Europa, "die große Illusion".

Sprechen wir von „Europa“, dann sprechen wir von einer Idee, die durchaus ambivalente Züge aufweist. Um diese Ambivalenz der Idee „Europa“ näher zu charakterisieren, wähle ich hier den Ausdruck „Die große Illusion“. Das Wort „Illusion“ steht zuallererst für „Täuschung“, doch auf den zweiten Blick erschließen sich weitere Bedeutungen, wie diejenige, die sich aus der etymologischen Herkunft vom lateinischen Verb ludere = spielen und illudere = zum Spielen anregen, ergibt.[...]

Europa, „die große Illusion“[1]

Von Luisa Passerini

Sprechen wir von „Europa“, dann sprechen wir von einer Idee, die durchaus ambivalente Züge aufweist. Um diese Ambivalenz der Idee „Europa“ näher zu charakterisieren, wähle ich hier den Ausdruck „Die große Illusion“. Das Wort „Illusion“ steht zuallererst für „Täuschung“, doch auf den zweiten Blick erschließen sich weitere Bedeutungen, wie diejenige, die sich aus der etymologischen Herkunft vom lateinischen Verb ludere = spielen und illudere = zum Spielen anregen, ergibt. Fragt man sich, womit denn überhaupt gespielt werden soll, so findet sich etwa im Oxford English Dictionary unter dem Begriff „Illusion“ der Verweis auf unsere Phantasie und unsere Vorstellungskraft. Die Verwendung des Ausdrucks „Illusion“ ist daher in diesem Sinne auch eine Einladung, unserer Phantasie freien Lauf zu lassen, um uns ein anderes, ein mögliches Europa vorzustellen, ohne gleichzeitig dabei die Schwierigkeiten zu übersehen, denen Europa gegenübersteht.

Der Ausdruck „Große Illusion“ findet sich im Titel des 1910 zuerst erschienenen Bestsellers The great illusion von Sir Norman Angell (1872-1967).[2]Angell, Friedensnobelpreisträger des Jahres 1933, vertrat in diesem Buch die Position, Krieg sei wirtschaftlich sinnlos und politischer Selbstmord. Bereits sein Buch von 1909, Europe’s optical illusion, hatte argumentiert, dass Kriegsrüstung und militärische Eroberung dem Aggressor keinen Nutzen bringe.[3]The great illusion wurde durchaus zwiespältig aufgenommen, da Angell auch dem Pazifismus, den er als „old pacifism“ bezeichnete, Sentimentalität und Humanitätsduselei vorwarf. Nichtsdestotrotz trug das Buch, das bis in die 1930er Jahre mehrfach neu aufgelegt wurde, viel dazu bei, Kritik an Krieg und Militarismus zu verbreiten. Es ist sehr wahrscheinlich, wenn auch nicht absolut sicher, dass Jean Renoir den Titel seines Films La grande illusion aus dem Jahr 1937 von Angells Buch übernahm. Renoir selbst schreibt in seiner Autobiografie, er habe bis zum Abschluss der Dreharbeiten keinen Titel für den Film gehabt, letztlich habe der Produzent dann diesen Titel akzeptiert, da kein besserer zu finden war. Frieden mag vielleicht eine Illusion sein, so lautet die Aussage des Films, aber gleichzeitig ist es unmöglich, Menschen einfach wegzusperren, unvorstellbar, dass sie nicht unablässig nach Freiheit streben und danach, Hindernisse und Grenzen zu überwinden. Ich werde mich hier mehr auf den Film als auf das erwähnte Buch konzentrieren, da ich ihn für besonders bedeutungsvoll im Hinblick auf unsere heutige Zeit halte und er gleichzeitig ein gutes Beispiel für eine innovative historische Studie visueller Quellen abgeben kann.

La grande illusion von Jean Renoir verursachte 1937 aufgrund seiner pazifistischen Botschaft einen Skandal. Doch der Film enthält auch eine Aussage über Europa, die allerdings nicht unmittelbar auf der Hand liegt, sondern vielmehr entschlüsselt werden muss. In La grande illusion gibt es zwei Versionen von Europa: Zum einen das der Offiziere, einem Franzosen und einem Deutschen, beide Aristokraten, die während des Ersten Weltkriegs auf gegnerischen Seiten kämpfen. Sie werden von Pierre Fresnay und Erich von Stroheim dargestellt.[4]Der Franzose ist Gefangener des Deutschen, aber sie teilen die gleichen Werte, sind gleichermaßen verwurzelt in der kosmopolitischen, sozialen Welt der alten europäischen Ordnung, so wie sie auch die Sehnsucht nach den gleichen Vergnügungen, dem „Chez Maxim’s“ in Paris, und, fast noch ritterlich, nach denselben Frauen teilen. Beide kommen um. Der Franzose opfert sich, um zwei französischen Kameraden die Flucht zu ermöglichen.

