Private Wohltätigkeit und Antisemitismus um 1900: Ausgezeichnet und verleumdet – der Berliner Fürsorgepionier Herrmann Abraham
Von Harald Dehne
Der strahlende Glanz, der das rasante Wachstum der Hauptstadt des Deutschen Reiches seit 1871 begleitete, vermochte den besorgniserregenden Anstieg der Zahl von unterstützungsbedürftigen Arbeiterfamilien nicht zu verbergen.Wie jede Kommune zur Armenpflege verpflichtet, versuchte der Berliner Magistrat die schlimmste Not zu lindern, aber alle städtischen Fürsorgebestrebungen wären ein Tropfen auf dem heißen Stein geblieben ohne die vielfältige Wohltätigkeit engagierter Bürger der Stadt.Um die hungrigen Berliner Schulkinder etwa kümmerten sich ausschließlich private Vereine, angeführt vor allem von jüdischen BerlinerInnen wie Agnes Blumenfeld (Verein zur Speisung armer Kinder und Notleidender, gegründet 1875) oder Lina Morgenstern (Verein Berliner Volksküchen von 1866). Eine der herausragenden Persönlichkeiten unter ihnen war der wohlhabende Rentier Herrmann Abraham, der nach dem Verkauf seines Tuchgeschäftes im Jahre 1890 im Alter von 43 Jahren sein zweites Leben als ein Vorreiter in der privaten Ernährungsfürsorge begonnen hatte.Sein Verein für Kindervolksküchen hatte innerhalb von zehn Jahren so sehr Furore gemacht, dass der Kaiser ihn 1903 für seine Verdienste mit dem Kronen-Orden auszeichnete. Aber mit seinen scheinbar ausufernden Wohlfahrtsaktivitäten – gelegentlich kritisch als „Wohltätigkeitssport“ bezeichnet – hatte Abraham auch eine Gegnerschaft erzeugt, sowohl unter den konservativen Sozialpolitikernals auch in den erstarkenden antisemitischen Kreisen im Deutschen Reich.Diese nutzten diese Auszeichnung zu einer öffentlichen Diffamierung des jüdischen Wohltäters. In diesem Spannungsfeld beleuchtet der im Folgenden abgedruckte Artikel aus der Staatsbürger-Zeitung aus dem Sommer des Jahres 1903 eine typische Affäre.Diese hatte schon einige Monate zuvor begonnen und sollte mindestens bis zum Ende des Jahres neben der Öffentlichkeit auch das Berliner Polizeipräsidium und das Potsdamer Innenministerium beschäftigen.
Zunächst fällt uns heute an diesem Beitrag auf, dass der Berliner Verein für Kindervolksküchen bereits um 1900 eine für die Mediensituation im Kaiserreiches ausgesprochen effektive Öffentlichkeitsarbeit betrieb, denn er machte auf seine Erfolge durch eigene Presseinformationen aufmerksam. Erst der genauere Blick auf den Artikel, abgedruckt in der als antisemitisch bekannten Staatsbürger-Zeitung, lässt dann erkennen, dass hier in populistischer WeiseGerüchte kolportiert und Halbwahrheiten zu Gehilfen der Lüge instrumentalisiert werden. Das Ziel des Artikels war es offenbar, Missgunst zu schüren und dem Ruf des wohltätigen Philanthropen, dem soeben ein kaiserlicher Orden verliehen worden war, zu schaden. Durfte ein in Berlin lebender Jude denn überhaupt zu einem deutschen Ritter geschlagen werden? Der Erlass vom 28. Juli 1903, der Herrmann Abraham mit dem Kronen-Orden vierter Klasse auszeichnete, kam von „Allerhöchster“ Stelle, daran war schließlich nicht mehr zu rütteln – aber es blieb der Weg der Verleumdung des Geehrten und der Unruhestiftung selbst in Ministerialebenen.
