Städtewachstum und die Kraft der Assoziation: Robert Vaughan – Ein Klassiker der europäischen Stadtgeschichte
Von Andrew Lees
Robert Vaughans Buch The Age of Great Cities, das 1843 inLondon erschien, ist eine klassische Rechtfertigung der Urbanisierung. Zu einer Zeit, als auf dem europäischen Kontinent die Wanderungsbewegungen vom Land in die Städte immer mehr zunahmen, betonte der englische Geistliche bereits den positiven Charakter der urbanen Entwicklung. Vaughan nahm in seiner Schrift, die in der folgenden Quelle in einigen Auszügen vorgestellt wird, die Besonderheiten städtischen Lebens genau in den Blick. Noch im späten 19. Jahrhundert sollten seine Beobachtungen im europäischen Kontext aufgegriffen werden.
Robert Vaughan (1795-1868) kam aus bescheidenen Verhältnissen und gehörte so auch zu denjenigen, die auf städtische Aufstiegschancen angewiesen waren. Als Sohn armer walisischer Eltern verfügte der junge Vaughan über keinerlei Ausbildungsmöglichkeiten. Umso beachtlicher ist, dass es ihm gelang, nach einem theologischen Selbststudium eine Stelle als Pfarrer in einer dissidenten Gemeindeder Kleinstadt Worcester zu bekommen. Dank seiner imponierenden Redegabe zog er hier eine wachsende Zuhörerschaft an, was ihm alsbald zu einem neuen kirchlichen Amt in der Hauptstadt verhelfen sollte. Zumal Vaughan neben der geistlichen Seelsorgetätigkeit auch seriöse Geschichtsbücher schrieb, so etwa The Life and Times of John de Wycliffe (1828) und Memorials of the Stuart Dynasty (1831), wurde er 1834 zum Professor für Geschichte an der neuen Londoner Universität ernannt. In den folgenden Jahren lernte er viele führende Persönlichkeiten der Whigs kennen.Ihre Reformvorstellungen sollten sich auf vielfache Weise in seinen Schriften widerspiegeln. In demselben Jahr, in dem The Age of Great Cities erschien, wurde Vaughan Professor für Theologie und gleichzeitig Präsident des Lancashire Independent College in Manchester, dem urbanen Zentrum des industriellen Nordens. Während der vielen Jahre, in denen er in Manchester arbeitete, war er auch Redakteur des renommierten British Quarterly, einem führenden wissenschaftlichen Organ des protestantischen Nonkonformismus. In der Zeitschrift wie auch in seinen Büchern und Broschüren, aber auch in öffentlichen Debatten trat Vaughan stets als ein ausgesprochener Verteidiger fortschrittlicher Anschauungen auf. Diese Haltung bezog sich gleichermaßen auf die Belange kirchlichen wie weltlichen Lebens.
Obwohl sie inmitten der so genannten „hard times“, der frühen Industrialisierungsperiode, geformt wurde, unterschied sich Vaughans Sichtweise von den Meinungen früherer und zeitgenössischer Sozialkritiker. Düstere Vorstellungen von einer vermeintlich unheilvollen Modernität, wie sie sowohl Konservative wie der Dichter Robert Southey oder Frühsozialisten wie der Utopist Robert Owen vertraten, blieben Vaughan vollständig fremd. Ebenso wenig schloss er sich den Verfechtern einer gemäßigteren Sozialkritik an. Deren Bestandsaufnahmen, in denen sie stets einzelne spezifische Missstände anprangerten und etwa im Sinne der öffentlichen Gesundheitspflege eine bessere Versorgung mit sauberem Wasser forderten und eine funktionierende Kanalisation verlangten, wurden von Vaughan meist relativiert, wenn nicht gar vollständig ignoriert. Trotz der Tatsache, dass viele Stadtbewohner unter Armut, schlechten Wohnverhältnissen und langen Arbeitszeiten sowie nicht zuletzt den gefährlichen Arbeitsbedingungen in denFabriken litten, war Vaughan immer darum bemüht, viele der sozialen und kulturellen Entwicklungen, die durch die Einführung der neuen industriellen Produktionsmethoden gefördert worden waren, in ein gutes Licht zu rücken.
