Das Handwerk im Umbruch am Beginn des Industriezeitalters
Von Wolfram Fischer
Im „alten Europa“ bildete das Handwerk neben den Bauern die wichtigste „Produktivkraft“. In den größeren Städten waren sie meist in Zünften organisiert und nahmen seit der „Zunftrevolution“ des späten Mittelalters an der Stadtregierung teil. Sie bildeten die städtische Mittelschicht. Aber auch in kleineren Städten und auf dem Lande, wo es eine zünftige Organisation nur rudimentär oder gar nicht gab, waren viele Handwerker tätig. Für die zünftigen Handwerker galten strenge Regeln für Ausbildung und Ausübung ihres Berufes. Dazu gehörte auch die Wanderschaft, die viele junge Handwerker oft jahrelang durch Europa führte. Deutsche Handwerksburschen wanderten nach Skandinavien, nach England oder Frankreich, in die Niederlande oder die Schweiz und nach Österreich, aber auch in die Mittelmeerländer bis hin in das Osmanische Reich und nach Ostmitteleuropa. Vermutlich hunderte haben Reisetagebücher, Briefe oder später Erinnerungen an diese Wanderzeit hinterlassen, von denen einige Dutzend später gedruckt wurden. Die – nachfolgend wiedergegebenen – Auszüge aus den Reisetagebüchern des rheinischen Gerbergesellen Johann Eberhard Dewald (1812-1883), die er in den Jahren 1836 bis 1838 geschrieben hat, sind deshalb von besonderem Reiz, weil sie Beobachtungen eines aus einer traditionellen Meisterfamilie stammenden jungen Mannes über die Veränderungen der wirtschaftlichen und sozialen Umwelt mit dem Anbruch der Industrialisierung reflektieren.Von seinem Vater, einem selbstbewussten Gerbermeister, weiß er, wie sich ein zünftiger Geselle auf Wanderschaft zu benehmen hat. Er muss in den Städten, die er ansteuert, beim Zunftmeister nach Arbeit fragen, wobei er bestimmte Grußformeln zu verwenden hat und ebenso zeremoniell zu begrüßen ist. Ist keine Arbeit für ihn vorhanden, so hat er Anspruch auf ein „Geschenk“ oder „Zeichen“, das heißt auf freie Übernachtung und Wegzehrung, und wird mit guten Wünschen, oft auch dem Rat, wo möglicherweise Arbeit für ihn vorhanden ist, verabschiedet. Dann darf er sich aber auch nicht länger an dem Ort aufhalten, darf nicht herumlungern. Bekommt er Arbeit angeboten, muss er sie annehmen. Wie lange er bleibt, hängt sowohl von seinem Meister wie von ihm ab. Oft sind es nur wenige Tage. Es können aber auch Wochen und Monate und schließlich Jahre daraus werden. Wer wie Dewald aus einem Meisterhaushalt kommt, den er eines Tages erben wird, wird von vorne herein nur eine begrenzte Wanderzeit einplanen, andere, die einen solchen Rückhalt nicht besitzen, werden anstreben, irgendwo als „Altgeselle“ eine ständige Beschäftigung zu finden oder vielleicht sogar eines Tages eine Meistertochter oder Meisterwitwe zu heiraten und sich dann dort niederzulassen. Für beides gibt es vielfältige Zeugnisse.
Es ist in der Forschung umstritten, ob die Wanderschaft vor allem der weiteren Ausbildung nach Beendigung der Lehre diente oder ob sie ein Mittel war, um in einer Welt chronischer Unterbeschäftigung – bei gleichzeitig langer Arbeitszeit mit täglich bis zu 12 Stunden – die Arbeitslosigkeit zu begrenzen bzw. die Arbeitssuchenden selbst für das Finden eines Arbeitsplatzes verantwortlich zu machen. Denn Arbeitsämter gab es nicht, und Arbeitslosen blieb nur übrig, bei kirchlicher oder kommunaler Armenfürsorge vorzusprechen oder zu betteln. Ein zünftiger Handwerksgeselle bettelte nicht. Das war die Norm. Wir wissen jedoch, dass vielen oft gar nichts anderes übrig blieb und manche sich daran gewöhnten, ebenso wie sie sich gewöhnten, obdachlos zu sein oder zu trinken. Dewald gehörte eindeutig zu denjenigen Wanderburschen, die etwas lernen und die Welt sehen wollten und die sich an die zünftigen Regeln hielten. Er konnte es sich auch erlauben, denn er hatte ein Elternhaus im Rücken, in das er jederzeit zurückkehren konnte.
