sie sich in die allgemeine Ordnung fügen, ja sich den Zweck ihres Daseyns selbst verheimlichen, um die Wirkung dieser allgemeinen Behandlung lebhaft zu erkennen. So war mir die Antwort eines jungen Landmann’s überraschend, den ich vor einigen Tagen bey einem gelegentlichen Besuche sprach. Ich hatte ihn vor 3 Monaten auf seinem Dorfe in der höchsten Wuth und an Ketten geschlossen gefunden, und binnen 14 Tagen durch ein Attestat seine Aufnahme in die hiesige Heilanstalt bewirkt. – Jetzt traf ich ihn fast gänzlich hergestellt, und eben von dem ersten Spaziergange auf ein nahe gelegenes Dorf pünktlich zu verlangten Stunde heimkehrend. Ich ermahnte ihn, diese Pünktlichkeit immer zu beobachten, damit ihm die gegebene Freyheit nicht wieder genommen würde. „Das werde ich gewiss nicht thun, antwortete er, es geht mir wohl, warum sollte ich hier nicht mit Treue dienen?“ Den erzwungenen Aufenthalt nannte er also Dienst, der Nothwendigkeit legte er die Willkühr unter! Ein sicherer Beweis, wie der errungene unbedingte Gehorsam hier zur Besonnenheit zurückführt, und das allgemein festgesetzte und geordnete Leben Ort und Krankheit wie durch ein Gaukelspiel, vergessen lässt.

Diese Ordnung erstreckt sich aber auch bey jedem Individuum auf die kleinsten Umstände, auf das Schlafen, Aufstehen, auf die Tischzeit, die Arzney, das Arbeiten und auf Vergnügungen. Die Kranken gewöhnen sich unglaublich schnell an die Regelmässigkeit, die sie überall um sich herum erblicken, und man sieht die rasendsten Menschen, die kurz [Sp. 1957] vorher in Ketten lagen, hier bald, bloss mit einem Zwangshemde angethan, herumgehen.

Indem nun ein jeder Kranker nach seinen individuellen geistigen Anlagen, nach seinem Temperamente und nach seiner körperlichen Constitution, nach seinem Alter, Stande und seiner bisherigen Lebensart verschieden behandelt wird, wird er, nachdem er zu diesem Geist der Ordnung geführt worden ist, so bald als möglich zu verschiedenen, jenen Umständen entsprechenden Beschäftigungen und Arbeiten angehalten. Den Gebildetern ist in einem anständigen geräumigen Versammlungs-Saale eine Bibliothek angewiesen. Hier sieht man sie übersetzen, copiren, lesen, Auszüge fertigen, rechnen, zeichnen. Ein dort stehendes Fortepiano und mehrere andere musikalische Instrumente beschäftigen die Musikverständigen. – Da ein solches Haus ein kleiner Staat im Staate ist, so finden alle Professionisten hier ihre Arbeit. Zu einem gewissen Grade hergestellt, treibt jeder sein Handwerk unter zweckmässiger Aufsicht. Der Landmann baut den Garten und das Feld. Der weibliche Antheil sorgt für den Anzug, die Wäsche u.s.w.

[…]

(Fortsetzung folgt)

Leipziger Literaturzeitung

Am 10. October 1812

251. Intelligenzblatt

[Sp. 2004]

Einige Worte über die neue Heilanstalt für Irrende zu Sonnenstein bey Pirna.

(Beschluss)

Zugleich ist eine zweckmässige Vertheilung der Irrenden überall eingerichtet. Die Rasenden sind ganz entfernt. Wahnsinnige mit fixen Ideen sind geordnet, und so in Zimmer zusammengestellt, dass die Mittheilung und Austauschung dieser krankhaften Einbildungen eher zur schnellen Aufklärung, als zu grösserer Verwicklung derselben beytragen könne. – Die Reconvalescenten bewohnen besondere Theile der Anstalt.