Vaughan brachte damit einen hoffnungsvollen Fortschrittsoptimismus zum Ausdruck, der auf einer wohlwollenden Deutung städtischer Phänomene der Vergangenheit wie auch auf einer positiven Beurteilung der zeitgenössischen Großstädte basierte. Ihm zufolge stand die moderne Stadt in einer langen und ehrenvollen Reihe von Vorläufern wie Athen oder Rom, die in ihrer Epoche für ihre jeweiligen Staaten und Länder nutzbringend gewesen seien. Für Vaughan spiegelte sich dabei nicht nur in der Schönheit der naturgeschaffenen Landschaften, sondern auch in der Ausbreitung der großen menschlichen Siedlungen die beständig aufscheinende Macht der göttlichen Vorsehung wider. Trotz seines geistlichen Berufs argumentierte Vaughan nur am Rande religiös. Für ihn war vielmehr der Gedanke zentral, dass Menschen als denkende und schöpferische Kreaturen ihr höchstes menschliches Potential, dessen Realisierung für ihn allerdings ihr von Gott gewolltes Geschick war, nur unter städtischen Bedingungen verwirklichen könnten.
Immer wieder betonte Vaughan die geistigen Anregungen, die unabhängig von der Religion einen wohltuenden Einfluss auf die Städter ausübten. Verstandesschärfe war in diesem Sinne ein natürliches Ergebnis der sozialen Umwelt, mit der die Stadtbewohner in Berührung kamen. Die Vielfalt an Meinungen führte nach Vaughan dabei notwendigerweise zur Fähigkeit, schneller und präziser zu denken als in einfacheren und ruhigeren Gebieten. Vorurteile würden von anderen konkurrierenden Vorurteilen in Frage gestellt und aufgewogen. Dem allgemeinen Niveau des Volksverstandes schließlich komme eine solche gegenseitige Stimulierung in fortwährenden Diskussionen und Debatten zwangsläufig zugute.
Dies alles stellte Vaughan zufolge ein Charakteristikum des städtischen Alltags dar. Die Stadt selbst ließ sich in diesem Sinne als eine „freie Schule“ verstehen, die ihren Einwohnern fast automatisch eine ausgezeichnete Erziehung vermittle. Darüber hinaus verwies Vaughan aber auch auf eine Vielzahl in der Stadt existierender Einrichtungen zur Förderung der Geisteskräfte, die eine umfassende Bildung des Einzelnen ermöglichen würden. Vaughan dachte in diesem Zusammenhang nicht nur an Volksschulen, die allerdings zu dieser Zeit in Großbritannien auch weitaus weniger entwickelt waren als auf dem Kontinent, sondern vor allem an Einrichtungen der Erwachsenenbildung. Hierzu waren etwa die weitverbreiteten „mechanics’ institutes“ zu zählen sowie Arbeiterbildungsvereine und die verschiedenen literarischen Gesellschaften, die sich überall in den britischen Städten etabliert hatten.
