Liberalismus in Russland.

Die Geschichte der großen Umwälzungen in Russland zu Beginn des 20. Jahrhunderts ist wieder in Bewegung geraten. Wenn es noch eines weiteren Belegs für die Zeit- und Perspektivenabhängigkeit historischer Forschungsinteressen bedurfte – das Ende der kommunistischen Welt hat ihn erbracht. Ganz gleich, ob die neokantianische Vorstellung von den „höchsten Wertideen“, die ihr „Licht [...] auf einen stets wechselnden endlichen Teil des ungeheuren chaotischen Stromes von Geschehnissen“ werfen, auch solch profane Schleuderbewegungen des Zeitgeists gemeint hat, der Wandel liegt auf der Hand.[...]

Liberalismus in Russland[1]

Von Manfred Hildermeier

Die Geschichte der großen Umwälzungen in Russland zu Beginn des 20. Jahrhunderts ist wieder in Bewegung geraten. Wenn es noch eines weiteren Belegs für die Zeit- und Perspektivenabhängigkeit historischer Forschungsinteressen bedurfte – das Ende der kommunistischen Welt hat ihn erbracht. Ganz gleich, ob die neokantianische Vorstellung von den „höchsten Wertideen“, die ihr „Licht [...] auf einen stets wechselnden endlichen Teil des ungeheuren chaotischen Stromes von Geschehnissen“ werfen[2], auch solch profane Schleuderbewegungen des Zeitgeists gemeint hat, der Wandel liegt auf der Hand. Dabei lässt sich sogar eine „Heftigkeitsrelation“ beobachten, die mit dem Charakter dessen zusammenhing, was in den Fluten unterging. Mit dem Sowjetregime verschwanden der Monopolanspruch seiner Ideologie und die Vorgaben und Tabus für die Geschichtswissenschaft. Unpersonen wurden wieder Personen, Russland erhielt die andere Hälfte seiner Vergangenheit zurück. Man brauchte und braucht sie für eine neue Zukunft.

Zu den wiederentdeckten Erscheinungen der russischen Geschichte gehört nicht zuletzt der Liberalismus. Dabei sollte man mit dem Begriff weiterhin sehr vorsichtig umgehen.[3]Er bleibt eine Aushilfe, die mehr vom westeuropäischen Ursprung transportiert als gerechtfertigt ist. Denn was in Russland als liberal galt, entstand nicht nur fast ein halbes Jahrhundert später als vergleichbare Ideen in Mitteleuropa. Gruppen und Bewegungen, die sie zu Grundgedanken ihrer öffentlich-politischen Aktivitäten erhoben, mussten auch erhebliche Kompromisse eingehen. Die Konfrontation mit einem absolutistischen Regime war dabei noch eines der ähnlichsten Merkmale. Auch im Mitteleuropa der Restaurationszeit führte die Forderung nach politischer Freiheit und Demokratie zwangsläufig zum Konflikt mit einer Herrschaft, die sie nicht zulassen konnte, ohne sich selbst aufzugeben. Als Extremform unbeschränkter Herrschaft entfaltete die Autokratie jedoch über Jahrhunderte eine solche Kraft, dass sie liberale Strömungen im geistigen und politischen Leben auch inhaltlich stark einengte.

