Spurenlesen. Die Dokumentationspraxis paläontologischer Funde in Gotha um 1900[1]
Von Anna-Maria Hünnes
Auf einem weißen Karton klebt ein Schwarz-Weiß-Foto, umrahmt von handschriftlichen Notizen.[2] Die Ränder des Kartons sind verfärbt: Spuren von Händen, durch die er vor langer Zeit gewandert ist. Das Format des Blattes entspricht nicht ganz der heute verwendeten DIN-Norm, und man fühlt eine feine Staubschicht, wie man sie bei historischen Dokumenten findet, die schon länger nicht mehr mit Interesse durchblättert wurden. Auf dem Foto sind zwei große rechteckige Steinplatten zu sehen, die an der Außenfassade eines Gebäudes lehnen. Sie sind übersäht mit Linien und Formen. Ein Junge in dunklem Anzug und Schirmmütze steht neben den Platten und blickt in die Kamera. Rund um das Foto sind Zahlen und Abkürzungen mit Bleistift, schwarzer und roter Tinte auf vorgezeichneten Linien notiert. Die Anordnung von Bild und Schrift auf dem Karton erfolgte offensichtlich nach einiger Überlegung.
Der hier beschriebene Karton ist nur ein Beispiel aus einer umfangreichen Bildkartei, die zwischen 1895 und 1908 entstand. Doch was zeigt die Aufnahme, und was bedeuten die Notizen auf dem Karton? In welchem Zusammenhang entstand die Kartei, und warum wurde sie aufbewahrt? Eine Analyse des Fundstückes als Informationsspeicher paläontologischer Sammeltätigkeit und Forschung um 1900 zeigt nicht nur die wissenschaftliche Tätigkeit einzelner Personen, sondern legt auch dynamische internationale Austauschprozesse vom Wissen über die Urzeit offen.
Die Bildkartei zeigt versteinerte Fußabdrücke von Tieren. Als paläontologische Quellen wurden sie am Herzoglichen Museum Gotha (heute: Museum der Natur Gotha der Stiftung Schloss Friedenstein Gotha) gesammelt und erforscht. Aktuell befindet sich die Kartei im Depot der geowissenschaftlichen Sammlung des Museums. Mit ihren Schwarz-Weiß-Aufnahmen wirkt sie im modernen Depot wie aus der Zeit gefallen und ist doch im Vergleich zu den Sammlungsobjekten brandneu. Hinter den Metallfronten der Depotschränke verbergen sich hunderte Millionen Jahre alte Spuren des Lebens. Jede Schublade birgt Überreste, etwa einige hunderttausend Jahre alte Zähne des Europäischen Waldelefanten oder hunderte von Millionen Jahre alte Dinosaurierfossilien. Einige der fotografierten Sandsteinplatten mit den versteinerten Fußabdrücken befinden sich nur wenige Meter von der Bildkartei entfernt. Die massiven, rötlich-braunen Platten, die einem beim Betrachten der Bildkartei vertraut geworden sind, lehnen an Wänden. Die Abdrücke auf den Platten stammen von Landwirbeltieren des Perms, die vor 272–299 Millionen Jahren über die Erdoberfläche wanderten und ihre Spuren im weichen Untergrund hinterließen.[3] Die Fotografien der Platten sind hingegen nur etwas über einhundert Jahre alt. Der Moment, in dem der Junge neben den Steinplatten stehend in die Kamera blickte, liegt jedoch genauso wie das Perm in der Vergangenheit. Für die Rekonstruktion dieser vergangenen Welten arbeiten sowohl Paläontolog:innen als auch Historiker:innen mit überlieferten Spuren. Versteinerte Fußspuren auf der einen Seite, Fotografien und Schriftstücke auf der anderen Seite. Im Mittelpunkt steht immer der Versuch, unwiederbringlich vergangene Momente der Erdgeschichte zu rekonstruieren und zu verstehen.