Nach der vom Redakteur in den Raum gestellten Frage, wofür der Jude denn die Auszeichnung verdient haben soll, wird die nachfolgende Denunziation Abrahams als profitgieriger „Humanist“ auf einer Lüge aufgebaut, eine Lüge, die der Autor – sicherheitshalber? – aus einer anderen Zeitung der antijüdischen Pressephalanx zitiert. Diese besteht in der Behauptung der Deutschen Tageszeitung, Abraham betreibe ein Lebensmittelgeschäft und verdiene sich an seiner Wohltätigkeitsspeisung privat eine goldene Nase. Da dies wohl noch nicht anrüchig genug ist, wird eine fast vergessene Geschichte von Neuem aufgetischt: Der sogenannte Fleischskandal während der Berliner Gewerbeausstellung 1896 im Treptower Park. Neben dem Vorwurf, dass Abraham Subunternehmer zum Sponsoring zwingen wollte, wird ihm vor allem unterstellt, aus Kostengründen Hygienevorschriften umgangen zu haben, was ihn ins Visier der Königlichen Staatsanwaltschaft gebracht habe. DieBotschaft dieses Zeitungsartikels: „In Wohltätigkeit machen“ scheint modern zu sein und bringt einen zu etwas, auch wenn es nicht mit rechten Dingen zugeht. Am Ende steht: Dieser Jude könne kein Ehrenmann sein, der Orden gebühre ihm gar nicht.
Damit bleiben die beiden zentralen Fragen aber unbeantwortet: Wofür hat Herrmann Abraham diese Auszeichnung erhalten und wer hat ihn vorgeschlagen?
Abraham, der im Jahre 1847 als Sohn eines preußischen Kultusbeamten in der Provinz Posen geboren wurde, ging mit 17 Jahren nach Berlin und gründete hier ein Jahr später eine Tuchhandlung. Insbesondere nach der Reichsgründung 1871 brachte sie ihm so viel Gewinn ein, dass er sie 1893 für die phantastische Summe von einer halben Million Mark verkaufen und bereits im Alter von 43 Jahren von den Zinsen seines Vermögens leben konnte. Zunächst engagierte er sich im Rahmen jüdischer Wohltätigkeit und beköstigte jüdische Flüchtlinge aus Russland, aber schon im Jahre 1893 gründete er seinen eigenen Wohltätigkeitsverein, den Verein für Kindervolksküchen. Dieser unterhielt 1902 zwölf Küchen, in denen Schulkinder gespeist wurden, teils für geringes Entgelt, teils als Armenspeisung. Vom Magistrat kam ein lächerlicher Zuschuss, der aber so umfangreich bemessen war, dass er von dieser fürsorgerischen Aufgabe entbunden erscheinen konnte. Das erforderliche Geld für die Kinderspeisung sammelte Abraham in den besten Kreisen der Gesellschaft durch Kollekten, Spendeneinwerbung, Benefizkonzerte und Wohltätigkeitsbasare. In vielen Fällen wurde das Geld sehr offensiv eingeworben, eine Praxis, die von Kritikern nicht immer als würdig empfunden wurde.
In die Aktivitäten des Vereins für Kindervolksküchen, der 1902 über 2.000 Mitglieder hatte, wurden die Honoratioren und insbesondere deren Ehefrauen aktiv eingespannt. Als Ehrendamen beaufsichtigten sie die Arbeit der Küchen und absolvierten prüfende Hausbesuche bei den bedürftigen Familien, deren Schulkinder zur Beköstigung in die Küchen geschickt wurden. Sie hießen Frau Baronin, Frau Admiral oder Frau Amtsgerichtsrat. Und nicht zuletzt wusste Abraham seine Beziehungen zu den gesellschaftlichen Oberschichten für seine Wohltätigkeitsbestrebungen durchaus geschickt zu nutzen. Immerhin genossen es Ihre Durchlaucht, Prinzessin Elisabeth zu Hohenlohe-Schillingsfürst – und wer denkt da nicht an den ehemaligen Reichskanzler? –, mit dem Titel der Ehrenvorsitzenden der Frauengruppe des Vereins für Kindervolksküchen geehrt zu sein. Die wichtigste „Exzellenz“ für Abraham war allerdings Frau Staatsminister Dr. Studt, die seit 1898 bis zu ihrem Tode 1932 als führende Vereinsdame die Arbeit der Vorsteherinnen koordinierte. Ihr Gatte war 1899 bis 1907 preußischer Kultusminister. Tatsächlich ging von ihm die offizielle Anfrage aus, ob einer Ordensverleihung zu Ehren des Vereinsvorsitzenden etwas im Wege stünde. Schließt sich hier ein Kreis? Nimmt man heute entsprechende Archivakten und die Selbstdarstellungen des Vereins zur Hand, so fällt einiges Licht auf die Hintergründe, und es lässt sich mit einiger Plausibilität vermuten, wie die Sache ungefähr gelaufen sein könnte.