Geistige Regsamkeit und erweiterte Kenntnisse waren für Vaughan dabei nicht nur an sich zu begrüßen, sondern auch förderlich im Sinne einer sittlichen Verbesserung. Gebildete Menschen, so war die Überlegung, handelten vernünftiger als Ungebildete, und da sie gelernt hätten, ihre Eigeninteressen deutlich zu erkennen, neigten sie als klar denkende Individuen um so mehr dazu, sowohl moralische Gebote als auch Gesetze einzuhalten. Hier zeigt sich in Vaughans Denken ein unmissverständliches Vertrauen auf die enge Verbindung zwischen Wissen und Tugend. Ein solches Vertrauen in das einzelne Individuum war typisch für den klassischen Liberalismus. Allerdings war dieser Liberalismus nicht allein von einem reinen Individualismus, sondern auch vom Glauben an die für die Gemeinschaft nutzbringenden Auswirkungen assoziativer Aktivitäten gekennzeichnet, wie sie nach Vaughans Meinung typisch für die Großstadt waren. Städte waren in Vaughans Augen bevorzugte Orte, wo das nahe Zusammenleben spontane Assoziationen fördere. Diese Tendenz manifestiere sich in vielfältigen Vereinigungen, deren Mitglieder bemüht seien, das Niveau ihrer gemeinsamen Lebenswelt sowohl kulturell als auch moralisch zu heben. Das städtische Assoziationswesen sei also imstande, vielfältige gesellschaftliche und sittliche Missstände, deren gelegentliche Anwesenheit nicht völlig ignoriert werden dürfe, weitgehend zu lindern, wenn nicht sogar total zu beseitigen. Vaughan glaubte also, durch freiwillige, gleichzeitig aber organisierte Wohlfahrtspflege könne Armut, Obdachlosigkeit und Krankheit wirkungsvoll bekämpft werden – ein Umstand, der letztlich auch zu einer allgemeinen sozialen Versittlichung beitragen werde. Vaughans Wertschätzung von Mäßigkeitsbestrebungen wird hier implizit deutlich, ebenso wie sein ungebrochener Glaube an die Zukunft und den Fortschritt.
Doch damit nicht genug: An anderer Stelle seines Werkes betonte Vaughan weitere Vorteile des städtischen Lebens und die bedeutende Rolle der Städte als hochkulturelle Zentren. Nur in den Städten zeige sich der Fortschritt sowohl auf technischem als auch auf künstlerischem und literarischem Gebiet. Und dementsprechend gediehen auch die Naturwissenschaften und die Technik nur hier, wie schon die großartigen Bauten der antiken Welt bezeugten. Darüber hinaus sei ohne den Nährboden einer bürgerlichen Öffentlichkeit auch eine schriftstellerische Schaffenskraft undenkbar, deren Erfolge zu guter Letzt von urbanen Lesern abhängig seien.
Die Stadt bedeutete nach Vaughan aber noch mehr als das, denn sie war auch ein Gemeinwesen, dessen Mitglieder bestrebt seien, ihre Teilnehmerrechte an der Steuerung öffentlicher Angelegenheiten aufrechtzuerhalten und zu verstärken. Infolgedessen stellten städtische Gemeindeverwaltungen und andere Körperschaften Einrichtungen dar, in denen sich ein demokratischer Geist entfalte, was für die Gesellschaft insgesamt von Nutzen sei. Obschon er es nicht vorrangig aus politischen Gründen verfasste, machte Vaughan also in seinem Buch vor politischen Fragen auch nicht halt. In diesen Passagen wird dabei sowohl sein politischer wie auch sein sozialer Liberalismus immer wieder deutlich.
Innerhalb des Spektrums der unterschiedlichen Stellungnahmen zum Thema Großstadt stellte Vaughans Meinung weder zu seiner Zeit noch später eine Ausnahme dar. Trotz weit verbreiteter Kritik an den Defiziten der Großstadt äußerten sich bereits um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts zahlreiche Beobachter ebenfalls wie Vaughan positiv über das Städtewachstum, was sich durch eine Vielzahl von Zitaten aus der englischsprachigen Literatur der Zeit belegen ließe. Doch anstelle von weiteren Stimmen aus England sollen hier nun einige Gegenstücke zu Vaughans Auffassungen aus Deutschland einbezogen werden, um zu verdeutlichen, dass auch dort ein städtefreundlicher Optimismus in zeitgenössischen Überlegungen zur modernen Entwicklung auftrat, der nicht zu unterschätzen ist. Karl Theodor Welcker schrieb beispielsweise in einem Beitrag über „Städte“ (1843) im einflussreichen Staats-Lexikon, das er gemeinsam mit Karl Rotteck herausgab: „Das Leben in Städten erweckt, vereinigt und schützt die höheren Bestrebungen, Gewerbe, Handel und die Civilisation überhaupt. [...] Das städtische Leben bezeichnet und fördert daher eine höhere Culturstufe der Völker.“