Zum einen trocknete sie den Boden aus, auf dem solche Ideen hätten florieren können. Ein Aufklärer wie Alexander Radišcev, der sich für die Menschenwürde und Freiheit auch der Bauern einsetzte, wurde nach Sibirien verbannt, sein Werk eingestampft.[4]Sympathisanten französischer Ideen in der nachrevolutionären Epoche, die Dekabristen, scheiterten mit ihrem Komplott vom Dezember 1825 kläglich.[5]Schon ihre Programme hatten mit liberalen Kernideen wie parlamentarischer Kontrolle, einem Wahlrecht auch für Unterschichten oder gar dem Ideal einer politisch egalitären Gesellschaft wenig zu tun. Was sie wollten, war im Wesentlichen eine verfassungsmäßige Beschränkung des Monarchen. Auch der „Adelsliberalismus“ der späten 1850er Jahre[6]hatte bestenfalls die soziale Emanzipation der Bauern im Sinne der Herstellung ihrer persönlichen Freiheit und Entlassung aus der Leibeigenschaft (das heißt Hörigkeit, nicht Sklaverei) zum Ziel. Politisch blieb er äußerst bescheiden, war mit den ständischen, von ihm selbst beherrschten Gremien der begrenzten „Selbstverwaltung“, wie sie 1864 als zemstva eingerichtet wurden[7], im Kern zufrieden und wünschte sich darüber hinaus höchstens eine gesamtstaatliche Dachorganisation, die dem Herrscher hätte zur Seite treten sollen. Dieser korporativ bestellten „Beratung“ – wie man den alten russischen Begriff duma für Parlament übersetzen sollte – tatsächliche Kontroll- und Partizipationsrechte zu geben, wäre den meisten schon zu weit gegangen. Auch der Adel war über Jahrhunderte in der Autokratie groß geworden.

Dennoch: Wenn überhaupt eine – noch ständisch verfasste – Schicht im Zarenreich über die Voraussetzungen verfügte, verfassungs- und gesellschaftspolitische Ideen zu entwickeln und in die entstehende Öffentlichkeit zu transportieren, war es die der Wohlgeborenen und der – in der Regel im Zivil- und Militärdienst stehenden – Nobilitierten. Insofern gilt wie für Polen auch für Russland, dass der Adel Funktionen erfüllte, die in Westeuropa von städtisch-bürgerlichen Schichten wahrgenommen wurden. Das hatte nicht nur damit zu tun, dass Russland nach wie vor ein großes Dorf mit wenigen, ökonomisch kaum entwickelten Städten und noch weniger wirtschaftlich erfolgreichen und gebildeten Bewohnern war. Hinzu kam, dass der Adel im autokratischen Staat selber von politischer Teilhabe ausgeschlossen war. Zum „kulturellen Kapital“ gesellten sich Interessen – und ein privilegierter Zugang zu westlichen Ideen, die es erlaubten, sie in politische Forderungen zu kleiden. So ausgestattet, wurde der Adel zum wichtigsten Promotor liberaler Anschauungen und Politik in Russland vor der Jahrhundertwende.

Seit den 1890er Jahren kam mit wachsender Sichtbarkeit eine zweite Kraft hinzu. Zur kulturellen Verwestlichung und sozialen Modernisierung des Reiches gehörte der verstärkte Ausbau des Schul- und Universitätswesens. Durch Prämien in Gestalt verkürzter Dienstzeiten gab vor allem die Militärreform von 1874 dem Bildungsdrang einen starken Impuls. Erhöhte technische Anforderungen in der Industrie, der wachsende Bedarf an Rechtsanwälten, Ärzten, Lehrern, Agronomen und ähnlichen Berufen mehr legten das Fundament für die Entstehung einer neuen Schicht akademisch Qualifizierter. Diese Intelligenz (im breiten soziologischen Wortsinn) zeigte von Anfang an eine große Vorliebe für liberale Ideen. Sie litt in besonderem Maße an der Diskrepanz zwischen ihrer geistigen Orientierung am Westen und ihrer politischen Rechtlosigkeit, wobei offen bleiben mag, welche Rolle ihre bescheidene materielle Lage spielte. In der deutschen Emigration entstand 1902 eine Gruppe mit dem bezeichnenden Namen „Befreiung“, die eine gleichnamige Zeitschrift herausgab (Osvoboždenie). Sie wurde zum Kristallisationspunkt der zweiten Strömung im russischen Liberalismus, als dieser während des russisch-japanischen Krieges 1904 zu einer landesweiten Oppositionsbewegung anschwoll. Neben den Adelsliberalismus in den zemstva trat ein Liberalismus der Intelligenz. Dieser war radikaler. Er forderte ein allgemeines und gleiches Wahlrecht (das aber Frauen ausschloss) und ein auf diese Weise gewähltes Parlament als alleinige Legislative, der die Regierung verantwortlich sein sollte.[8]