Was Dewald jedoch auf seiner Wanderschaft vorfindet, ist eine teilweise andere, sich wandelnde Welt. Wenn er in große Städte kommt, wird sein Handwerksgruß kaum noch erwidert; vielmehr wird er oft wie ein Bettler behandelt, wenn er um ein „Zeichen“ bittet. Bei den Mitgesellen vermisst er die Solidarität, denn viele arbeiten gar nicht mehr in Handwerksbetrieben, sondern in Fabriken und wohnen nicht mehr im Haus des Meisters, sondern in Schlafsälen. Die Fabrikarbeit, die auch er zeitweise, zum Beispiel in Prag, ausführt, behagt ihm nicht, denn er hat, wenn er den ganzen Tag die gleiche Tätigkeit verrichten muss, das Gefühl, er „triebe sein Gewerb nur halb“. Aber er sieht doch ein: „Muß wohl in einer Fabrik solcherweis geschehen“, und bezeugt damit, dass er offenen Auges durch die Welt geht und nicht nur am Hergebrachten sich orientiert. Womit er aber nicht einverstanden ist – und hier zeigt sich der Meistersohn – ist die Haltung mancher Gesellen und vieler Fabrikarbeiter gegenüber ihrem Arbeitgeber. Da streitet er mit einem mitwandernden Gesellen, weil dieser sein Wort gegenüber dem Meister, die angebotene Arbeit anzunehmen, bricht und lieber weiter wandert, oder er belehrt die Arbeiter, die im Fabrikbesitzer nur den „Reichen“ sehen, dem man ein Schnippchen schlagen kann, dass auch ein Arbeitgeber, ob Meister oder Fabrikant, rechnen müsse, wenn er über die Runden kommen wolle, dass er sein Einkommen keineswegs „arbeitslos“ erziele und dass ihre eigenen Arbeitsplätze gefährdet werden, wenn die Arbeiter den Arbeitgeber betrügen und so möglicherweise in den Bankrott treiben. Wiederum hat er dabei den väterlichen Meisterbetrieb im Blick.
Schon in Bayern hatte er kurze Bekanntschaft damit gemacht, dass in Fabriken andere Sitten herrschten. Als er mit seinem Wandergefährten in einem Gasthaus gegenüber einer Gerberei-Fabrik saß, kamen die „Gesellen“ dieser Fabrik zum Vesperbrot, ohne sie eines Blickes zu würdigen oder gar, wie es in seinen Augen sein sollte, ihnen einen ehrbaren Gruß zu erweisen. Eigentlich hatten die Wanderburschen sich „ordentlich darauf gespitzt, recht ausführlich von ihnen über die Arbeit in solcher großen Werkstatt zu hören“. Aber erst der Werkmeister, bei dem sie wegen eines „Zeichens“ vorsprachen, lud sie ein, die Fabrik zu besuchen. Dewald „wechselte mit jedem Gesellen ehrlichen Gruß, weil es mir leid gewesen wäre, den zünftigen Brauch zu missachten, den mir der Herr Vater auf die Seele gebunden, nie ohne Not zu verletzen“ Nicht besser erging es ihm in München. „Der Handwerksbrauch scheint hier auch ganz ausgestorben zu sein“, notierte er in einem Tagebuch, „wo die meisten in Fabriken arbeiten, wie sie sich allerorten jetzt etablieren, und unter Gesellen kein Zusammenhang mehr zu finden ist. Mußte es also wohl daran geben, in München zu konditionieren“, das heißt eine Arbeit anzunehmen.