Im November 1902 beschließt die Generalversammlung des Vereins für Kindervolksküchen den Rechenschaftsbericht für 1900/1901 und 1901/1902. Die Mitglieder sind mit den Ergebnissen zufrieden und veröffentlichen ihren Bericht, aus dem unter anderem hervorgeht, dass Herr Staatsminister Studt zwar kein Mitglied ist, aber drei Mark gespendet hat. Das zehnjährige Jubiläum rückt heran. Am 3. März 1903 bricht sich Abraham beide Beine, als er eine Veranstaltung in der Philharmonie vorbereitet. Am Sonntag, den 10. Mai 1903, schreiben die mitleidenden Ehrendamen und Küchenvorsteherinnen wahrscheinlich einen Brief an den Herrn Minister der geistlichen, Unterrichts- und Medizinalangelegenheiten Studt. Nach einem Monat Wartezeit – oder möglicherweise auch diversen telefonischen und persönlichen Abstimmungen – entschließt dieser sich am 11. Juni 1903 zu einer Anfrage an den Polizeipräsidenten. „Durch die Vorsteherinnen der ‚Berliner Kinder-Volksküchen‘, deren Bericht vom 10. Mai 1903 hier beiliegt, ist bei mir in Anregung gebracht worden, den Vorsitzenden des Vereins Rentier Herrmann Abraham in Berlin, welcher augenblicklich infolge eines auf dem Wege zu einer Vereinssitzung erlittenen Unglücksfalles darniederliegt, anlässlich des 10-jährigen Bestehens des Vereins mit einer Allerhöchsten Auszeichnung für seine Verdienste um den Verein zu belohnen. Ew. Hochwohlgeboren ersuche ich ergebenst, über die Personalverhältnisse des p. Abraham zu berichten und sich darüber gefälligst zu äußern, ob der Erwirkung einer Ordensverleihung für denselben ein Bedenken im Wege steht.“
Bereits nach elf Tagen ist das positive Führungszeugnis für den Rentier Herrmann Abraham erstellt. Der Polizeipräsident von Borries antwortet am 29. Juni 1903: „Gegen die Verleihung einer Allerhöchsten Auszeichnung an den Rentner Herrmann Abraham in Berlin-Wilmersdorf, Schaperstraße 34 wohnhaft, habe ich in Anbetracht seiner in jeder, auch in politischer, Beziehung einwandfreien Führung keine Bedenken geltend zu machen. Nach meinem unvorgreiflichen Dafürhalten würde der Königliche Kronen-Orden 4. Klasse am Platze sein und, soweit ich mich darüber unterrichten konnte, auch den Wünschen Abrahams entsprechen.“Diesen klar geäußerten Hoffnungen entspricht nur einen Monat später auch der Kaiser, so dass Abraham, der sich immer noch in der Königlichen Klinik in der Ziegelstraße befindet, am 15. August 1903, einem Samstag, vom Polizeipräsidenten offiziell informiert und beglückwünscht wird.
Diese Nachricht verbreitet der Verein für Kindervolksküchen unverzüglich als eine triumphale Mitteilung an alle Zeitungen, was wiederum die antisemitische Presse provoziert. Noch bevor der amtliche Auszeichnungsvorgang am 25. August 1903 beendet ist und die General-Ordens-Commission dem Polizeipräsidenten das Besitzzeugnis über den Kronen-Orden Abrahams übersendet, haben die antisemitischen Attacken auf den soeben Ausgezeichneten begonnen.
