Edward Gibbon und die christliche Republik Europa
Von Wilfried Nippel
Der „Untergang des Römischen Reiches“ wird immer wieder gern beschworen, wenn es um das vermeintlich unausweichliche Schicksal großer Imperien geht oder vor einem kulturellen Verfall gewarnt werden soll. Bewusste oder unbewusste Reminiszenzen an das Werk von Edward Gibbon, The History of the Decline and Fall of the Roman Empire (6 Bände, 1776-1788) – das einzige Geschichtswerk aus der Zeit der Aufklärung, das bis heute immer noch und wieder gelesen wird – sind dabei geläufig.Nur wird oft übersehen, dass Gibbon keine ungebrochene Bewunderung für Rom zeigte, sondern es für eine Weltmacht ohne ernsthafte Konkurrenz hielt, die dem Glück und Fortschritt der Menschheit abträglich war.
Gibbon hat 1781 den 3. Band seines Werkes, der bis zum Ende des römischen Kaisertums im Westen (im Jahre 476) geführt hatte, mit „General Observations on the Fall of the Roman Empire in the West“ abgeschlossen, die so etwas wie eine Quintessenz seiner Darstellung zu bieten schienen.
Hier sprach Gibbon von einer am römischen Beispiel zu studierenden „schrecklichen Umwälzung“, die eine Lehre für die eigene Zeit biete. Aber dieses Lehrstück bedeutet für ihn nicht ein Menetekel für die Gegenwart, sondern steht gerade für den optimistischen Ausschluss einer möglichen Wiederholung in der Zukunft. Diese werde schon dadurch verhindert, dass eine umfassende Tyrannei in Europa durch das Gleichgewicht der Mächte ebenso ausgeschlossen sei, wie die Konkurrenz untereinander den Fortschritt in Wissenschaft und Wirtschaft gefördert habe.
Im Anschluss an diese Passage führt Gibbon aus, dass ein allgemeiner Zivilisierungsprozess irreversible Ergebnisse erbracht habe. Die einst von barbarischen Jägern und Hirten bewohnten Regionen Europas und Asiens seien zivilisatorisch angeglichen worden. Gefahr könne nur noch von Völkern jenseits des russischen Reiches drohen. Die Fortschritte in Mathematik, Chemie, Mechanik und Architektur seien jedoch auch der Kriegstechnik zugute gekommen, wie sich in Feuerwaffen und Befestigungen ausweise. Deshalb sei man selbst vor den tatarischen Horden sicher, denn wenn diese erfolgreich angreifen wollten, müssten sie aufhören, Barbaren zu sein.
Gibbon hat sich im Hinblick auf die Fortschrittsthese genauso der Theorien der schottischen und französischen Aufklärung des 18. Jahrhunderts bedient, wie er sich zeitgenössischen Vorstellungen über die heilsamen Auswirkungen des europäischen Gleichgewichts der Mächte anschloss. Letztere fanden sich in unterschiedlichen Varianten unter anderem bei Montesquieu (L’esprit des lois, 1748), David Hume (Of the Balance of Power, 1752), William Robertson (The History of the Reign of the Emperor Charles V, 1769) oder bei Voltaire (Le siècle de Louis XIV, 1756). Während Gibbon in Montesquieu, Hume und Robertson seine großen Vorbilder als Historiker sah, hatte er allerdings für Voltaire wegen dessen lässigen Umgangs mit historischen Fakten nur Spott übrig.
Die Vorstellung, dass es die Struktur des europäischen Mächtesystems ist, die unabhängig von der Qualität der Herrscher funktioniert, bringt Gibbon durch seine Vergleiche zeitgenössischer Monarchen mit antiken Herrscherfiguren zum Ausdruck: Julian und Semiramis stehen für Friedrich II. von Preußen und Katharina II. von Russland als ebenso aufgeklärte wie tatkräftige Herrscher – Gibbon betrachtet (anders als Voltaire) Russland als Mitglied des europäischen Staatensystems. Arcadius oder Honorius (die Söhne von Theodosius I., die als „Kinderkaiser“ von einflussreichen Höflingen gesteuert wurden) ist die Chiffre für Ludwig XV. von Frankreich, der als Fünfjähriger Nachfolger des Sonnenkönigs geworden war.