Diese beiden Lager waren klar erkennbar, hatten sich aber organisatorisch noch nicht verselbständigt, als jene Kette von Streiks und Protesten immer weiterer Kreise der Bevölkerung einsetzte, die bald als erste Russische Revolution bezeichnet wurde. Sie begann mit den Schüssen der Wache auf einen Zug friedlich demonstrierender Arbeiter vor dem Winterpalast am „Blutsonntag“, dem 9. Januar 1905. Sie setzte sich fort in wochenlangen Streiks gegen diese sinnlose Brutalität und die Autokratie generell, denen sich im Laufe des Sommers fast alle der neu entstehenden Berufsverbände der Intelligenz, von den Apothekern bis zu den Professoren, sowie der Bauernverband anschlossen. Als in Moskau am 6. Oktober ein Generalstreik begann und auch die Bauern die gutsherrlichen Höfe mit vermehrter Heftigkeit plünderten – da ging die Autokratie, vom verlorenen Krieg gegen Japan erschöpft und getroffen, in die Knie und lenkte ein. Widerwillig fügte sich der Zar dem Zwang, das Manifest vom 17. Oktober zu verkünden.[9]

Dessen Inhalt lässt sich in wenigen Worten zusammenfassen. Zum einen gewährte Nikolaus II. einige grundlegende Menschen- und Bürgerrechte: die Unverletzlichkeit der Person, Religionsfreiheit, die Freiheit des Wortes, der Versammlung und der Koalition. Zum anderen musste er die Ausweitung des Wahlrechts auf die Arbeiter zusagen, die vom letzten Versuch, die Aufständischen zu beruhigen, dem Gesetz über die so genannte Bulyginsche Duma vom 6. August 1905, übergangen worden waren. Und drittens versprach er die Einberufung eines Parlaments (Duma) auf Reichsebene, die ein obligatorisches Mitwirkungsrecht an jedem Gesetz und ausreichend Kompetenzen erhalten sollte, um die „Gesetzmäßigkeit“ des Regierungs- und Verwaltungshandelns überwachen zu können.

Solche Vorschläge stießen auf ein geteiltes Echo. Den Sozialisten gingen sie ohnehin nicht weit genug; sie riefen nach uneingeschränkter Demokratie und betrachteten die politische Freiheit, deren Priorität sie zu dieser Zeit zustimmten, nicht nur als Voraussetzung, sondern auch als Verpflichtung zur Herstellung sozialer Gleichheit. Aber auch die Liberalen waren uneins. Den meisten der gemäßigten Zemstvo-Liberalen reichten die Zugeständnisse aus. Sie hatten nicht ernsthaft mit mehr gerechnet und wollten im Wesentlichen eines: die „Straße“ beruhigen und die gute Ordnung wiederherstellen. Viele wären sogar mit einer verbrieften Beratungsfunktion der Duma nach Art der „Landesversammlungen“ des 17. Jahrhunderts zufrieden gewesen; schließlich hatte der Zar selbst solche Veranstaltungen mehrfach abgelehnt. Die Sympathisanten dieser Position verzichteten daher darauf, einen eigenen Forderungskatalog auszuarbeiten. Sie versammelten sich hinter dem Oktobermanifest und nannten die Partei, die sie Anfang Dezember förmlich begründeten, programmatisch „Verband des 17. Oktober“.[10]Der Autokrat hatte seinen Adel und seine Großunternehmer – dies die zweite soziale Stütze der Liberalkonservativen – erhört. Weitergehende Partizipationsrechte der Gesellschaft wollte man nicht. Die „Oktobristen“ waren moderate Konstitutionalisten.