Der verunsicherte Minister Studt hält die wachsende Unruhe durch bösartige Zeitungsnachrichten über den Ordensträger Abraham am 23. September 1903 offenbar nicht länger aus. Er schickt – gemeinsam mit dem Innenminister – entsprechende Zeitungsausschnitte an den Polizeipräsidenten und bittet unter Verweis auf dessen „wohlwollenden Bericht“ vom 29. Juni um Äußerung zu den neuerlichen Vorwürfen wegen der Sache auf der Gewerbeausstellung 1896. Gelassen antwortet von Borries, dass diese gehässigen Behauptungen der antisemitischen Presse lediglich Wiederholungen darstellten und Abraham schließlich freigesprochen worden sei. Delikat daran ist, dass der Berliner Polizeipräsident im Jahre 1903 jetzt den Juden Abraham verteidigt, wohingegen sein Vorgänger Guido von Maday ihn 1881 bis 1884, zur Zeit der Sozialistengesetze also, noch misstrauisch hat bespitzeln lassen, nur weil er sich – privat und nicht politisch motiviert – mit Bekannten traf, die als Sozialdemokraten observiert wurden. Staatsminister Studts Nervosität bleibt, und so verlangt er im November Einsicht in die Akten der seinerzeit ermittelnden Staatsanwaltschaft, die ihm der Polizeipräsident Mitte Dezember 1903 auch übersendet. Danach scheint die Sache im Sande zu verlaufen.
Unklar bleibt in der Rekonstruktion, warum Konrad Studt Angst vor seiner eigenen Courage bekommen hat – die telefonischen und persönlichen Absprachen sind ja leider nicht überliefert. Vielleicht hat ihn die Gemahlin überredet, dem geschätzten Abraham einen persönlichen Gefallen zu tun. Abraham aber stand mit beiden – selbst mit seinen derzeit gebrochenen – Beinen in der Öffentlichkeit, war stets präsent, aber durchaus auch umstritten. Für seine zeitgenössisch „menschenfreundliches Werk“ genannte ehrenamtliche Sozialarbeitin der Stadtgemeinde hatte er viele Befürworter, aber zugleich auch eben so viele Feinde. Sie tadelten ihn wegen seiner Methoden und bekämpften ihn aber auch wegen des Inhalts seines sozialen Engagements, das der damalige Stadtschulrat Heinrich Walter Bertram bereits als „Anfang des Kommunismus“ fürchtete – was seine Gattin im Übrigen allerdings nicht daran hinderte, als Vorsteherin der Kinder-Volksküche am Halleschen Tor ihre Haltung in dieser Frage zu demonstrieren.
Und Abraham war angreifbar. Erstens wegen seiner offensiven und medienwirksamen Art, für sein „mildtätiges Wirken“ zu werben und Geld zu akquirieren. In seine Reklame spannte er alle Prominenz ein, bestellte allenthalben Lobpreisungen und Dankesbriefe, die er seitenlang in seinen Rechenschaftsberichten abdruckte. Viele missbilligten seine schillernden Benefizkonzerte in der Philharmonie, die er etwa unter dem Motto „Indisches Fest“ oder „Im Casino von Monte Carlo“ veranstaltete, die zwar nicht jedermanns Geschmack trafen, jedoch einen großen Reinerlös für die Vereinsarbeit einbrachten. Kritikwürdig war zweitens seine Vorliebe für den Glamour hochwohlgeborener Kreise, mit dem er sich und seine Sache, dies beides ließ sich kaum mehr trennen, gerne schmückte, und so war er der Verein.
In der Professionalität seiner extrovertierten Selbstdarstellung war Abraham seiner Zeit unzweifelhaft voraus. Sich mit seinem Anliegen der Öffentlichkeit durch lärmende Reklame zu empfehlen, galt seinerzeit allerdings noch als wenig ehrenhaft, stand diese Reklame doch zu sehr in der Nähe der Übertreibung. Ein paar Jahre später, als Abraham fast durch einen Besuch der Kaiserin in einer seiner Küchen beehrt worden wäre, urteilte der nunmehrige Polizeipräsident Ernst von Stubenrauch auf Anfrage des Königlichen Schlosses entsprechend ambivalent: „Der in Folge eines Unfalls jetzt an Krücken gehende 62 Jahre alte Mann neigt stark zur Reklame für sich und seinen Verein und sucht aus Allem für seine Bestrebungen Vorteil zu ziehen, wenn auch seine persönliche Uneigennützigkeit in keiner Weise anzuzweifeln ist.“
Und schließlich war er auch in seiner Eitelkeit anfechtbar. Abraham war ein reicher und angesehener Bürger. Er war selbstlos, wenn es darum ging, sich mildtätig für Hilfsbedürftige seiner Stadt zu betätigen. Dafür opferte er viel Geld und ein Grundstück; aber zugleich erwartete er von der Öffentlichkeit, dass sie diese altruistischen Taten auch entsprechend wahrnahm und gebührend honorierte. So wuchs mit seinen Erfolgen in der Wohltätigkeit für Schulkinder auch sein Geltungsdrang, was seine wohl nicht zufällig ausgeplauderten Hoffungen auf einen Orden erklärt.