Die Abdrücke wurden ab dem späten 19. Jahrhundert zum Gegenstand wissenschaftlicher Sammlungen und Diskurse. Es ging dabei vor allem um die Frage, welche Lebewesen die Spuren hinterließen. Im Zuge des Sammelns und Erforschens der Abdrücke entstand 1898 das hier abgebildete Foto als Teil einer Bildkartei. Die Bildkartei soll nun als historische Quelle betrachtet werden, mit der der Bedeutungswandel der Steinplatten vom Baumaterial zum wissenschaftlichen Objekt näher beleuchtet wird. Argumentiert wird dabei, dass die Bildkartei eine zentrale Rolle während des Bedeutungswandels der Objekte hatte.
Fossilien sind schon lange bei Sammlern begehrt. Die systematische Untersuchung versteinerter Knochen unter modernen geowissenschaftlichen Paradigmen begann jedoch erst im frühen 19. Jahrhundert, als man erste Dinosaurierarten beschrieb. Paläontologie als wissenschaftliche Disziplin war und ist untrennbar mit Sammeltätigkeit verwoben. Der Aufbau von Sammlungen seit dem 18. Jahrhundert – vor allem in Europa und Nordamerika – ermöglichte die Etablierung der Wissenschaft, da die untersuchte Welt nur durch die Objekte erfahrbar war.[4] Aber nicht nur Funde von Knochen urzeitlicher Lebewesen standen im Fokus von Sammlern und Wissenschaftlern, auch versteinerte Spuren wurden als prähistorische Zeugnisse erkannt und erforscht. Funde von Abdrücken, wie die Spuren des Chirotheriums (Handtier) in Hildburghausen 1833, erregten große mediale Aufmerksamkeit. Viele spekulierten über den Verursacher der Hildburghausener Fährte. Einige Forscher waren der Überzeugung, nur anhand der Abdrücke die unbekannten Lebewesen rekonstruieren zu können. Sie kamen jedoch zu unterschiedlichen Ergebnissen und suchten den Verursacher der Fährte unter anderem unter Beuteltieren, Affen, Reptilien oder Amphibien.[5] Andere hielten die Überzeugung, allein anhand der Abdrücke das gesamte Tier zu rekonstruieren, für überzogen, waren aber dennoch der Meinung, zumindest einige entscheidende Merkmale der Lebewesen aus ihren Spuren ableiten zu können. So entwickelte sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein internationaler Diskurs über die Funde versteinerter Spuren aus Hildburghausen, Schottland und den USA.
Die Idee des Spurenlesens war aber keine neue Entwicklung der Zeit. Carlo Ginzburg thematisiert dies in seinem Essay Spurensicherung und überlegt gar, ob es sich beim Spurlesen um den ältesten Gestus des menschlichen Intellekts handeln könnte.[6] Als Argument führt er Aussagen in den Schriften des französischen Geologen Georges Cuvier und des Briten Thomas Huxley aus dem 19. Jahrhundert an. Beide Autoren beziehen ihre Tätigkeiten auf Voltaires Erzählung Zadig oder das Schicksal. Dort kann der Protagonist nach dem Beobachten von Spuren Tiere genau beschreiben, ohne sie jemals gesehen zu haben. Dass die Erzählung auf das im 16. Jahrhundert in Venedig erschienene Peregrinaggio di tre giovani figliuoli del re di Serendippo zurückgreift, das eine Adaption des persischen Gedichtes Hasht-Bihisht aus dem 14. Jahrhundert ist, das wiederum auf ältere Quellen zurückgeht, untermauert Ginzburgs These vom Spurenlesen als uralter menschlicher Gestus. Gleichzeitig verdeutlichen die Rezeptionen die Universalität des Gestus nicht nur über große Zeiträume, sondern auch über räumliche Distanzen hinweg. Im 19. Jahrhundert war diese Rezeption jedoch so weit verbreitet, dass Ginzburg rückblickend von einem „Indizienparadigma“spricht. Die kunsthistorische Arbeit Giovanni Morellis, Arthur Conan Doyles Figur Sherlock Holmes, die Verwendung von Fingerabdrücken in kriminalistischen Untersuchungen und nicht zuletzt die Tätigkeit von Paläontologen: Rückschlüsse aus Indizien – oder Spuren – spielten eine zentrale Rolle in vielen Bereichen der Gesellschaft des 19. Jahrhunderts.