Dagegen waren die Linksliberalen enttäuscht. Sie hatten sich bezeichnenderweise schon in den letzten Tagen des Generalstreiks als „Partei der Volksfreiheit“ oder „Konstitutionellen Demokraten“ (abgekürzt: K.D. oder Kadetten) konstituiert.[11]Sie begriffen sich zu dieser Zeit als radikale Demokraten, deren Ziele mit der Fortexistenz auch einer „beschränkten Autokratie“ nicht vereinbar waren. Insofern verdienen sie die Bezeichnung „revolutionär“, auch wenn sie Gewalt als Mittel der Politik ablehnten und ihr Programm auf legalem Wege umsetzen wollten. Eben deshalb vermissten sie im Oktobermanifest jene Zusagen, die eine wirkliche Parlamentarisierung eingeleitet und die Souveränität vom Monarchen auf eine legitime Volksvertretung übertragen hätte. Wohlweislich stellte der Zar nur nebulös in Aussicht, dass sich kompetente Gremien Gedanken über die „weitere Entwicklung des Grundsatzes des allgemeinen Wahlrechts“ machen würden; dieses selbst, das sich die Kadetten als gleiches, von Stimmengewichtung freies vorstellten, versprach er nicht. Und auch von einer „Konstituierenden Versammlung“ als demjenigen Gremium, das in liberaldemokratischer Sicht allein legitimiert sein würde, eine Verfassung auszuarbeiten, war nicht die Rede. Konsequente Liberale konnten mit solchen Zugeständnissen nicht zufrieden sein. Dies band sie nicht nur an die Arbeiter und Bauern, denen sie schon in der ersten Revolution mit großer Skepsis begegneten, sondern auch an die revolutionären Parteien, ohne die jene misstrauisch beäugten Bundesgenossen kaum zu mobilisieren waren. So drückte die Autokratie (im umfassenden Wortsinn als Gesamtsystem) dem russischen Liberalismus auf mindestens dreifache Weise ihren Stempel auf: Sie verlangsamte seine Entwicklung und vermittelte ihm ein stark adeliges Gepräge; die ihr abgerungenen, zur temporären Befriedung der Lage soeben ausreichenden Konzessionen bildeten den Auslöser für seine Spaltung; und sie schuf eine Konstellation, die von einer tiefen Kluft zwischen dem Liberalismus beiderlei Couleur als politisch-geistigem Milieu und dem revolutionären Sozialismus geprägt war, zugleich aber dem radikalen Liberalismus weitgehend die Möglichkeit nahm, seine Ziele ohne sozialistische Bündnispartner zu verwirklichen.

Mit dieser Ausgangsposition hatten die russischen Liberalen sehr unterschiedliche Voraussetzungen, an der veränderten politischen Ordnung mitzuwirken. Die Kadetten blieben eine Partei der Revolution. Solange die Autokratie ein Wiederaufleben der Unruhe fürchtete, konnten sie vergleichsweise ungehindert agieren. Sie stellten die mit Abstand stärkste Fraktion in den ersten beiden Dumen der Jahre 1906-07.[12]Ihre Redner beherrschten deren Debatten. Ihre Vorschläge zur Agrarreform, dem drängendsten Problem der alten Ordnung, bestimmten die politische Tagesordnung. Als sich das alte Regime aber erholt hatte, als es sich seines Sieges sicher war, vertagte es die Duma und dekretierte eine Wahlrechtsänderung, die Grundbesitz prämierte und Pavel Miljukov und seine „Intelligenzler“-Partei zu einer bedeutungslosen Minderheit degradierte. Ihr Verbot und die Beobachtung durch eine wiedererstarkte Geheimpolizei trockneten auch ihre ohnehin nicht große Anhängerschaft in der Provinz aus. Das Bewusstsein dieser Schwäche mochte dazu beitragen, dass sie sich auch inhaltlich zähmten. Vor allem im Nationalismus auf Kosten der alten Forderung nach Selbstbestimmung auch der nichtrussischen Reichsvölker entstand mehr Gemeinsamkeit mit der Autokratie, als je denkbar schien.