Die strukturelle Gleichheit der Mitglieder dieses Staatensystems wird darin gesehen, dass die Republiken Freiheit mit effizienten Regierungsformen verbinden und auch in den Monarchien Institutionen und Regelungen bestehen, die zumindest ein Minimum an Freiheit verbürgen. An anderer Stelle in seinem Werk (Kapitel 3) hat Gibbon deutlich gemacht, dass die englische Mischverfassung mit den Elementen König, Lords und Commons und mit einer aus freien Bürgern gebildeten Miliz (statt einer ständigen, professionellen Armee) am besten die Freiheit sichert. Die positiven Effekte einer Balance der Kräfte zeigen sich in den innerstaatlichen Ordnungen genauso wie in den internationalen Beziehungen.
Ein mögliches Abgleiten in den Despotismus kann im Ernstfall noch dadurch kompensiert werden, dass konkurrierende europäische Mächte ihren Einfluss geltend machen oder Opfern einer Verfolgung Zuflucht bieten, wie Gibbon unter anderem im 3. Kapitel seines Werkes ausführt.Eben darin unterscheidet sich das moderne Europa vom Römischen Reich, das die gesamte zivilisierte Welt des Altertums erfasste. Nach Robertson hatte sich dieses europäische Staatensystem (nach einer langen Vorgeschichte im Mittelalter) endgültig in der Reaktion auf das Streben Karls V. nach einer Universalmonarchie herausgebildet; Hume hatte seine Bewährung (dank der britischen Politik) in der Abwehr der Hegemonialansprüche Ludwigs XIV. gesehen.
Gibbon hat in seinem Werk für das Römische Reich die Entfaltung eines durch keinerlei institutionelle Kontrollen (jenseits der Selbstbeschränkung weiser Herrscher) gehemmten Despotismus nachgezeichnet, dem der fortschreitende Verfall der Tugend der Bürger-Soldaten korrespondiert. Die dominierende Rolle von Hofeunuchen in der Spätantike ist ein Symbol dieses Niedergangs. Er wurde aber auch dadurch gefördert, dass sich die Kirche zu einem Staat im Staat entwickelte und somit dem Römischen Reich die für seine Erhaltung notwendigen personellen und materiellen Ressourcen entzog. Alles dies führte dazu, dass schließlich die Verteidigung ganz den barbarischen Germanen überlassen wurde, die schließlich das Reich und damit eine blühende Zivilisation zerstörten. Die Christen und die Germanen scheinen so verantwortlich für den Untergang des Römischen Reiches zu sein.
Aber Gibbon war kein Thesenhistoriker. Die „General Observations“ hatte er als eine Art Fingerübung in der Tradition eines Montesquieu (Considérations sur les causes de la grandeur des Romains et de leur décadence, 1734) bereits um 1772 niedergeschrieben, bevor er sich an die Ausarbeitung seines Werkes gemacht hatte. Beim Abschluss des dritten Bandes hat er 1781 diesen Text an das Ende gestellt, als ihm noch nicht klar war, ob er die Fortsetzung des Werkes bis zum Untergang des Byzantinischen Reiches 1453 in Angriff nehmen wolle und könne. Wenn es ihm nur um die Explikation bestimmter Thesen an ausgewählten Beispielen gegangen wäre, hätte er sich schon bei seiner Darstellung bis zum Ende des weströmischen Reiches mit einem großen Essay à la Montesquieu begnügen können, und nicht drei voluminöse Bände vorlegen müssen, die detailliert Ereignis- und Strukturgeschichte auf ingeniöse, bisher in der Historiografie nicht gekannte Weise verbanden.