Die Entstehung der Bildkartei in Gotha im Kontext eines Indizienparadigmas und der in Europa und Nordamerika herrschenden Begeisterung für Paläontologie zu sehen, ist hilfreich, wenn man die Entstehungsgeschichte der Sammlung und der Kartei verstehen will. Es wird deutlich, dass es nicht nur vereinzelt passionierte Sammler gab, sondern eine internationale interessierte Öffentlichkeit existierte, womit die Objekte und ihre Erforschung an Bedeutung gewannen.
Etwa zehn Jahre nach den Funden der Chirotherium-Fährten in Hildburghausen gab es Meldungen über erstaunliche Funde von Spuren auf Gehwegplatten in der Nähe von Gotha, die aus einem Steinbruch im Thüringer Wald stammten. Aber erst in den 1880er Jahren konnten private Sammler den genauen Fundort der Spuren im Steinbruch Bromacker bei Tambach-Dietharz lokalisieren.[7] Sie informierten Wilhelm Pabst darüber. Der Lehrer für naturwissenschaftliche Fächer an Gothaer Schulen war nämlich zeitgleich der Kustos der naturwissenschaftlichen Sammlung am Herzoglichen Museum Gotha. Das Museum hatte zu der Zeit nur wenige Mitarbeiter. Neben Pabst und dem Direktor des Museums arbeiteten noch einige „Hilfsdiener“ und Aufsichten dort.[8] Über die Funde aus dem Steinbruch informiert, entschied man sich dafür, sie zu erwerben, um die bereits bestehende Sammlung europäischer Fossilien durch die lokal aufgefundenen und unerforschten Stücke zu vergrößern. Eine vom Staatsministerium erlassene Meldepflicht für alle zukünftigen Funde von Fossilien in den Steinbrüchen des Thüringer Waldes samt Vorkaufsrecht für das Museum in Gotha gab Wilhelm Pabst die einmalige Gelegenheit, alle Funde vergleichend zu untersuchen.[9] Die Domänensteinbrüche, in denen Mauer- und Chausseesteine abgebaut wurden, wandelten sich zu einer Quelle paläontologischer Forschung. Lokale Informanten und Politiker unterstützten die Arbeit von Pabst.
Die Erforschung der Spuren war mit einiger Arbeit verbunden und ressourcenintensiv. Es gab bis dato keine vergleichbaren Funde. Die Spuren aus dem Thüringer Wald stammten aus wesentlich älteren Gesteinsschichten als alle bis dahin gefundenen Abdrücke. Auch steckte die Erforschung von versteinerten Spuren noch in den Kinderschuhen; für den Umgang mit den Funden mussten Lösungen gefunden werden. Die etwa zehn Zentimeter dicken und teilweise einen Meter hohen Sandsteinplatten wogen nicht selten über 80 Kilogramm, was die Arbeit mit den Platten zusätzlich wortwörtlich erschwerte. Wilhelm Pabst nutzte daher neben einem Inventarverzeichnis mehrere Karteisysteme, um die Spuren handhabbar zu machen. In den Karteisystemen hielt er Standortinformationen zu den Platten in der Ausstellung des Museums fest und verband die Rahmeninformationen der Platten in der hier thematisierten Bildkartei mit Fotografien.