Noch etwas anderes treibt den wandernden Gesellen um, der sich nicht als Proletarier versteht, sondern „stolz auf sein Metier“ ist und niemals verleugnen will, „ein Wandergesell und ein Gerber zu sein!“ Im Kontakt zu anderen bürgerlichen Gruppen, etwa zu gleichaltrigen Studenten, den er durchaus sucht, stellt er fest, dass die bürgerlichen Freiheiten im nachnapoleonischen Europa Beschränkungen unterliegen. Handwerksburschen pflegten in der vorrevolutionären Zeit Staatsgrenzen ohne große Formalitäten zu überschreiten. Das war nun anders. Die Polizei kontrollierte überall. Die Handwerksburschen sahen das als Schikane an. Erst als Dewald in Freiburg bei Feiern der studentischen Burschenschaft Opfer eines Polizeieinsatzes wurde, erkannte er einen politischen Hintergrund. Die entwürdigende Behandlung durch die Freiburger Stadtsoldaten kränkte seine Ehre: „Was sollten die zu Hause denken, die Eltern und Jungfer Theres!“ Nachdem die Handwerksburschen ihre Wanderbücher, die sie in der Herberge gelassen hatten, am nächsten Tag vorlegen und sich damit als wandernde Gesellen ausweisen konnten, wurden sie zwar freigelassen, nicht ohne jedoch vorher auf Krätze untersucht zu werden, wobei sie sich nackt ausziehen mussten, eine andere Arte der Entwürdigung, der wandernde Gesellen – vermutlich nicht ganz grundlos – öfters unterworfen wurden. „Dies alles aber, weil wir mit den Studenten ein Lied auf das ganze Deutschland gesungen hatten! Machen es einem wahrlich nit leicht, auf sein Vaterland stolz zu sein, soll mir aber nichts nit die Liebe zu meiner Heimat aus dem Herzen reißen!“ Und als die Studenten die weiter wandernden Gesellen mit ihren deutschen Liedern begleiteten und sie in einem Dorfgasthaus „tractierten“, ihnen also ein „ordentliches Frühstück“ vorsetzten, machte ihm „die herzliche Brüderlichkeit der Studenten zu uns wandernden Gesellen das Blut recht warm“.
Doch blieb eine gewisse Distanz zu den Bildungsbürgern. Als die Gesellen beim Eintritt nach Bayern bei Lindau noch einmal polizeiliche Kontrollen über sich ergehen lassen mussten mit erneuter Kontrolle auf Krätze, dem Vorzeigen von Reisegeld und den drohend klingenden Hinweis, „daß wir in Bayern wären und nit irgendwo auf der Welt“, meint er zwar: „Diese ewigen Grenzen im Deutschen Reich sind wahrhaft vom Teufel erfunden“, aber er findet im Rückblick auf das übermütige Treiben der Freiburger Studenten auch: „Das faule Reden allein ändert nichts nit, und die Neunmalweisen haben die Welt noch keine Elle voran gebracht.“
Schlimmer noch traf Dewald es in Italien an. In Mailand fand er „das gleiche Elend mit den Gesellen, wie überall in der letzten Zeit. Die meisten Einlogierten glichen in keiner Weise ordentlichen Gesellen, schienen mir auch ihre Profession nit zu ehren und führten sich nit nach der Zunft auf. Keine Frage nach woher und wohin, dabei aber ein wüster Spektakel in ordinärster Art. Der alte Handwerksbrauch ist hier ganz im Schwinden. Kein Zusammenhalt und die übelste Aufführung. Glich doch die Herberge vielmehr einer Spelunke als einer ordentlichen Unterkunft.“ Und in den Fabriken hielt man ihn wieder für einen Bettler, wenn er um ein „Zeichen“ nachkam. „Ist schon ganz geschwunden, daß der Gesell ein Recht auf ein zünftiges Zeichen hat, und steht da als ein Faulenzer, so man vorspricht. Habe es dran gegeben, weil ich lieber hungern wollte, als solche Unehre zu ertragen. Ist aber noch nit soweit und hab noch Gulden in der Tasch.“