[…]

Da aber der Geisteskranke gleichsam aus seinem Ich herausgetreten ist, und desshalb, ohne es zu ahnen, wie ein Kind behandelt werden muss, so wird denen die sich durch Liebe zur Ordnung und durch Folgsamkeit auszeichnen, als Belohnung der Genuss manches Vergnügens zu Theil. Ein besonderer Saal mit einem Billard und kleinern Vorrichtungen zum Spielen ist den Gebildetern bestimmt. Andern ist im nahen Garten ein Kegelschub u. dergl. eingeräumt. Diejenigen, die schon weiter gediehen sind, bekommen die Erlaubnis, in die Stadt und auf benachbarte Orte auf bestimmte Zeit spazieren zu gehen, und es ist zu vermuthen, dass dieser Theil der psychischen Heilkunst der Wahnsinnigen, welcher die Zerstreuung und das Vergnügen betrifft, noch weit mehr, als es bisher geschehen konnte, erweitert werden wird.

Die Freuden der Tafel geniessen ausserdem die Reconvalescenten, nur nach Stand und Kost in verschiedene Säle gewiesen, gemeinschaftlich. Es ist in der That ein herzerhebender Anblick, mehr als 60 Irrende, alle auf dem Wege der Heilung begriffen, auf den Schall einer Glocke in einem Saale sich vereinigen, die bestimmten Plätze einnehmen, und nach vollbrachter Arbeit, freudigen Muthes, ohne Geräusch, aber in froher Unterhaltung, ihr Mittags- oder Abend-Brod einnehmen zu sehen.

Dies sind ohngefähr die allgemeinen psychischen Mittel die hier angewendet werden, und welche jedermann bey einem einfachen Umgange, wahrnehmen kann. Die speciellere psychische Einwirkung auf die irrenden Seelen ist dem Genie des leitenden Arztes und des Psychologen überlassen, und eignet sich nicht für eine kurze Beschreibung dieser Anstalt, wie die meinige seyn soll.

[Sp. 2005] Die physischen Mittel begreifen nicht nur das ganze Heer des pharmaceutischen Waarenlagers, welches aus der vorzüglich guten Apotheke zu Pirna bezogen wird, sondern auch eine schöne Bade-Anstalt mit Vorrichtung der Douchen, von welcher bereits hier die schönsten Erfahrungen gemacht worden sind, die Schaukel von Cox, die so eben eingerichtet wird, und zu grossen Hoffnungen berechtigt, ein Sturzbad, wo der Kranke unversehens von einer gewissen Höhe ins Wasser gestürzt wird u.s.w., und es gibt gewiss kein mit Grund empfohlenes Mittel, zu dessen Realisierung die zu allen Verbesserungen bereitwillige Commission nicht alsobald die Hände bieten sollte.

Alles dieses ist noch im Werden. Das indessen was schon ist, berechtigt zu den schönsten Aussichten, und zu der Erhebung dieser Anstalt zu einer der vorzüglichsten in Deutschland.

[…]

Pirna, den 18. July 1812.

Dr. Heinrich Gottlieb Schmalz.

K. S. Amts- u. Land-Physicus zu Pirna.


[1] Heinrich Gottlieb Schmalz, Einige Worte über die neue Heilanstalt für Irrende zu Sonnenstein, in: Leipziger Literaturzeitung, 3.10.1812, Sp. 1953–1957, und 10.10.1812, Sp. 2004–2005, online unter: URL: <https://www.digitale-sammlungen.de/de/view/bsb10502162?page=342,343> und URL: <https://www.digitale-sammlungen.de/de/view/bsb10502162?page=368,369> [Stand: 26.5.2021]; Quelle zum Essay: Elisa Kewitsch, “Ueberall herrscht Ordnung…” – Die Gründung der psychiatrischen Heilanstalt Sonnenstein als Spiegel neuer Wissensordnungen im frühen 19. Jahrhundert, in: Themenportal Europäische Geschichte, 2022, URL: <https://www.europa.clio-online.de/essay/id/fdae-130489>.


Für das Themenportal verfasst von

Elisa Kewitsch

( 2023 )
Zitation
Elisa Kewitsch, „Ueberall herrscht Ordnung…“ – Die Gründung der psychiatrischen Heilanstalt Sonnenstein als Spiegel neuer Wissensordnungen im frühen 19. Jahrhundert, in: Themenportal Europäische Geschichte, 2023, <www.europa.clio-online.de/essay/id/fdae-130489>.
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