Genau das umgekehrte Schicksal widerfuhr den Oktobristen. Zu konservativ für die Revolutionszeit, erkor sie der Ministerpräsident der nachfolgenden Jahre, Petr Stolypin, zu einer der beiden Parteien, mit deren Hilfe er seiner Politik in der Duma eine Mehrheit zu verschaffen suchte. Auch wenn er dem Parlament formal nicht verantwortlich war und auf der „Selbstherrschaft“ der zarischen Regierung bestand und obgleich er in der Partei der gemäßigten Rechten eine Alternative hatte, wurden die Oktobristen durch sein „System“ aufgewertet. Stolypin verschaffte ihnen Bedeutung im politischen Prozess – die sie bald einbüßten, nachdem er im September 1911 ermordet worden war.[13]

Linke und rechte Liberale erlebten im Weltkrieg eine Renaissance. In dem Maße, wie der alte Staat vor allem an der Heimatfront, in der Invalidenfürsorge, in der Organisation der Kriegswirtschaft und in der Sicherung der Nahrungsmittelversorgung versagte, wuchsen Macht und Prestige der zemstva und verwandter städtischer Selbstverwaltungsorganisationen. Sie verwalteten das Land faktisch und bewahrten es vor dem Zusammenbruch. In ihnen aber gaben die Liberalen den Ton an; sie waren aufs engste mit deren Fraktionen in der Duma verbunden.[14]So lag eine erhebliche Zwangsläufigkeit darin, dass die Arbeiter und Soldaten, die das Ancien Regime in der letzten Februarwoche 1917 durch ihre Proteste zum Einsturz brachten, die Reklamierung der neuen Souveränität durch die führenden liberalen Oppositionspolitiker akzeptierten. Für zwei Monate war Russland ein allein von Liberalen regiertes Land. Danach, seit Ende April, mussten sie die Macht mit den moderaten Sozialisten teilen, mit denen zusammen sie im Oktober, gewiss nicht ohne eigenes Verschulden, durch den bolschewistischen Staatsstreich gestürzt wurden.

Reichte der Liberalismus mithin bis Russland und wäre er beinahe doch zum Zug gekommen? Zunächst muss man festhalten, dass es ein spezifischer Liberalismus war. Er nahm spät, während der „Großen Reformen“ der 1860er Jahre, Kontur an, verbreitete sich zunächst im politisch aktiven Provinzialadel und hatte in ihm auch weiterhin eine starke Stütze. In dieser Form war er in erheblichem Maße autochthonen Gedanken von einem adeligen Mitregiment verpflichtet, die er gleichsam konstitutionell zuspitzte, ohne nach westlicher Art demokratische Forderungen zu erheben. Das wirtschaftsbürgerliche Element, das in der ersten Revolution hinzutrat, war sichtbar, in einigen Personen sogar prominent, aber nicht dominant und sammelte sich fast ausschließlich in seinem konservativen Lager, bei den Oktobristen. Auf der Gegenseite formierte sich die akademische Intelligenz, die große Prägekraft entfaltete, das demokratische Programm des frühen, revolutionären europäischen Liberalismus weitgehend übernahm und seinen linken Flügel beinahe ausschließlich repräsentierte. Früh wurde der russische Liberalismus – wie der deutsche der Revolution von 1848 – gezwungen, Stellung zur sozialen Frage zu beziehen. Dies ist ihm immer schwerer gefallen, weil die soziale Grenzlinie in Russland nicht zuletzt eine kulturelle war. Die Angst vor dem „Mob“ der Städte und den „dunklen Massen“ auf dem Dorf aber vermochte auch die gebildete Gesellschaft nicht abzuwerfen. So kam es zu einem Paradox: Wohl nirgendwo im Europa des 19. und 20. Jahrhundert erhielt der politische Liberalismus (mit beiden Lagern und Parteien) eine so große Chance und ein so großen Vertrauensvorschuss, eine neue politische Ordnung und eine neue Politik zu begründen. Wohl nirgends hatte er so unversöhnliche Feinde, und wohl nirgends scheiterte er so gründlich – an diesen, vor allem aber an seiner Unfähigkeit, Rezepte für die Lösung der „sozialen Frage“ zu finden.