Im Laufe seines Werkes, das er schließlich bis 1453 fortführte, entwickelte Gibbon immer mehr Sinn für die Ambivalenz und Kontingenz historischer Prozesse, die jeweils Zerstörung, Umformung und Neuaufbau zugleich bedeuten, in jedem Verfall auch die Chance des Fortschritts enthalten. Dies zeigt sich sowohl in seiner Bewertung der Christen wie der Germanen. Der 1776 erschienene erste Band von Decline and Fall hatte noch suggeriert, dass das Christentum entscheidend für den Niedergang des Römischen Reiches gewesen sei, wobei die innere Entwicklung der Kirche mit der Herausbildung der Bischofsverfassung und den Tendenzen zur Suprematie des Bischofs von Rom eine fortschreitende Zerstörung republikanischer Strukturen entsprechend derjenigen in der Verfassung des Reiches, jedoch zeitlich versetzt, zeige (Kapitel 15).
Aber mit dem Fortgang seines Werkes machte Gibbon deutlich (oder wurde ihm bewusst), dass in einer epochenübergreifenden Perspektive die Rolle der Kirche durchaus auch anders gesehen werden kann. Dies zeigt sich bereits in seiner Darstellung der Religionspolitik des 4. Jahrhunderts. Schon Gibbons Zeitgenossen waren verblüfft, dass er als vermeintlicher Kirchenfeind die Religionspolitik des Kaisers Julian (der von aufklärerischen Religionskritikern wie Shaftesbury und Voltaire als toleranter Philosophenkönig gepriesen worden war) scharf kritisierte, weil dessen Versuch, die Christianisierung des Reiches rückgängig zu machen, nur zu politischer und sozialer Destabilisierung geführt habe (Kapitel 23). An einem Kirchenpolitiker wie Athanasius, der als Erzbischof von Alexandria jahrzehntelang mit verschiedenen Kaisern Konflikte ausgetragen hatte, bewunderte Gibbon dessen politische Fähigkeiten, die ihn für die Rolle des Kaisers hätten qualifizieren können. Wenn das Kirchenvolk gegen die Absetzung des Athanasius und anderer Bischöfe durch den Kaiser protestierte, weil es sich in seinem Wahlrecht verletzt sah, deutete sich eine Entwicklung an, in der die Kirche zu einem Refugium bürgerlicher Freiheit wurde (Kapitel 21).
So sehr Gibbon bei seiner Darstellung der mittelalterlichen Kirche die Inquisition attackierte, so sehr konnte er auch dem Papsttum in bestimmten Hinsichten eine positive Rolle zuschreiben. Während die orthodoxe Kirche kein Gegengewicht zum byzantinischen Despotismus bildete, war Papst Gregor VII. in seinem Kampf mit Kaiser Heinrich IV. ein neuer Athanasius (Kapitel 56). Die Kirche wehrte sich gegen eine Universalmonarchie, ohne jedoch ihre Ansprüche auf weltliche Herrschaft durchsetzen zu können. Damit wurde der Boden für die Entwicklung des neuzeitlichen Europa mit seinem Mächtepluralismus im Inneren der Staaten wie in ihren Beziehungen untereinander vorbereitet.
Auch mit der Etablierung der germanischen Nachfolgestaaten des Römischen Reiches wurden langfristig neue Chancen auf freiheitssichernde Institutionen eröffnet. Als der Kaiser Honorius im Jahre 418 eine Versammlung der Honoratioren der südgallischen Provinzen einberief, machte dies in einem zerfallenden politischen System keinen Sinn mehr. Die Institutionalisierung einer solchen Versammlung hätte dagegen drei Jahrhunderte zuvor die Auswirkungen autokratischer Herrschaft mildern, die Verteidigungsbereitschaft der Bürger fördern und so das Reich stabilisieren können. Gibbon deutet diese Einrichtung als eine Art Parlament und spekuliert deshalb auch, dass ihr vielleicht die Bischöfe angehört hätten (Kapitel 31). Später hätten die Franken die Chance gehabt, aus ihrer Heeresversammlung eine gesetzgebende Versammlung zu bilden und damit das rohe Vorbild, das in den Wäldern Germaniens entworfen worden war (diese Formulierung folgt Montesquieu), durch die politische Weisheit der Römer zu verfeinern, aber sie haben diese Möglichkeit noch nicht genutzt (Kapitel 38). Besser machten es dann die Langobarden, auch wenn sie noch nicht die richtige Balance zwischen König, Rat und Volksversammlung gefunden hatten. Sie bezogen die Bischöfe Italiens nicht ein, insofern blieb ihre beachtliche Staatskunst diejenige einer barbarischen Gesellschaft (Kapitel 45).