Das zweite Europa des Films ist das der Soldaten, Arbeiter und Bauern.[5]Die beiden Soldaten Maréchal und Rosenthal, dargestellt von Jean Gabin und Marcel Dalio, die dank der Aufopferung des französischen Offiziers fliehen können, entwickeln trotz ihrer Konflikte, in denen auch Antisemitismus eine Rolle spielt (einer von ihnen ist Jude), eine starke Solidarität sowohl untereinander als auch zu einer jungen bayrischen Witwe und ihrer kleinen Tochter, von denen die Soldaten aufgenommen und geschützt werden.[6]Sie teilen überdies das gleiche Verbundenheitsgefühl mit der Natur, was in der Metapher des Käfigs zum Ausdruck kommt.[7]Das eingesperrte Tier, für das Maréchal sorgt, kann als Symbol für die gefangenen Menschen gesehen werden. Die Sehnsucht nach Natürlichkeit, ja nach Freiheit, wird in der letzten Szene am stärksten aufgegriffen, in der sich Jean Gabin nachdenklich mit einer Kuh unterhält und diese darum beneidet, dass für sie die nationalen, künstlichen Grenzen nicht existieren. Zuletzt verlassen die zwei Franzosen schließlich den Zufluchtsort bei der Witwe. Doch der eine verspricht, aus Liebe zu der jungen Frau zurückzukommen.

Der Film zeigt den hohlen Charakter des Nationalismus und die Absurdität nationaler Grenzen, den Niedergang des alten Europa und seiner herrschenden Stände und Klassen; gleichzeitig zeigt er aber auch die Kraft individueller Gefühle wie Freundschaft und Liebe, die Menschen über Länder und Kulturen hinweg verbindet. Ein zukünftiger europäischer Raum scheint der einzig angemessene Ort für die Protagonisten des Films zu sein, die abwechselnd auf französisch, deutsch und englisch kommunizieren. Auch Russisch und Altgriechisch kommen vor. Der Film vermittelt so eindrucksvoll den Gedanken, dass es nicht ein Europa, sondern mehrere Europas gibt. Ganz im Sinne von Albert Camus, der während des Zweiten Weltkriegs in seinem Brief an einen deutschen Freund schrieb: „Euer Europa ist nicht das unsere“.

Der Film ist nicht nur eines der Meisterwerke in der Geschichte des europäischen Kinos, sondern auch sehr gut dafür geeignet, die Konflikte um die verschiedenen Konzepte von Europa und vom Frieden zu veranschaulichen. Das zeigt die widersprüchliche Rezeption des Films: 1937 erhielt er am Internationalen Festival von Venedig einen Preis; allerdings nicht den Mussolini Preis, der für nicht angemessen gehalten wurde. Dennoch wurde der Film im faschistischen Italien aufgrund seines „Quietismus, Pazifismus und Anti-Heroismus“ vom Verleih ausgeschlossen. 1938 bekam La grande Illusion in New York den Preis für den besten ausländischen Film zuerkannt. Die französische Zensur, die den Film für ein Beispiel von Defätismus hielt, erteilte indessen bis 1946 keine Aufführungsgenehmigung.

Die starke emotionale Wirkung des Films wird auf verschiedenen Wegen erreicht, unter anderem durch die Verknüpfung von akkuratem Realismus und der „Öffnung hin zur Illusion“, wie es Renoir selbst nannte. Renoir hob hervor, er sei vor allem auch dem Schauspieler Erich von Stroheim für seine Leistung dankbar, weil dieser es verstanden habe, in seiner Rolle das so notwendige „Illusionäre“, „Phantastische“ in den Film einzubringen.

Das führt uns zurück auf die doppelte Bedeutung der Illusion. Ein Hauch Illusion darf in einem realistischen Bild nicht fehlen! Wenn wir, was wir auch sollten, an die gewaltigen Hindernisse auf dem Weg zu einer wirklichen Einigung Europas denken, dann ist Europa heute eine Illusion im negativen Sinn. Das bezieht sich nicht nur auf das Fehlen einer gemeinsamen Außenpolitik, sondern auch auf die geringe Intensität der Beziehungen der Europäer im Alltagsleben und die mangelnde Chancengleichheit. Wer auf diesem Kontinent schon einmal in einem anderen als seinem eigenen Land gearbeitet und gelebt hat, kennt die Probleme, die sich zum Beispiel aus der fehlenden Einheitlichkeit des Gesundheits- und Bankwesens für das tägliche Leben ergeben. Wir sollten die Anregung von Margaret Storm Jameson aufnehmen, die in den 1930er Jahren schrieb, der Prozess zur Verwirklichung einer wahren europäischen Union solle auf ein Europa abzielen, in dem alle Menschen und vor allem Kinder den gleichen Grad an Lebensqualität und Sicherheit genießen. Jameson glaubte vor allem an die Entwicklung öffentlicher Infrastrukturen und Dienstleistungen in Europa, etwa im Bereich der Kommunikation und der medizinischen Versorgung. Ihr Programm wartet immer noch darauf, in die Tat umgesetzt zu werden! Denken wir nur an Einrichtungen im Kommunikationsbereich, wo ein Sender wie Arte im TV-Sektor immer noch allzu isoliert dasteht.