Freilich werden die Stimmen derer immer lauter, die davor warnen, das Schicksal des parteipolitisch organisierten Liberalismus mit den Chancen für eine Alternative zur bolschewistisch-sozialistischen Revolution gleichzusetzen. Sie stützen sich vor allem auf die Verfassungswirklichkeit und den politischen Prozess, so wie er auf der Grundlage des Oktobermanifests und der nach seinen Vorgaben ausgearbeiteten Verfassung vom 23. April 1906 Gestalt annahm. Was der Zar, so könnte man den Kerngedanken dieser Einwände kennzeichnen, zuließ, war wenig. Aber der reale politische Prozess ging im Buchstaben der „Grundgesetze“ nicht auf. Er entwickelte eine Eigendynamik, die den Begriff der Autokratie zu einer leeren Formel machte. Nicht nur genehme Parteien bestanden nach 1907 fort, sondern trotz verweigerter Registration, das heißt förmlicher Legalisierung, auch die Kadetten. Das Parlament wurde zwar mehrfach entlassen und durch Wahländerung in seiner Zusammensetzung verändert. Aber es schlug als Einrichtung und Vertrauensträger so tiefe Wurzeln, dass niemand mehr daran denken konnte, es abzuschaffen. Eine Presse entstand, die bunter war, als den Zensoren lieb sein konnte. Parlament, Parteien und Zeitungen schufen eine Öffentlichkeit, die mit wachsender Selbstverständlichkeit zum Forum der Erörterung wichtiger politischer Entscheidungen wurde. Politik trat aus dem Arkanum von Ministerien und zarischen Kanzleien heraus und wurde publik. Mit wachsender Aufmerksamkeit nahm daran auch die politische Elite der Provinz teil, die zugleich mehr und mehr Interesse an der Regelung der sie unmittelbar betreffenden Angelegenheiten, an Regional- und Kommunalpolitik entwickelte. In diesem Wandel: im zivilgesellschaftlichen Eigenengagement im Umkreis der Duma, der Parteien, gouvernementaler und städtischer Selbstverwaltungsorgane, der Presse und einer Vielzahl anderer „gesellschaftlicher Organisationen“ (als russische Bezeichnung für Vereine und Klubs) lag eine in den letzten Jahrzehnten wohl unterbewertete Chance, dass Russland einen anderen Ausweg aus der tiefen Krise hätte finden können, in die es infolge einer wachsenden Diskrepanz zwischen sozioökonomischem Wandel, sozialer Mobilisierung, kultureller Verwestlichung und geringer Reformbereitschaft einer nichtpartizipatorischen politischen Ordnung geraten war.[15]

 



[1] Essay zur Quelle Nr. 5.1, Das Oktobermanifest vom 30. Oktober 1905.

[2] Weber, Max, Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, hg. v. Winckelmann, Johannes, 4. neu durchges. Aufl., Tübingen 1973, S. 213f.

[3] Anders als: Leontovitsch, Victor, Geschichte des Liberalismus in Russland, Frankfurt am Main 1957; dagegen: Löwe, Heinz-Dietrich,Bürgertum, liberale Bewegung und gouvernementaler Liberalismus im Zarenreich um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, in: Langewiesche, Dieter (Hg.), Liberalismus im 19. Jahrhundert. Deutschland im europäischen Vergleich, Göttingen 1988, S. 515-533.

[4] Vgl. De Madariaga, Isabel, Russia in the age of Catherine the Great, New Haven 1981, S. 532ff.; Walicki, Andrzej, A history of Russian thought from the enlightenment to Marxism, Oxford 1980, S. 35ff.; McConnell, Allen, A Russian philosophe Alexander Radishchev 1749-1802, Den Haag 1964.

[5] Vgl. Mazour, Anatole G., The first Russian Revolution 1825. The Decembrist Movement. Its origins, development and significance, Stanford 1961; Raeff, Marc (Hg.), The Decembrist Movement, Englewood Cliffs 1966.

[6] Vgl. Löwe (wie Anm. 3).

[7] Vgl. Emmons, Terence; Vucinich, Wayne S. (Hg.), The zemstvo in Russia. An experiment in local self-government, Cambridge 1982; Philippot, Robert, Société civile et état bureaucratique dans la Russie tsariste: Les zemstvos, Paris 1991.