Im Zentrum der Bildkartei stehen die Fotografien der Fährtenplatten als verkleinerte, transportable Abbilder der Objekte. Der Entstehungszusammenhang wird durch den Namen des Fotografen und das Datum der Aufnahme am rechten unteren Rand des Blattes näher kontextualisiert. Mit einer Identifikationsnummer wird zudem auf das Negativ zur Aufnahme verwiesen; außerdem ist der Maßstab der Aufnahme zur Originalgröße des Objektes angegeben. Diese Angaben stellten die Fotografie in den Mittelpunkt. Weitere Notizen auf dem Blatt, wie die laufende Neuerwerbungsnummer, die jede Fährtenplatte identifiziert, weisen jedoch auf den Gegenstand als solches hin. Auch im Inventarbuch wird die Neuerwerbungsnummer als Identifikator genutzt. Um zwischen verschiedenen versteinerten Abdruckformen zu unterscheiden, entwickelte Pabst eine Klassifikation, die unter dem Foto eingetragen ist. Er bezeichnete sie als Fährtenarten, die er aufgrund bestimmter Merkmale unterschied. Der Steinbruch, aus dem die jeweilige Platte stammte, fand ebenfalls Niederschrift.
Die Mischung aus Daten über das Foto und über das fotografierte Objekt in der hier betrachteten Bildkartei zeigt, dass die Grenzen zwischen den Objekten und deren Abbildung offenbar verschwammen. Um die Kartei nutzen zu können, muss man die Sammlung und die Sammlungsdokumentation kennen. Das Wissen, dass eine Nummer auf das fotografierte Objekt, eine andere auf ein Fotonegativ verweist, erhält man nur, wenn man das Inventarbuch konsultiert und die Nummern auf den ebenfalls im Museum erhaltenen Glasplattennegativen der Aufnahmen bemerkt. Genauso wäre für Außenstehende unklar, ob „Zink. Gotha. Mai 1898 21/5“ nicht vielleicht eine Angabe zum Fund der Fährten sein könnte – das Funddatum wird auf der Bildkartei überhaupt nicht erwähnt, sondern fand Niederschrift im Inventarbuch. Der Zeitpunkt des Auffindens der Fährten als Augenblick, in dem die Steine nicht mehr Teil der endlosen Erdmassen des Thüringer Waldes waren, sondern Unikate mit wissenschaftlicher Bedeutung wurden, war für Sammler von einiger Bedeutung. Der Moment der Fotografie scheint hier aber als ebenso bedeutend angesehen worden zu sein.
Die Anfertigung der Fotografien erfolgte mit großem Aufwand. Um die fossilen Fußabdrücke, die als Hyporelief nur wenige Millimeter erhöht sind, auf den Aufnahmen bestmöglich sichtbar zu machen, wurden sie bei Tageslicht vor dem Museumsgebäude angefertigt. Dafür mussten die Objekte zunächst aus dem Gebäude getragen und der passende Stand der Sonne abgewartet werden. Die Aufnahmen fertigte in vielen Fällen der Gothaer Hoffotograf Carl Zink an, der Abzüge und Glasplattennegative dem Museum übergab. In der Bildkartei finden sich mit der Nennung des Fotografen, des Aufnahmedatums und des Verkleinerungsmaßstabs der fotografierten Objekte Hinweise auf diesen aufwendigen Prozess.
Aus heutiger Perspektive erscheint der in der Bildkartei aufgeklebte Abzug weniger wie ein wissenschaftliches Dokument und fast als Schnappschuss. Schließlich steht neben den Platten ein Junge in Gymnasialschuluniform und blickt in die Kamera. Bei dem hier fotografierten Jungen handelt es sich um den zwölfjährigen Sohn des Kustos, Kurt Pabst. Auch auf weiteren Aufnahmen tauchen Personen neben den Steinplatten auf. Im Hintergrund sieht man zudem durchgehend die Außenfassade des Museumsgebäudes. Auf anderen Aufnahmen der Serie sind Holzböcke und Geländer sichtbar, an denen die Platten lehnen. Der Aufwand, der den Aufnahmen vorausging, verdeutlicht jedoch, dass es sich keineswegs um Schnappschüsse handelte. Der Hintergrund und das Nebengeschehen wurden bei den Abzügen auf der Bildkartei belassen und nur für Publikationen häufig freigestellt.[10] Der Hintergrund war für die Erforschung der Spuren durch Wilhelm Pabst unbedeutend und blieb daher auf den Abzügen erhalten.