Ein wirklich europäisches Alltagsleben aufzubauen, ist andererseits vielleicht die größte Illusion, im positiven Sinn einer vorgestellten und noch auszugestaltenden Zukunft! Sicher wird dies für lange Zeit viele Anstrengungen erfordern. Ich glaube, dass ein solches Ziel aber gleichzeitig nur auf dem parallelen Weg einer Umbildung Europas zu einer Friedensmacht verfolgt werden kann, die zu eigenständigen Initiativen auf der internationalen Bühne fähig ist. Der Vorschlag von Balibar, Europa als „verschwindenden Vermittler“ innerhalb einer „Anti-Strategie“ zu sehen, macht Sinn und kann im Rahmen eines Konzepts von Dekonstruktion und Rekonstruktion des Europäischen weiterentwickelt werden. Ich habe mich in den letzten zwölf Jahren vor allem darum bemüht, essentialistische und hierarchische Formen europäischer Zugehörigkeit zu dekonstruieren. Doch historische Arbeit kann nie allein dekonstruktiv sein: die analytische und die narrative Seite unserer Arbeit gleichen sich immer wieder aus. Ich hatte immer den Eindruck, dass beide Aufgaben in freundschaftlicher Zusammenarbeit geteilt werden und in diesem Sinne bin ich dankbar für die vielfältigen Verbindungen zu anderen Historikerinnen und Historikern in ganz Europa und wünsche und hoffe, dass sich unsere konstruktiven Bemühungen noch verstärken werden.

Der Film von Renoir macht diesbezüglich viele Vorschläge. Er spricht von Solidarität zwischen Menschen verschiedener Kulturen, Klassen und Nationen, einer Solidarität, die auf Kameradschaft, Freundschaft, Sympathie und Liebe beruht. Er spricht von Kontinuität zwischen Gegenwart und Vergangenheit, die sich im Miteinander und gegenseitigen Respekt von Menschen aus dem Volke und den alten Aristokratien verkörpert. Er spricht von Solidarität mit der Natur, was in unserer heutigen Zeit sogar noch wichtiger und dringlicher geworden ist, als es in den 1930er Jahren war. Die Überwindung von Vorurteilen zeigt der Film am Beispiel des Bildes von Rosenthal, der dem kleinen Mädchen bei der Vorbereitung ihrer Weihnachtskrippe hilft und den kleinen Jesus als seinen „Rassenbruder“ bezeichnet. Er erinnert uns schließlich auch an die doppelte Natur der Illusion, die trügerisch sein kann und es auch wirklich war, da ja zwei Jahre nach dem Film der Zweite Weltkrieg begann. Aber er hat doch immer noch eine positive Seite, indem er über die Zeit hinweg die Botschaft von Humanität und Frieden verbreitet.

 


[1] Essay zur Quelle Nr. 3.4, Jean Renoir: La grande illusion (Film aus dem Jahr 1937); Übersetzung des Essay aus dem Englischen von Franziska Kuschel und Florian Kemmelmeier.

[2] Norman Angell, The great illusion. A study of the relation of military power in nations to their economic and social advantage, London 1910.

[3] Ders., Europe´s optical illusion, London 1909.

[4] Vgl. Quelle Nr. 3.4, Bild 1.

[5] Vgl. ebd., Bild 2, mit den französischen Soldaten und ihrem Offizier in der Mitte.

[6] Vgl. ebd., Bild 3, mit Dita Parlo in der Rolle der Witwe.

[7] Vgl. ebd., Bild 4.

 


Literaturhinweise:

  • Balibar, Etienne, L’Europe, l’Amérique, la guerre, Paris 2003
  • DeVincenti, Giorgio, Jean Renoir. La vita, i film, Venedig 1996
  • Grossi, Verdiana, Le pacifisme européen 1889-1914, Brüssel 1994
  • Renoir, Jean, Ma vie et mes films, Paris 1974

Renoir, Jean: La grande illusion (Film, 1937)[1]


[1] Bessy, Maurice; Chirat, Raymond, Histoire du cinéma français. Encyclopédie des films 1935-1939, Paris 1987, S. 217-218.

 


Die Druckversion des Essays findet sich in Hohls, Rüdiger; Schröder, Iris; Siegrist, Hannes (Hg.), Europa und die Europäer. Quellen und Essays zur modernen europäischen Geschichte, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2005.
Für das Themenportal verfasst von

Luisa Passerini

( 2007 )
Zitation
Luisa Passerini, Europa, "die große Illusion", in: Themenportal Europäische Geschichte, 2007, <www.europa.clio-online.de/essay/id/fdae-1349>.
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