[8] Vgl. u.a. Galai, Shmuel, The liberation movement in Russia 1900-1905, Cambridge 1973; Fröhlich, Klaus, The emergence of Russian constitutionalism 1900-1904. The relationship between social mobilization and political group formation in pre-revolutionary Russia, Den Haag 1981; Pipes, Richard, Struve. Liberal on the left 1870-1905, Cambridge/ Mass. 1970, S. 308ff.

[9] Vgl. Quelle Nr. 5.1; sowie Ascher, Abraham, The revolution of 1905. Russia in disarray, Stanford 1988, S. 211ff.; Mehlinger, Howard D.; Thompson, John M., Count Witte and the tsarist government in the 1905 revolution, Bloomington 1972, S. 29ff.

[10] Vgl. u.a. Emmons, Terence, The formation of political parties and the first national elections in Russia, Cambridge/Mass. 1983, S. 206ff.; Manning, Roberta T., The crisis of the old order in Russia. Gentry and government, Princeton 1982, S. 177ff.; Birth, Ernst, Die Oktobristen 1905-1913. Zielvorstellungen und Struktur, Stuttgart 1974.

[11] Als Ersatz für eine fehlende Parteigeschichte aus nichtrussischer Feder vgl. Stockdale, Melissa K., Paul Miliukov and the quest for a liberal Russia, 1880-1918, Ithaca 1996; Programm bei: Scheibert, Peter (Hg.), Die russischen politischen Parteien von 1905-1917. Ein Dokumentationsband, Darmstadt 1972, S. 60-68.

[12] Vgl. Emmons (wie Anm. 10); Dahlmann, Dittmar, Die Provinz wählt. Rußlands Konstitutionell-Demokratische Partei und die Dumawahlen 1906-1912, Köln 1996; Maklakov, Vasilij A., The First State Duma. Contemporary reminiscences, Bloomington 1964; Stockdale, Miliukov (wie Anm. 11).

[13] Vgl. u.a. Pinchuk, Ben-Cion, The Octobrists in the Third Duma 1907-1912, Seattle 1974; Ascher, Abraham, P.A. Stolypin: the search for stability in late imperial Russia, Cambridge 2001; Hosking, Geoffrey A., The Russian constitutional experiment: Government and Duma 1907-1914, Cambridge 1973; Levin, Alfred, The Third Duma. Election and profile, Hamden 1973.

[14] Vgl. u.a. Pearson, Raymond, The Russian moderates and the crisis of tsarism 1914-1917, London 1977; Hamm, Michael F., Liberal politics in wartime Russia. An analysis of the progressive bloc, in: Slavic Review 33 (1974), S. 453-468; Stockdale, Miliukov (wie Anm. 11).

[15] Vgl. u.a. Szeftel, Marc, The Russian constitution of April 23, 1906. Political institutions of the Duma monarchy, Brüssel 1976; Hagen, Manfred, Die Entfaltung politischer Öffentlichkeit in Rußland 1906-1914, Wiesbaden 1982; Bönker, Kirsten, Akteure der Zivilgesellschaft vor Ort? Presse, Lokalpolitik und die Konstruktion von "Gesellschaft" im Gouvernement Saratov 1890-1917, in: Bauerkämper, Arnd (Hg.), Die Praxis der Zivilgesellschaft. Akteure, Handeln und Strukturen im internationalen Vergleich, Frankfurt am Main 2003, S. 77-104; Häfner, Lutz, Gesellschaft als lokale Veranstaltung. Die Wolgastädte Kazan’ und Saratov (1870-1914), Köln 2004; Hausmann, Guido (Hg.), Gesellschaft als lokale Veranstaltung. Selbstverwaltung, Assoziierung und Geselligkeit in den Städten des ausgehenden Zarenreiches, Göttingen 2002; Hildermeier, Manfred, Liberales Milieu in russischer Provinz. Kommunales Engagement, bürgerliche Vereine und Zivilgesellschaft 1900-1917, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 51 (2003), S. 498-548.