Bleibt noch die Frage, wofür Abraham 1903 den Orden erhalten hat. Man kann ihn als eine wohlverdiente Auszeichnung für zehn Jahre private Wohltätigkeit betrachten, die ein Jahr zuvor als Fürsorge für arme Juden begonnen hatte, aber von Anfang an offen für alle Hilfsbedürftigen war. Die zehn Jahre Verein für Kindervolksküchen waren ein sinnfälliges Beispiel für die religionsübergreifende Humanität eines assimilierten Juden. Aus heutiger Sicht ist vor allem sein feines Gespür für eine leise Hilfsbedürftigkeit und für die dahinter stehenden gesellschaftlichen Wandlungen bemerkenswert. Er brauchte nicht erst die statistischen Belege, die Berliner Schulärzte erst ab 1900 erhoben und ab 1905 veröffentlichten, sondern er spürte mit seinem Herzen die Hilfsbedürftigkeit von Kindern aus unbemittelten Haushalten oder aus hilflosen Familien, die sich entweder erst kürzlich in der Metropole niedergelassen hatten oder die in der ungewohnten Andersartigkeit der städtischen Hauswirtschaft noch immer unbeholfen waren.Er musste nicht erst das Verbot der Kinderarbeit im Deutschen Reich von 1903, Englands Schulspeisungsgesetz von Ende 1906 oder die Debatte um die deutsche Volksgesundheit nach 1907 abwarten, die Sozialreformern wie Helene Simon oder Emil Münsterberg endlich Rückenwind gab.Ihm ging es nicht um die Bedeutung, die eine hinreichende Ernährung der Kinder für den Staat hatte, sondern um diejenige für deren eigene Gesundheit und Wohlfahrt.
Abraham war ein emotional tief empfindender Mensch, der engagiert seine wohltätigen Ziele verfolgte und auch öffentlich eine klare Position bezog.Für seine Idee nahm er in Kauf, dass er gegen reformfeindliche Armenfürsorger und konservative Politiker kämpfen musste, dass er von seinen Gegnern gar in die Nähe der Sozialdemokratie und des Kommunismus gestellt wurde, und dass er von antisemitischen Kreisen verunglimpft wurde, was manchen bürgerlichen Politiker – zumindest zeitweilig – durchaus verunsichern konnte. Herrmann Abraham war ein deutscher Fürsorgepionier, weil er auf beherzte und pragmatische Weise frühzeitig eine soziale Fürsorge zur Realität werden ließ, die erst ab 1907 zum Gegenstand einer öffentlichen Reformdebatte in Deutschland wurde.
[1] Essay zur Quelle Nr. 2.6, Artikel über Hermann Abraham aus der Staatsbürger-Zeitung (1903).
[2] Ritter, Gerhard A.; Tenfelde, Klaus, Arbeiter im Deutschen Kaiserreich 1871-1914, Bonn 1992; Landwehr, Rolf; Baron, Rüdeger (Hg.), Geschichte der Sozialarbeit. Hauptlinien der Entwicklung im 19. und 20. Jahrhundert, Weinheim und Basel 1983; Tennstedt, Florian, Sozialgeschichte der Sozialpolitik in Deutschland. Vom 18. Jahrhundert bis zum 1. Weltkrieg, Göttingen 1981.