War Welcker also bereits fest davon überzeugt, dass die aufkommende Urbanisierung auch der staatlichen Entwicklung Deutschlands zugute kommen werde, so war diese liberale Betonung städtischer Vorteile auch mehr als ein halbes Jahrhundert später, also bereits Jahrzehnte nach der deutschen Reichsgründung, immer noch zu finden, insbesondere unter jenen Bildungsbürgern in deutschen Großstädten, die die aufkommende agrarromantische und reaktionäre Großstadtkritik entschlossen ablehnten. Vaughans und Welckers Auffassungen wurden dabei mehrfach aufgegriffen und wiederholt, etwa in Werken wie Johannes Tews’ Großstadtpädagogik (1911), in dem der Berliner Lehrer und Vorsitzende der Gesellschaft für die Verbreitung von Volksbildung sowohl die erzieherischen als auch die freiheitsfördernden Impulse städtischen Lebens mit offensichtlicher Begeisterung rühmte: „Die Großstadt gibt der tüchtigen Persönlichkeit die Freiheit, die dem Einzelnen heute theoretisch überall zugestanden, dem sozial ungünstig Gestellten durch die tatsächlichen Verhältnisse in Dorf und Kleinstadt aber vorenthalten wird.“
Aber es kamen auch neue Themen hinzu, denn die europäischen Befürworter der Urbanisierung hoben in ihren zahlreichen Schriften um die Jahrhundertwende nicht allein die Freiheit der einzelnen Städter hervor, sondern betonten vor allem auch die nutzbringenden Ergebnisse städtischer Entwicklung auf kollektiver Ebene. Entsprechend befassten sich diese neuen Schriften ausführlich mit der geschichtlichen Entwicklung von Stadtverwaltungen und diskutierten dabei neue Reformvorhaben, deren Durchführung erneut eine noch bessere Zukunft der Städte versprach. In zahlreichen Schriften, ob über Birmingham und Glasgow oder über Essen, Frankfurt am Main und Dresden, wurden dabei konkurrierende Reformvorstellungen wiederholt in den Mittelpunkt gerückt. Auch die große Deutsche Städteausstellung in Dresden 1903 galt der Reform und würdigte insbesondere die bahnbrechende Rolle vieler deutscher Stadtverwaltungen bei der Verbesserung urbanen Lebens. Dies alles verweist auf das Emporkommen eines neuen Liberalismus, der in Deutschland freilich stark von bürokratischen Traditionen geprägt war. Insofern zeigen die späteren Beobachtungen neue Akzente im Vergleich mit Vaughans früherer Betonung von Individualismus und freiwilligen Assoziationen. Im zustimmenden Diskurs um die Großstadt, zu dem Vaughan einen wichtigen Beitrag geleistet hatte, gab es demnach vielfältige Kontinuitäten, aber auch einen deutlichen Wandel: Vaughans Optimismus für das Individuum sowie sein Glaube an die Kraft der Assoziation hatten um 1900 offenbar sichtlich an Attraktivität verloren.
[1] Essay zur Quelle Nr. 1.2, Robert Vaughan: The age of great cities (1843).
[2] D.h. eine freikirchliche Gemeinde, die nicht zur staatlich bevorzugten Church of England gehörte.
[3] Die Whigs waren moderate, in vielen Fällen aristokratische Liberale, deren politische Rivalen die konservativen Tories waren.
[4] Welcker, Karl Theodor, Städte, in: Das Staats-Lexikon, Bd. 12 (1843), S. 105-106.
[5] Tews, Johannes, Großstadtpädagogik, Leipzig 1911, S. 15.
Literaturhinweise:
Briggs, Asa, Victorian cities, London 1963
Dyos, Harold James; Wolff, Michael, The Victorian city. Images and realities, 2 Bde., London 1973
Lees, Andrew, Cities perceived. Urban society in European and American thought, 1820-1940, Manchester 1985
Lees, Andrew, Cities, sin, and social reform in imperial Germany, Ann Arbor 2002
Zimmermann, Clemens; Reulecke, Jürgen (Hg.), Die Stadt als Moloch? Das Land als Kraftquell? Wahrnehmungen und Wirkungen der Großstädte um 1900, Basel 1999