Modernisierung im multinationalen Familienunternehmen.

1872 teilte der Berliner Unternehmer Werner Siemens seinem jüngeren Bruder Carl in Petersburg mit, die Firma Siemens müsse wegen der Vielseitigkeit und Kompliziertheit der Geschäfte, des Mangels an geeigneten Arbeitern und des Kosten- und Termindrucks von Seiten der Abnehmer die Produkte standardisieren und mit Hilfe amerikanischer Arbeitsmethoden schneller und massenhaft produzieren.[...]

Modernisierung im multinationalen Familienunternehmen[1]

Von Jürgen Kocka

1872 teilte der Berliner Unternehmer Werner Siemens seinem jüngeren Bruder Carl in Petersburg mit, die Firma Siemens müsse wegen der Vielseitigkeit und Kompliziertheit der Geschäfte, des Mangels an geeigneten Arbeitern und des Kosten- und Termindrucks von Seiten der Abnehmer die Produkte standardisieren und mit Hilfe amerikanischer Arbeitsmethoden schneller und massenhaft produzieren. Die von Werner Siemens und Johann Georg Halske 1847 gegründete Telegraphenbauanstalt in Berlin beschäftigte damals 580 Arbeiter und Angestellte. Sie verdiente am Bau und an der Unterhaltung transkontinentaler Telegrafenlinien. Sie produzierte vor allem Telegrafen, Eisenbahn-Blockapparate und Messgeräte.

Die Entwicklung des Starkstromgeschäfts hatte noch kaum begonnen, auch wenn Siemens schon 1866 das dynamo-elektrische Prinzip entdeckt hatte. Hauptkunden waren zivile und militärische Behörden. Krieg und Konjunktur ließen von 1867 bis 1873 den Umsatz der Berliner Firma um 244 Prozent und ihre Belegschaft um 227 Prozent wachsen. In diesen Boom-Jahren nahmen die Klassenspannungen zu, die junge Arbeiterbewegung meldete sich zu Wort. In Berlin kam es 1871 und 1872 zu zahlreichen Streiks, auch in der Metall verarbeitenden Industrie. Die Meister der Telegraphenbauanstalt schickten eine Petition an Siemens, in der sie um Gehaltsverbesserung ansuchten. Siemens sprach von einem „kleinen Meisterstrike“ und verweigerte die Annahme, „da ich keine Kollektivbriefe annähme und jedem freistehe, dahin zu gehen, wo er besser honoriert würde [...] Eine wesentliche Aufbesserung aller festen Löhne und niederen Beamtengehälter ist allerdings unvermeidlich.“

Siemens reagierte im Übrigen auf die rasant ansteigende Nachfrage und die wachsenden Spannungen mit der Belegschaft durch Maschinisierung und Standardisierung. Erst jetzt entwickelte sich die Telegraphenbauanstalt aus einer Manufaktur in eine Fabrik. Auf Anregung des ihm bekannten Berliner Fabrikanten Ludwig Loewe, der nach amerikanischem Vorbild seit 1869 Nähmaschinen und seit 1870 Waffen serienmäßig herstellte, und auf Vermittlung eines amerikanischen Ingenieurs kaufte Siemens 1871 und 1872 zwei schwere und sechs leichte Fräsmaschinen, vier mehrspindlige Bohrmaschinen und mehrere Hobelmaschinen in den USA. Die Maschinen standen zunächst alle in einem Raum des Neubaus in der Markgrafenstraße 92, im „amerikanischen Saal“. Ein Arbeiter wurde zum Studium der maschinellen Produktion auf einige Monate zu Loewe geschickte und übernahm dann die neue Abteilung als Meister. Ein Arbeiter konnte zwei bis drei Maschinen bedienen. Das Akkordsystem setzte sich durch. Erstmals kam es zur Einstellung von Frauen, zunächst als Lackiererinnen.

Diese Modernisierung stieß nicht durchweg auf Zustimmung. Rückblickend kommentierte ein damals bei Siemens beschäftigter Meister: „Da man für die Maschinen meist gewöhnliche Arbeiter – wenn möglich natürlich von den alten – anlernen mußte und diese dann durchweg im Akkord beschäftigt wurden, so bildete der so genannte amerikanische Saal bald einen starken sozialistischen Angriffspunkt. Die starke Arbeitsbeschleunigung paßte den Leuten eben nicht. Es hat lange gedauert, ehe sich die alten Handwerker der Werkstatt damit abfanden.“

Selten lässt sich der wechselseitige Zusammenhang zwischen Wirtschaftswachstum, Modernisierung der Produktion und Spannungen am Arbeitsplatz so konkret nachvollziehen, wie an diesem Fall. Der als Quelle abgedruckte Briefauszug[2]zeigt noch etwas anderes: Seit 1853 hatte die Berliner Firma Siemens & Halske eine Geschäftsstelle mit Werkstatt in St. Petersburg unter der Leitung von Carl Siemens. Und seit 1850 bestand eine Agentur, seit 1858 eine selbständige Zweigniederlassung in London unter Leitung von Wilhelm (später William) Siemens. Der Erfolg der Firma erklärt sich zum Teil aus ihrer frühen multinationalen Struktur. Diese erlaubte es, lokale Krisen durch Schwerpunktverlagerungen zu überstehen und den internationalen Markt zu bedienen, auf dem das Kabelgeschäft vorwiegend stattfand. 1872 beschäftigten die Siemens-Unternehmen insgesamt fast 1.600 Arbeiter und Angestellte, davon beinahe zwei Drittel im Ausland. Die Standorte Berlin, St. Petersburg und London waren in den meisten Hinsichten sehr selbständig. Im Kern hielt sie die verwandtschaftliche Loyalität der drei Brüder Siemens zusammen, die die drei Zweige leiteten. Die Koordination geschah durch ihre rege, wechselseitige, jahrzehntelange Korrespondenz, zu der der im Auszug abgedruckte Brief gehört. Er dokumentiert also auch den engen Zusammenhang zwischen Familie und Geschäft, zwischen Familienkohäsion und Management, der sich in der Industrialisierung des 19. Jahrhunderts häufig findet und ein anregendes Forschungsthema bleibt.