Eine weitere Funktion der Kartei, neben der Handhabbarmachung der Objekte, ist die Speicherung abwesender Daten. Wie bereits ausgeführt, waren versteinerte Fußabdrücke bei europäischen und nordamerikanischen Sammlern gefragt. Und auch die Funde aus dem Thüringer Wald fanden Verteilung in Europa. Darauf verweisen die in der Bildkartei mit roter Tinte verfassten Bemerkungen am linken unteren Rand. Dort sind die Städte festgehalten, in die verkaufte Objekte gelangten. In dem hier betrachteten Beispiel gingen die Fährtenplatten im Juni 1898 für 75 beziehungsweise 45 Mark an die Landwirtschaftliche Hochschule Berlin und das Naturhistorische Hofburgmuseum Wien.[11]
Für den Verkauf wurde ein internationales Netzwerk von Paläontologen und wissenschaftlichen sowie sammelnden Einrichtungen erschlossen. Dies gelang unter anderem über Vorträge von Wilhelm Pabst auf den Jahrestagungen der Deutschen Geologischen Gesellschaft. Pabst konnte sie nutzen, um einerseits seinen Forschungsstand vor einem Fachpublikum zu präsentieren, andererseits konnte er die Absicht des Museums verkünden, bestimmte Platten an Museen und verwandte Institute abzugeben.[12] Verkauft werden sollten vorrangig Stücke mit Abdrücken, die auf mehreren Platten auftauchen und von Pabst als Dubletten bezeichnet wurden. Im Nachgang dazu wurde der Verkauf über die Mineralien-Niederlage der Königlich-Sächsischen Bergakademie zu Freiberg organisiert, die den Vertrieb für einen Anteil am Verkaufspreis übernahm. Die Nutzung dieses Netzwerkes war entscheidend, da man in Gotha zu der Zeit nicht die personellen Kapazitäten für Organisation und Abwicklung der Verkäufe hatte.
Wie von Pabst laut seinem Vortrag bei der Deutschen Geologischen Gesellschaft 1895 beabsichtigt, wurden viele Platten an Museen verkauft.[13] Zahlreiche Einrichtungen mit bestehenden paläontologischen Sammlungen erwarben Fundstücke aus dem Thüringer Wald; das Königliche Mineralogische Museum in Dresden genauso wie das Senckenbergmuseum in Frankfurt am Main, das Naturhistorische Hofmuseum Wien, das Steiermärkische Landesmuseum Johanneum Graz und das British Museum in London. Meistens beschränkten sich die Käufer auf ein Objekt als Beispiel für versteinerte Fußabdrücke allgemein. Spurenfossilien waren selten der Hauptfokus von Sammlungen. Auch wissenschaftliche Gesellschaften wie die Bayerische Akademie der Wissenschaften in München und die Königlich Norwegische Wissenschaftliche Gesellschaft (Det Kongelige Norske Videnskabers Selskab) in Trondheim erwarben Fährtenplatten.
Eine zweite bedeutende Käufergruppe waren Lehranstalten. Die Universitäten Halle, Leipzig, Berlin, Moskau, Groningen und Pavia zählten zu den Käufern, und auch das Amherst-College in Massachusetts erwarb eine Platte. Dort entstand bereits ab 1835 unter Edward Hitchcock eine Spezialsammlung versteinerter Fährten. Sie war und ist eine der weltweit ersten und umfangreichsten wissenschaftlichen Spezialsammlungen von Spurenfossilien. Der Erwerb einer Fährtenplatte aus dem Thüringer Wald ist daher nicht verwunderlich. Auch Forstlehranstalten und Landwirtschaftliche Hochschulen wie die Landwirtschaftliche Hochschule Berlin erwarben Fährtenplatten. Der Fokus auf anschauliche Lehre und institutionseigene Sammlungen machte die Platten als Anschauungsmaterial interessant.
