"Es sind zwei Welten gewesen". Interview mit einer aus der DDR geflohenen Software-Ingenieurin (1999)
Frau Müller, ein Arbeiterkind, ließ sich um das Jahr 1970 in der DDR als Facharbeiter für Datenverarbeitung ausbilden, absolvierte hinterher das Studium im Fach Informationsverarbeitung. Nach dem Studium bekam sie eine Stelle in ihrer Heimatstadt, wechselte aber den Betrieb, um beruflich voranzukommen. In derselben Zeit lernte sie ihren späteren Mann kennen und bekam ein Kind.
Frage: „Haben Sie dann vorher so darüber gesprochen, wie so die Rollenverteilung sein sollte?“ [...]
Frau Müller: „Ja. Das war in der DDR eigentlich überhaupt kein Problem. Weil diese Emanzipation, die war eigentlich schon da. Ne? Also, dass auch der Mann das Kind betreut hat.“ [...]
Frage: „Haben Sie das denn so als Konflikt erlebt – so Ihren Wunsch nach Kind und Ihre Berufstätigkeit?“
Frau Müller: „In keinster Weise.“ [...] [Aber:] „Wenn der Partner nicht mitspielte, das wär‘ auch nicht in der DDR möglich gewesen.“
Als das Kind zwei war, wurde sie Abteilungsleiterin.
„Es war ein Stress, ne? Es war gegen Wände laufen teilweise. Aber eigentlich, ich sage, ich gehe auch gern, sehr gern mit Menschen um. Es hat mir schon Spaß gemacht. Aber natürlich auch eine hohe Belastung – Kleinkind, Familie.“ [...]
Frage: „Sie hatten dann auch so eine Art Vorgesetztenfunktion, ne? Und Leute unter sich, ne? Und fühlten Sie sich dem auch gut gewachsen?“ [...]
Frau Müller: „Also ausbildungsmäßig, ja. [...] wo es Probleme gab im Kollegenkreis, [...] die Leute – jetzt nicht falsch verstehen – von bestimmtem Niveau, die akzeptierten das. Aber die Damen, die halt so [eine] Ausbildung nicht hatten, [und] die auch vom IQ her – da muss ich sagen – einen geringeren hatten – die haben das mir quasi geneidet, und dann war [da] ein bisschen Mobbing im Spiel. Also es hat grobe Auseinandersetzungen gegeben. Da war zufällig dann eine Kollegin, die mit mir also in der gleichen Firma war, wo ich meine Ausbildung hatte. Und die hat gesagt: ‚Ja die, die war noch Lehrling, als ich schon Facharbeiter war. Was hat sie mir denn zu sagen? Also, das gab’s dort auch. Und hab ich schwere Kämpfe hinter mir. Das ging dann bis vor diese [...] Konfliktkommission – Koko hieß es im Osten – und die [Kollegin] hat dann auch Verweise bekommen und so.“
Frage: „War das eigentlich ungewöhnlich, dass Sie als Frau solch eine Position hatten?“
Frau Müller: „Es war schon ein bisschen ungewöhnlich.“
Frage: „Und glauben Sie, dass Sie dadurch noch größere Schwierigkeiten hatten als jetzt Männer in der Funktion?“
Frau Müller: „Ein bisschen schon. Doch. Ich glaube man musste mehr sich mit Dingen beschäftigen als die Männer. Aber nicht so gravierend wie hier [in den alten Bundesländern]. [Lacht]“ [...]
Frage: „Hatten Sie eigentlich den Eindruck, dass Sie in dem Moment, wo Sie dann praktisch so Abteilungsleiterin waren, dass Sie da auch stärker politisch kontrolliert wurden?
Frau Müller: „Ja. Sehr sogar. Also, ich sag da, dieser Vorgesetzte, der ist sehr schnell ausgeschieden, es musste schnell Ersatz gefunden werden, und dann hat man bei mir ein bisschen geschludert. Man hat nämlich nicht geguckt, dass ich nicht in der Partei war, und dass ich Kontakte in die BRD hatte. [...] Man hat mich regelmäßig, alle zwei Wochen vorgeladen. Hat gesagt, ich sollte in die Partei eintreten; ich hab’ dann immer getrickst, ich hab’ gesagt, ich fühle mich noch nicht reif genug. [...]“
Gravierende Probleme traten auf, als sie zugab, noch Kontakte zu einer alten Freundin zu haben, die mit Ausreiseantrag in die Bundesrepublik ausgereist war.
„Das war mein Todesurteil. [...] Ich wurde vorgeladen zum Obersten Kombinatschef, der hat gesagt, ‚O Gott, Mädele, wir hatten schon so viel mit Dir vor. Kannst Du nicht den Kontakt abbrechen? Du verbaust Dir Deine ganze Karriere.’ Und ich hab’s einfach nicht eingesehen, dass so ein einfach lieber Mensch, dass ich den aus meinem Leben streichen soll. [...] Ich hab’s also nicht gemacht. Dann hatte ich zwei Wochen Bedenkzeit. Dann hat man mich meines Postens enthoben. Die eine Kollegin hat natürlich gejubelt. Und hat gesagt, ‚ich hab’s ja gleich gesagt’. Also es war schlimm. Es war schlimm. Ja-a-a. Dann wurde ich finanziell eine Stufe runtergestuft. Weiter durften sie nicht. Ich hab als Hochschulingenieur Lochkarten lochen dürfen. Primitivste Arbeiten. Also, es war schlimm.