Da die Germanen sich durch die Übernahme des Christentums, der lateinischen Kultur und des römischen Rechts zivilisierten, eröffneten sich langfristig Chancen zu einer neuen Kultursynthese. Die Kirche förderte die Kontakte über die Staatengrenzen hinaus und ermöglichte die kulturelle Einheit. Insofern wurden in den germanischen Nachfolgestaaten die Grundlagen für die Entwicklung einer christlichen Republik Europa gelegt, in der die gehegte Konkurrenz von Staaten mit vergleichbaren Rechtssystemen und einer gemeinsamen Religion und Kultur die welthistorische Besonderheit des neuzeitlichen Europa begründen konnte.
Anders als manchen französischen Aufklärern ging es Gibbon mit seiner historischen Darstellung der (nicht intendierten) innerweltlichen Wirkungen des Christentums nicht um einen Angriff auf die Institution der Kirche. Er wollte deren Rolle bei der Grundlegung der neuzeitlichen europäischen Welt unvoreingenommen würdigen. Sein Europabegriff ist kein Kampfbegriff etwa in der Abgrenzung gegenüber der islamischen Welt (wie seit dem Aufruf von Papst Pius II. nach der Einnahme Konstantinopels gängig) oder gegenüber Russland (wie seit der Reaktion auf die Expansionsbestrebungen Iwans des Schrecklichen geläufig), seine Vorstellung von der Christlichkeit Europas hat ferner nichts zu tun mit einer Klage über die verlorene kirchliche Einheit (wie dies nach der Französischen Revolution bei Novalis, Chateaubriand oder de Maistre der Fall sein sollte). Gibbon hat sein Werk 1788 abgeschlossen, Anfang 1794 ist er gestorben. Wie sich sein Geschichtsbild unter dem Eindruck der Französischen Revolution (die er als Tyrannei der Massen wahrnahm) und der Napoleonischen Kriege verändert hätte, ist eine offene Frage.
[1] Essay zur Quelle Nr. 2.2, Edward Gibbon: The History of the Decline and Fall of the Roman Empire, 6 Bde. (1776-1788).
[2] Vgl. Quelle Nr. 2.2 mit Auszügen aus Gibbon, Edward, Verfall und Untergang des römischen Imperiums. Bis zum Ende des Reiches im Westen, übersetzt von Michael Walter und Walter Kumpmann, München 2003. Diese Taschenbuchausgabe enthält die ersten drei Bände von Gibbons Werk in neuer Übersetzung, die in den Auszügen vom Verfasser leicht modifiziert wurde.
[3] Vgl. Quelle Nr. 2.2, Auszug II.
[4] Vgl. Quelle Nr. 2.2, Auszug I.
[5] Vgl. Quelle Nr. 2.2, Auszug III.
Literaturhinweise:
McKitterick, Rosamond; Quinault, Roland (Hg.), Edward Gibbon and Empire, Cambridge 1997
Nippel, Wilfried, Der Historiker des Römischen Reiches: Edward Gibbon (1737-1794), in: Gibbon, Edward, Verfall und Untergang des römischen Imperiums. Bis zum Ende des Reiches im Westen, München 2003, Bd. 6, S. 7-102
O’Brien, Karen, Narratives of Enlightenment: Cosmopolitan History from Voltaire to Gibbon, Cambridge 1997
Pocock, John G. A., Barbarism and Religion, bislang 3 Bde., Cambridge 1999-2003