Die Mischung aus verschiedenen Bildungsinstitutionen als Käufer von Spurenfossilien und deren Streuung zeigt, dass die Fährtenplatten als wissenschaftlich bedeutsame und sammelwürdige Objekte zu Beginn des 20. Jahrhunderts gesehen wurden, auch wenn man erst damit begann, sich systematisch mit Fährten zu befassen. Neben Museen, Universitäten und Schulen finden sich aber auch private Sammler unter den Käufern.
Wilhelm Pabsts Position am Herzoglichen Museum Gotha gab ihm die Möglichkeit alle Funde aus dem Thüringer Wald zu begutachten, bevor sie Verteilung in Europa fanden. Die Akzeptanz seiner Forschungsergebnisse war gleichzeitig von der Verbreitung der Funde abhängig. Der Verkauf etlicher Platten brachte somit nicht nur Geld ins Museum, sondern erhöhte das Renommee von Pabst.
Die Bildkartei ist ein Speicher der Informationen über die verkauften Platten. Die großen Objekte wurden durch sie nicht nur handhabbar, sondern auch in ihrer Gesamtheit untersuchbar. Pabst konnte verkaufte Stücke weiterhin für seine Arbeit nutzen. Er veröffentlichte Aufnahmen und thematisierte bereits verkaufte Platten in seinen Publikationen. Die Speicherung der Informationen diente somit auch zur Legitimation der wissenschaftlichen Arbeit. In seiner Ansprache beim Geologentag 1895 hatte Wilhelm Pabst einen Kollegen kritisiert, der nicht nur ohne Erlaubnis ihm zugesandte Bilder für eine Veröffentlichung genutzt habe, sondern auch Fährtenabdrücke auswertete, ohne die Platten im Original untersucht zu haben.[14] Pabst hingegen konnte sich darauf berufen, alle Objekte in Gotha im Original untersucht zu haben, und besaß mit der Kartei vom Museum in Auftrag gegebene Bilder und von ihm zusammengetragene Informationen über die Platten. Sie ist ein Zeugnis der Verwissenschaftlichung der Forschungen über die Sandsteinplatten.
Mit dem Tod Wilhelm Pabsts 1908 stellte man am Museum in Gotha zunächst die Sammlung von Fährtenplatten ein, und auch die Erforschung der bereits bekannten Platten erlahmte für etliche Jahre.[15] Die Bildkartei, die Kartei mit den Standorten der Platten in der Gothaer Ausstellung und die Glasplattennegative der Fotografien hatte Pabst zuvor in beschrifteten Kartons untergebracht. Diese kompakte Lagerung wird zur vollständigen Überlieferung beigetragen haben. Auch wenn sich aus paläontologischer Sicht die Erkenntnisse über die Spuren und ihre Klassifikation änderten, auch wenn sich die Sammeltätigkeit des Museums wandelte, auch wenn man die Aufstellung der Objekte in der Ausstellung änderte und die Platten schließlich ins Depot kamen: Der Wissens- und Arbeitsstand von 1908 hat sich in den Dokumenten erhalten und verdeutlicht, wie man Sandsteinplatten zu wissenschaftlichen Quellen über die Urzeit machte, wie man das Wissen festhielt und wie es von Gotha aus in Europa Verbreitung fand.
[1] Essay zur Quelle: Fotografie eines versteinerten Fußabdrucks, Auszug aus einer Bildkartei (1895-1908), in Themenportal Europäische Geschichte, 2023, URL: < https://www.europa.clio-online.de/quelle/id/q63-77377>; Ich danke Carsten Eckert für die Hinweise auf die Bildkartei und weitere Informationen zur Geschichte der Sammlung.