[1] Essay zur Quelle Nr. 1.4, Werner Siemens über die Anwendung der amerikanischen Arbeitsmethode (1872).

[2] Vgl. Quelle Nr. 1.4.

 


Literaturhinweis:
  • Kocka, Jürgen, Unternehmensverwaltung und Angestelltenschaft am Beispiel Siemens 1847-1914, Stuttgart 1969, insbes. S. 117-127

Siemens, Werner: Brief an seinen Bruder Carl über die Anwendung amerikanischer Arbeitsmethoden (1872)[1]

[...] Das Geschäft ist bei seiner Vielseitigkeit und Kompliziertheit zu groß geworden und die Arbeiternot wird geradezu unerträglich. Wir haben jetzt leere Säle in Menge, können aber keine Arbeiter zu ihrer Besetzung bekommen. Da halte mal einer Termine! Wir sind daher namentlich seit einem Jahre eifrig bestrebt, wie die Amerikaner alles mit Spezialmaschinen zu machen, um auch mit schlechten Arbeitern gute Sachen machen zu können. Das hat sich auch schon brillant bewährt. So z. B. haben wir die 1200 Torpedo-Indikatoren, welche England uns bestellte, in fabelhaft kurzer Zeit, ganz zum Termine, und für die Hälfte ca. des Arbeitslohnes gemacht, welchen wir London als Selbstkosten aufgaben! Diese Arbeit war uns sehr nützlich als Probe der Leistungsfähigkeit unserer Einrichtungen, hat uns aber leider in anderen Dingen zurückgehalten. Jetzt sind alle davon überzeugt, daß in der Anwendung der amerikanischen Arbeitsmethode unser künftiges Heil liegt und daß wir in diesem Sinne unsere ganze Geschäftsleitung ändern müssen. Nur Massenfabrikation darf künftig unsere Aufgabe sein, darin können wir künftig jedes Bedürfnis befriedigen und jede Konkurrenz überwinden. Um sie zu bekommen, müssen wir allerdings unseren Kunden einen gewissen Zwang auferlegen und ihnen unsere Konstruktionen vorschreiben. Wir können dies dadurch tun, daß wir unsere „fabrizierten“ Konstruktionen sehr billig, gut und schnell liefern, andere aber teuer und langsam oder gar nicht. [...] Darin müssen uns London und Petersburg energisch unterstützen. Andernfalls können sie künftig auf prompte Unterstützung durch uns nicht rechnen. Der Fehler ist nur, dass die Herren Ingenieure und Werkstattsvorstände nicht lassen können, selbst zu konstruieren und zu erfinden – gerade so wie die Telegrapheningenieure! Das geht eben nicht. Was man mit Maschinen machen will, muß für die Maschinen konstruiert sein, die Spezialkonstruktion muß uns daher stets überlassen bleiben. Es ist übrigens eine große Seltenheit, daß man einen Kunden bei Neuanlagen nicht zu der neuesten und billigsten Konstruktion überreden kann, wenn man selbst nur will! Pauke das den dortigen Leuten nur gehörig ein. Dann sorge doch auch dafür, dass die Preise für unsere „Fabrikationskonstruktionen“ nicht zu hoch gehalten werden. Es dringt jetzt die Konkurrenz von allen Seiten in Russland ein und wir kommen in die unangenehmsten Nöte, wenn die Leute hier nach Preisen fragen! Das muß künftig auch aufhören. Wenn Russland die Apparate zu unseren Selbstkosten bekommt, so muß ein Aufschlag, der den wirklichen Transport- und Generalkosten entspricht, ausreichen. Nur so können wir oben bleiben. Wir haben jetzt die Preise für unsere Fabrikationskonstruktionen so niedrig gestellt, daß uns niemand nachkommen kann. Trotzdem ist unser Abschluß brillant, weil die Massenfabrikation ungeahnte Hilfsquellen bietet. Das ist unser Weg. Willkürliche Abänderungen unserer festen Konstruktionen müssen ebenso lächerlich werden, wie wenn einer eine abgeänderte Nähmaschine bestellen wollte. Will er sie haben, so muß er sich eine Fabrik dafür anlegen oder zehnmal so teuer durch Handarbeit sie machen lassen [...].



[1] „...überzeugt, daß in der Anwendung der amerikanischen Arbeitsmethode unser künftiges Heil liegt“. Werner Siemens an seinen Bruder Carl in St. Petersburg, 13. März 1872, aus: Matschoß, Conrad (Hg.), Werner Siemens. Ein kurzgefaßtes Lebensbild nebst einer Auswahl seiner Briefe, Berlin 1916, Bd. 2, S. 354-55.

 


Die Druckversion des Essays findet sich in Hohls, Rüdiger; Schröder, Iris; Siegrist, Hannes (Hg.), Europa und die Europäer. Quellen und Essays zur modernen europäischen Geschichte, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2005.
Für das Themenportal verfasst von

Jürgen Kocka

( 2006 )
Zitation
Jürgen Kocka, Modernisierung im multinationalen Familienunternehmen, in: Themenportal Europäische Geschichte, 2006, <www.europa.clio-online.de/essay/id/fdae-1337>.
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