[3] Scarpa, Ludovica, Gemeinwohl und lokale Macht. Honoratioren und Armenwesen in der Berliner Luisenstadt im 19. Jahrhundert, München 1995.
[4] Dehne, Harald, Die fremde arme Welt in der heilen Stadt. Ernährungsdefizite im Übergang, bürgerlicher Missionseifer und die Einbildungen des Berliner Magistrats 1871-1914, in: Kühberger, Christoph; Sedmak, Clemens (Hg.), Aktuelle Tendenzen der historischen Armutsforschung, Münster 2004, S. 127-163.
[5] Wie zum Beispiel bei Albrecht, Heinrich, Handbuch der sozialen Wohlfahrtspflege in Deutschland, Berlin 1902, Teil I, S. 81.
[6] Bergmann, Werner, Geschichte des Antisemitismus, München 2002; Zumbini, Massimo Ferrari, Die Wurzeln des Bösen. Gründerjahre des Antisemitismus: Von der Bismarckzeit zu Hitler, Frankfurt am Main 2003.
[7] Vgl. Quelle Nr.2.6; Dem Verdienste seine Krone, in:Staatsbürger-Zeitung vom 21.8.1903.
[8] Landesarchiv Berlin, A Pr. Br. Rep. 30 Polizeipräsidium Berlin, Tit. 94., Nr. 8748, Bl. 26.
[10] Frerich, Johannes; Frey, Martin, Handbuch der Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland. Bd. 1: Von der vorindustriellen Zeit bis zum Ende des Dritten Reichs, München 1993; Sachße, Christoph; Tennstedt, Florian, Geschichte der Armenfürsorge in Deutschland. Bd. 2: Fürsorge und Wohlfahrtspflege 1871 bis 1929, Stuttgart 1988; Wendt, Wolf Rainer, Geschichte der sozialen Arbeit. Von der Aufklärung bis zu den Alternativen und darüber hinaus, 3. überarb. und erw. Auflage, Stuttgart 1990.
[11] Landesarchiv Berlin (wie Anm. 8), Bl. 56.
[12] Dehne, Harald, „Das Essen wird also auch ‚ambulando‘ eingenommen“. Das ‚belegte Brot‘ und andere schnelle Kostformen für Berliner ArbeiterInnen und ihre Kinder im Kaiserreich, in: Martin Schaffner (Hg.), Brot, Brei und was dazugehört. Sozialer Sinn und physiologischer Wert der Nahrung, Zürich 1992, S. 105-123; Dehne, Harald, Dem Alltag ein Stück näher?, in: Alf Lüdtke (Hg.), Alltagsgeschichte. Zur Rekonstruktion historischer Erfahrungen und Lebensweisen, Frankfurt am Main 1989, S. 137-168, S. 156ff.
[13] Dehne, Harald, „... sitzen völlig nüchtern auf den Bänken der Staatsschule.“ Freie Liebestätigkeit und soziale Disziplinierung im Berlin des Kaiserreichs. in: Mitteilungen aus der kulturwissenschaftlichen Forschung, Heft 37, Berlin 1996, S. 192-215.
[14] Dehne, Harald, Hauptsache: Ordnung. Hungrige Kinder, Schulspeisung und der Berliner Rektorenprotest von 1895, in: Gailus, Manfred; Volkmann, Heinrich (Hg.), Der Kampf um das tägliche Brot. Nahrungsmangel, Versorgungspolitik und Protest 1770-1990, Opladen 1994, S. 258-281.
Literaturhinweise:
Ullrich, Volker, Die nervöse Großmacht. Aufstieg und Untergang des deutschen Kaiserreichs 1871-1918, Frankfurt am Main 1999
Berghahn, Volker Rolf, Das Kaiserreich 1871-1914. Industriegesellschaft, bürgerliche Kultur und autoritärer Staat, Stuttgart 2003
Berding, Helmut, Moderner Antisemitismus in Deutschland, Frankfurt am Main 1988
Nitsch, Meinolf, Private Wohltätigkeitsvereine im Kaiserreich. Die praktische Umsetzung der bürgerlichen Sozialreform in Berlin, Berlin 1999
Allen, Keith R., Hungrige Metropole. Essen, Wohlfahrt und Kommerz in Berlin, Hamburg 2002