Ihrem Freund wurde nahegelegt, sich von ihr zu trennen. Stattdessen stellten die beiden einen Ausreiseantrag.
„Wir waren der letzte Dreck. Politisch nicht mehr tragbar. Es war unerträglich. Dann haben wir einen Ausreiseantrag gestellt. Nach langem hin und her, gell? Weil es nicht einfach war, die Entscheidung. Aber wir hatten keinerlei Perspektive mehr. Ich konnte mich bewerben wo ich wollte, mich hat niemand genommen [...] Ich bin dann halt auch zu Hause geblieben, weil ich es nervlich nicht mehr schaffte. [...] Die haben das Kind bearbeitet im Kindergarten. Und haben dem gesagt, wenn ihr weggeht, dann hast du deine Oma nicht mehr und so. [...] Dann war ich zwei Jahre daheim – ein Horror.“ [...]
Zwei Jahre mussten sie auf die Genehmigung des Ausreiseantrags warten. Sie heirateten und zogen in die Bundesrepublik, an einen Ort, wo der Mann eine Stelle bekam. Frau Müller bekam zuerst keine Stelle, teilweise weil sie keine Erfahrung am PC hatte, teilweise weil wenig Arbeitsplätze am Ort vorhanden waren, teilweise weil der dortige Kindergarten nur halbtags aufhatte.
Frau Müller: „Immer daheim sitzen. Und kein Geld – das war Horror, gell?“
Frage: „Und die Stelle, die Sie bekommen haben – entsprach die so ihrem Ausbildungsstand, so ungefähr, oder war das sehr weit drunter?“
Frau Müller: „Nein. Das war sehr weit drunter. Aber man kann eigentlich nicht sagen ‚den Ausbildungsstand‘, weil die Praxis fehlte. Und – ich möcht’ sagen – es sind ja wirklich zwei Welten gewesen. In der DDR [...] waren ganz andere Kriterien in der Wirtschaft da als hier. Ich hab’ nicht gewusst, was ist Mehrwertsteuer, was ist Skonto. [...] Auch wie die Leute telefonierten. Wer hatte [in der DDR] schon ein Telefon zuhause? Selbst da hatte ich auch Komplexe. [...] Ich habe also ganz von vorne angefangen.“
Ihr Mann verließ sie und sie bekam eine neue Stelle, bei der sie Schulungen durchführte, ein Gebiet, das ihr sehr zusagte.
„Da ging es in meinem Leben bergauf, muss ich sagen. Ich habe mich unheimlich reingekniet. Und mein Sohn hat auch dufte mitgespielt. Also, ich hatte eine Schule gefunden mit Nachmittagsbetreuung, was hier nicht so üblich ist. Ich habe dort also jegliche Unterstützung bekommen – von Kollegen, von Vorgesetzten. Weiterbildung, wenn ich das wollte, wünschte – überhaupt kein Problem.“ [...]
Frage: „Und was war jetzt so das speziell Neue, was Sie lernen mussten, was Ihnen fehlte?“
Frau Müller: „Also was man lernen musste – einfach das selbstbewusste Auftreten. Dass man sich nicht für alles entschuldigt. ‚Entschuldigt bitte noch, dass ich leb’ – So war man in der DDR erzogen. Das war ja auch so gewollt. Dieses Selbstbewusstsein war nicht erwünscht.“
Sie arbeitete zum Zeitpunkt des Interviews im öffentlichen Dienst, an einem Rechenzentrum. Sie sollte in der nächsten Zeit in den Vertrieb überwechseln:
Frau Müller: „Ich bin vom Chef angesprochen worden. Also wahrscheinlich auch aufgrund meines Wesens. Der hat gesagt, Sie, ich kann Sie mir dabei gut vorstellen.[...] Und das hat er lobend erwähnt, dass er sagt, dass ich mich selbst eigentlich hochgearbeitet habe, also das Wissen angeeignet. [...] Das Engagement, das macht sich jetzt schon bezahlt. Also, ich muss sagen, ich mach meinen Job auch gerne. [...] Ich will jetzt unbedingt eine leitende Tätigkeit, aber es ist eigentlich ein Ding der Unmöglichkeit. Im öffentlichen Dienst, die Stellen sind besetzt, ne? Und als Frau, also man muss 150% Leistung bringen hier, um das Gleiche zu erreichen wie ein Mann. [...]
Frage: [...] Was würden Sie eigentlich so als Ihre größten beruflichen Erfolge einschätzen? Worauf sind Sie stolz?
Frau Müller: „Eigentlich darauf, dass ich in gewisser Weise das schon geschafft habe, wovon ich in meiner Jugend geträumt hatte: mal Verfahren zu betreuen oder Projekte zu betreuen und das anderen Menschen zu vermitteln und das Feedback zu kriegen, dass die was von mir lernen. Das ist eigentlich das Schönste. Und das kriege ich. Tu’ ich sehr gerne, mit Menschen umgehen.“