[2] Ibid.
[3] Zum Alter der Gesteinsschicht siehe den kurzen Abriss der Sammlungsgeschichte: Thomas Martens, Die Ursaurier vom Bromacker. Teil 1: Erforschungsgeschichte und Spurenfossilien, in: Fossilien-Journal für Erdgeschichte 33 (2016) Nr. 5, S. 16–26.
[4] Lothar Beck / Ulrich Joger (Hrsg.), Paleontological Collections of Germany, Austria and Switzerland, Cahm 2018, stellen über fünfzig aktuell bestehende paläontologische Sammlungen im deutschsprachigen Raum vor. Die Mehrheit davon geht auf Sammlungen des 18. Jahrhunderts zurück. Wissenschaftliche Sammlungen von versteinerten Spuren – zusätzlich zu versteinerten Knochen – begannen jedoch erst in den 1830er-Jahren. Siehe dazu u.a. S. Pemberton u.a. Two Early Titans of Vertebrate Ichnology in North America, in: William Miller (Hrsg.), Trace fossils. Concepts, problems, prospects, Amsterdam 2007, S. 32–51.
[5] Einblicke in den zeitgenössischen Diskurs über die Chirotheriumfährte aus Hildburghausen bieten Meldungen in der Zeitschrift „Neues Jahrbuch für Mineralogie, Geognosie, Geologie und Petrefaktenkunde“, Stuttgart 1833–1862, hrsg. von Karl Cäsar von Leonhard und Heinrich Georg Bronn. Die Ausgaben von 1834 bis 1838 enthalten jeweils Auszüge aus Publikationen, Vorträgen und Briefen über die Chirotheriumfährten aus Hildburghausen. Reinhard Bernardi, Brief vom 10. September 1834, in: Neues Jahrbuch […] (2) 1834, S. 641 f., berichtet von den Funden und vermutet Amphibien hinter den Spuren. Im Neuen Jahrbuch […] (3) 1835 stehen drei Meldungen. 1. (S. 230–243) Auszug aus: Friedrich C.L. Sickler, Sendschreiben an J.F. Blumenbach über die höchst merkwürdigen, vor einigen Monaten erst entdeckten Reliefs der Fährten urweltlicher grosser und unbekannter Thiere in den Hessberger Standsteinbrüchen bei der Stadt Hildburghausen 1834; in einem Kommentar über die Publikation nennt H.G. Bronn Affen oder Beuteltiere als mögliche Verursacher der Spuren; 2. (S. 327– 328): Johann Jacob Kaup, Brief vom 2. Februar 1835, in dem sich Kaup ebenfalls für ein Beuteltier ausspricht und gleichzeitig den Namen Chirotherium vergibt; 3 (S. 623–624): Bericht von einer Sitzung der mineralogisch-geognostischen Sektion der Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte in Bonn 1835, in der die Fährten, ihre Echtheit und ihr Entstehen diskutiert wurden. Weitere Beiträge zum Diskurs sind: Alexander von Humboldt, Note sur des empreintes de pieds d'un Quadrupède dans la formation de grès bigarré de Hildburghausen en Allemagne, in: Annales des Sciences Naturelles 1835, Série 2(4), S. 134–138, und Charles Lyell, A Manual of Elementary Geology, or, The Ancient Changes of the Earth and its Inhabitants as Illustrated by Geological Monuments, London 1855, S. 339–342.
[6] Carlo Ginzburg, Spurensicherung. Der Jäger entziffert die Fährte, Sherlock Holmes nimmt die Lupe, Freud liest Morelli – die Wissenschaft auf der Suche nach sich selbst, in: Carlo Ginzburg, Spurensicherung. Die Wissenschaft auf der Suche nach sich selbst, Berlin 2002, S. 7–57. Auf Seite 21 wird die Handlung des Spurenlesens als Gestus bezeichnet.