 


Literaturhinweise:

  • Birth, Ernst, Die Oktobristen 1905-1913. Zielvorstellungen und Struktur, Stuttgart 1974
  • Emmons, Terence, The formation of political parties and the first national elections in Russia, Cambridge /Mass. 1983
  • Fröhlich, Kaus, The emergence of Russian constitutionalism 1900-1914. The relation between social mobilization and political group formation in pre-revolutionary Russia, Den Haag 1981
  • Galai, Shmuel, The Liberation Movement in Russia 1900-1905, Cambridge 1973
  • Pinchuk, Ben-Cion, The Octobrists in the Third Duma 1907-1912, Seattle 1974
  • Stockdale, Melissa K., Paul Miliukov and the quest for a liberal Russia 1880-1918, Ithaca 1996

Das Oktobermanifest des Zaren Nikolaus II. (30. Oktober 1905)[1]

Die Wirren und Aufregungen in den Hauptstädten und in vielen Gegenden Unseres Reiches erfüllen Unser Herz außerordentlich mit großem und schwerem Leid. Das Wohl des russischen Zaren ist untrennbar von dem Wohle des Volkes, und die Trauer des Volkes ist seine Trauer. Aus den jetzt entstandenen Erregungen kann eine tiefe Unordnung im Volke und eine Bedrohung der Einheit des Allrussischen Reiches hervorgehen.

Das große Gelübde des Zarenamtes gebietet Uns, mit allen Kräften des Verstandes und der Macht nach der schnellsten Beendigung dieser für das Reich so gefährlichen Wirrsal zu streben. Nachdem Wir den kompetenten Behörden befohlen haben, Maßnahmen zur Beseitigung direkter Erscheinungen der Unordnung, der Schlechtigkeiten und Gewalttätigkeiten zu ergreifen zum Schutze der friedlichen Leute, die der ruhigen Erfüllung der einem jeden obliegenden Pflicht nachstreben, haben Wir zur erfolgreichen Ausführung der allgemeinen, von Uns zur Befreiung des Staatslebens beabsichtigten Maßnahmen für notwendig erachtet, die Tätigkeit der obersten Regierung zu vereinheitlichen.

Der Regierung legen Wir als Pflicht die Erfüllung Unseres unerschütterlichen Willens auf:

1. der Bevölkerung unerschütterliche Grundlagen der bürgerlichen Freiheit nach den Grundsätzen wirklicher Unantastbarkeit der Person, der Freiheit des Gewissens, des Wortes, der Versammlungen und der Vereine zu geben;

2. ohne die angeordneten Wahlen zur Reichsduma aufzuhalten, jetzt zur Teilnahme an der Duma, soweit das bei der Kürze der bis zur Berufung der Duma bleibenden Zeit möglich ist, die Klassen der Bevölkerung heranzuziehen, die jetzt völlig des Wahlrechts beraubt sind, indem die weitere Entwicklung des Grundsatzes des allgemeinen Wahlrechts der neueingeführten gesetzgeberischen Ordnung anheimgestellt bleibt und

3. als unerschütterliche Regel festzustellen, daß kein Gesetz ohne Genehmigung der Reichsduma Geltung erhalten kann und daß den vom Volke Erwählten die Möglichkeit wirklicher Teilnahme an der Aufsicht über die Gesetzmäßigkeit der Akte der von Uns eingesetzten Behörden gesichert ist.

Wir rufen alle treuen Söhne Rußlands auf, ihrer Pflicht gegen das Vaterland eingedenk zu sein, zur Beendigung der unerhörten Wirrsal zu helfen und mit Uns alle Kräfte zur Wiederherstellung der Ruhe und Ordnung des Friedens auf dem Heimatboden anzuspannen.



[1]     Aus: Scheibert, Peter (Hg.), Die russischen politischen Parteien von 1905 bis 1917. Ein Dokumentationsband, Darmstadt 1972, S. 29f.

 


Für das Themenportal verfasst von

Manfred Hildermeier

( 2007 )
Zitation
Manfred Hildermeier, Liberalismus in Russland, in: Themenportal Europäische Geschichte, 2007, <www.europa.clio-online.de/essay/id/fdae-1329>.
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