Als Dewald über die Schweiz wieder nach Deutschland wollte, geriet er erneut in die Turbulenzen des erwachenden Nationalismus und der staatlichen Unterdrückungsmaschinerie gegenüber solchen Bestrebungen. 1832 hatte der im Jahr zuvor aus dem Königreich Piemont ausgewiesene Advokat Giuseppe Mazzini (1805-1872) den Geheimbund „La giovine Italia“ (Das junge Italien) gegründet und 1834 in Bern „La giovine Europa“ mit Gruppen aus italienischen, deutschen und polnischen Emigranten in der Schweiz. Mazzini forderte den Aufstand der Italiener als Initiative zum Aufstand des jungen Europa der Völker gegen das alte Europa der Monarchen. Fortan galt die Schweiz für die norditalienischen Behörden als gefährlich, und junge Leute, die dorthin wollten, wurden scharf kontrolliert. Als Dewald sich in Como als ordentlicher Handwerksgeselle nach der Schweiz „visieren“ lassen, das heißt dies in sein Wanderbuch eintragen lassen wollte, musste er sich strengen Verhören unterziehen und notierte in sein Tagebuch: „Muß doch aber ein gefährlich Stück Erde sein, die Schweiz, und hätte meintag nit für möglich gehalten, soviel Schwierigkeiten zu finden“. Obwohl schließlich ordnungsgemäß visiert, wurde er von zwei Grenzposten „hart angelassen und auf meine Erwiderung hin einfach arretiert und unter Eskorte von zwei Grenzpolizisten, die zu meiner besseren Bewachung ihre Musketen schußbereit hielten, nach Como zurückgebracht. Man beratschlagte gewaltig, ob man mich in Mayland einliefern sollte, hatte aber Angst derwegen, da ich mit der Zeit gute Übung gewonnen hatte und auf mein ordentlich visiertes Wanderbuch vertraute. War denn auch richtig, und nach groben Unfreundlichkeiten durfte ich meines Weges ziehen.“
Erst als er wieder in Süddeutschland eintraf, fand er die alten Bräuche noch in Kraft. Zugleich aber war er neugierig auf das Neue: Die Eisenbahn. Hatte er sie schon in Österreich ausprobiert, so setzte er nun einen extra Tag an, um mit der ersten deutschen Eisenbahn von Fürth nach Nürnberg und zurück zu fahren, was ihm mächtig imponierte, und er sinnierte über die Vor- und Nachteile der neuen Zeit: Ein Handwerksgeselle war an der Schwelle des Industriezeitalters angekommen.
[1] Essay zur Quelle Nr. 1.1, Reiseerinnerungen und Reflexionen eines rheinischen Gerbergesellen 1836/38.
[2] Vgl. Quelle Nr. 1.1. Die hier zugrundegelegte Quelle ist erstmals publiziert worden in: Biedermeier auf Walze. Aufzeichnungen und Briefe des Handwerksburschen Johann Eberhard Dewald 1836-1838, hg. v. Georg Maria Hofmann, Berlin 1936. Auszugsweise abgedruckt bei Fischer, Wolfram, Quellen zur Geschichte des deutschen Handwerks. Selbstzeugnisse seit der Reformationszeit, Göttingen 1957, S. 123-135. In diesem Band sind überdies weitere Auszüge aus siebzehn solcher Reiseberichte veröffentlicht.
Literaturhinweise:
Engelhardt, Ulrich (Hg.), Handwerker in der Industrialisierung. Lage, Kultur und Politik vom späten 18. Jahrhundert bis ins frühe 20. Jahrhundert, Stuttgart 1984
Fischer, Wolfram, Das deutsche Handwerk in den Frühphasen der Industrialisierung, in: Ders., Wirtschaft und Gesellschaft im Zeitalter der Industrialisierung, Göttingen 1972, S. 315-337
Lenger, Friedrich, Sozialgeschichte des deutschen Handwerks seit 1800, Frankfurt am Main 1988
Pierenkemper, Toni, Gewerbe und Industrie im 19. und 20. Jahrhundert, München 1994
Stadelmann, Rudolf; Fischer, Wolfram, Die Bildungswelt des deutschen Handwerkers um 1800, Berlin 1955