[7] Wilhelm Pabst, Die Tierfährten in dem Rotliegenden „Deutschlands“, in: Kaiserliche Leopoldinisch-Carolinische Deutsche Akademie der Naturforscher (Hrsg.), Nova acta. Abhandlungen der Kaiserlichen Leopoldinisch-Carolinischen Deutschen Akademie der Naturforscher, Bd. 89, Halle 1908, S. 315–482.
[8] Über die Beamten und Angestellten am Museum um 1900: Landesarchiv Thüringen – Staatsarchiv Gotha, Signatur Loc. 10 h Nr. 19, Acten für das Herzogliche Staats-Ministerium den Kustos der naturwissenschaftlichen Sammlungen des herzoglichen Museums Dr. phil. Wilhelm Pabst in Gotha betreffend, 1889–1910. Bl. 96.
[9] Ein und vierzigste Allgemeine Versammlung der Deutschen geologischen Gesellschaft zu Coburg – Protokoll der Sitzung vom 12. August 1895, in: Zeitschrift der Deutschen Geologischen Gesellschaft 47 (1895), S. 561–595, hier besonders S. 576. URL: <https://www.biodiversitylibrary.org/page/43966529> (28.11.2020).
[10] Die freigestellten Platten sind in Wilhelm Pabst, Die Tierfährten in dem Rotliegenden „Deutschlands“ (siehe Anm. 6) abgebildet. Außergewöhnlich ist hingegen die Verwendung der Aufnahme mit Kurt Pabst bei Hermann Klaatsch, Entstehung und Entwicklung des Menschengeschlechts, in: Hans Kraemer (Hrsg.), Weltall und Menschheit. Geschichte der Erforschung der Natur und der Verwertung der Naturkräfte im Dienste der Völker, Bd. 2, Berlin um 1902, S. 1–338.
[11] Sebastian Voigt, Zur Geschichte der Tetrapodenfährtenfunde in den Sandsteinbrüchen bei Tambach-Dietharz (1887–1908), in: Abhandlungen und Berichte des Museums der Natur Gotha 22 (2002), S. 47–58, listet die verkauften Platten samt Verkaufspreise genaue auf. Demnach reichten die Erlöse nicht, um die Ausgaben von Ausgrabung, Transport etc. zu decken.
[12] Siehe Anm. 7.
[13] Siehe Anm. 9.
[14] Siehe Anm. 7.
[15] In den 1970er-Jahren fand man erneut Fossilien – diesmal Knochen – in der Lagerstädte Bromacker. Seit Herbst 2020 gibt es zudem das Forschungsprojekt BROMACKER, bei dem das Museum für Naturkunde Berlin – Leibniz-Institut für Evolutions- und Biodiversitätsforschung, die Stiftung Schloss Friedenstein Gotha, die Friedrich-Schiller-Universität Jena und der UNESCO Global Geopark Thüringen Inselsberg - Drei Gleichen kooperieren. Auch die zwischen 1895 und 1908 entdeckten Fährten sind weiter im Fokus der Forschung.
Literaturhinweise:
Flavio Häner: Dinge sammeln, Wissen schaffen. Die Geschichte der naturhistorischen Sammlungen in Basel, 1735–1850, Bielefeld 2017.
Hartmut Haubold: Die Saurierfährten Chirotherium barthii Kaup 1835 – das Typusmaterial aus dem Buntsandstein bei Hildburghausen/Thüringen und das „Chirotherium-Monument“ in: Veröffentlichungen des Naturhistorischen Museums Schleusingen, Bd. 21 (2006), S. 3–32.
Anke te Heesen / Emma C. Spary (Hrsg.): Sammeln als Wissen. Das Sammeln und seine wissenschaftsgeschichtliche Bedeutung, Göttingen 2001.