Die paneuropäische Touristenklasse. Zum Potential der Historischen Tourismusforschung
Von Hasso Spode
Die Geschichtswissenschaft, so der britische Historiker John Pimlott, hat eines der wichtigsten Kennzeichen der modernen Kultur und Ökonomie ignoriert: „the migration of holidaymakers to the sea, the countryside, the mountains“.
Als Pimlott dies schrieb, lag Europa in Trümmern – und doch bevölkerten wieder zehntausende die See- und Kurbäder: für die Ober- und Mittelschichten war das „Verreisen“ ein fester Bestandteil der Lebensgestaltung geworden. Wieder und wieder wurde seither Klage über den blinden Fleck im Auge der Historie – zumal dem der deutschen Sozialgeschichte – geführt. Inzwischen hat das ceterum censeo durchaus Früchte getragen: Eine kaum mehr überschaubare Zahl von Arbeiten zur Geschichte des Tourismus sind erschienen; es lässt sich geradezu von einen Boom sprechen. Ein Monopol der Historie ist das Themenfeld freilich nicht geworden, vielmehr zeichnen sich die Konturen einer Historischen Tourismusforschung ab, an der diverse Disziplinen und Subdisziplinen beteiligt sind, von der Volkskunde bis zur Geografie.
Der Tourismus ist ein Kind Europas. Wenngleich er bisweilen auf alteuropäische Wurzeln – die Pilgerreise oder die Grand Tour – zurückgeführt wird, so herrscht doch mehrheitlich der (oft unbewusste) Konsens, hierin ein „modernes“, wenn nicht im weitesten Sinne „bürgerliches“ Phänomen zu sehen.Dabei kann der Beitrag der scheinbar zweckfreien „Freizeitreise“ (E. K. Scheuch) zur Formierung der westlichen Welt schwerlich überschätzt werden. Dies nicht allein, weil sie ökonomisch eine enorme Erfolgsgeschichte war – tourismushistorische Themen erweisen sich als bestens anschlussfähig an ganz andere Fragen, beginnend mit solchen „kürzerer“ und „mittlerer Reichweite“, etwa zur Dynamik von Regionen oder Verkehrssystemen, zur Entwicklung der Lebensreform- und der Arbeiterbewegung, zur Sonderwegs- und Feudalisierungsthese, oder zur Herstellung von Legitimität durch Massenkonsum im Kontext des Siegeszugs eines ‚hedonistischen’ Lebensstils. Dies sind schon eher Fragen „großer Reichweite“; gerade hierfür kann der Tourismus als Schlüssel fungieren: man denke an die basalen Mechanismen sozialer und politischer Distinktion mit ihrer öffentlichen und privaten Territorialisierung, an die Herausbildung von kollektiven Identitäten und ‚Heimaten’ verschiedenster Bezugsgrößen, oder von den Rollen der Geschlechter und des Kindes im Kontext einer modellhaften „Bürgerlichkeit“, schließlich an die Entstehung und Struktur des „touristischen Blicks“ zur Konstruktion von Authentizität, Natur und Geschichte mit den entsprechenden Körperbildern und -praktiken.
So vielgestaltig wie die Themen und Fragen, sind auch die möglichen Quellen. Dabei sei zunächst an die banale Tatsache erinnert, dass Tourismus ein Mengenphänomen ist (und somit ein prima vista wenig prestigeträchtiges Sujet). Für einige Kurorte reichen Gästelisten bis um 1800 zurück; die publizierten Statistiken bleiben freilich bis in die Zwischenkriegszeit mit Fragezeichen behaftet; meist sind nur Schätzungen möglich. Mit dem Charakter der touristischen Reise als per se massenhaftem Raum- und Erfahrungskonsum hängt indirekt auch der hohe Stellenwert ‚trivialen’ gedruckten Materials zusammen: Prospekte, Reiseführer und -zeitschriften können eine Fundgrube für die Forschung sein. Bücher landeten, seit es Pflichtexemplare gibt, in Zentralbibliotheken, ansonsten wurde solches Verbrauchsmaterial wenig gesammelt. Zumal für Ungedrucktes (Reiseaufzeichnungen, Akten etc.) kommen jedoch behördliche Archive aller Ebenen in Frage. Bei Alpen- und Touristenvereinen wird man ebenfalls fündig werden, wogegen kommerzielle Verbände und Veranstalter – Ausnahmen, wie das Londoner Cook-Archiv (ATC) bestätigen die Regel – selten über gute Sammlungen verfügen. In jedem Fall ist das potentielle Material nicht nur inhaltlich, sondern auch räumlich so weit gestreut, dass oft nur lokal oder institutionell begrenzte Studien in Angriff genommen werden können. Dies erzeugt einen Bias zugunsten des organisierten Reisens und es kann in eine Affirmation nationaler Stereotype führen (da haben dann die Deutschen die Heimat „erfunden“, die Briten die Alpen etc.) – das Querschnittsphänomen „Tourismus“ macht es nicht leicht, dem fiktiven Leitstern einer histoire totale zu folgen. Hilfreich sind da die in den letzten Dekaden entstandenen Sammlungen, die nicht auf eine Region oder Organisation spezialisiert sind. In Mitteleuropa ist dies zumal das Historische Archiv zum Tourismus (HAT) am Willy-Scharnow-Institut der Freien Universität Berlin.
Als Beispiel seien aus dem Bestand des HAT zwei Hotelinserate herausgegriffen.Im Guide Joanne über das Seebad Biarritz wirbt da 1913 das Palais als „Ex-Résidence Impériale“. Die 300 Zimmer waren nach amerikanischem Vorbild durchweg mit Bad und/oder Toilette ausgestattet; Wintergarten, Park, Tennisplätze, eigenes Orchester und Meeresblick machten es zu einem der 9 Häuser der „Spitzenkategorie“ am Ort – ein typisches Palast-Hotel der Jahrhundertwende, historisierend-pseudofeudale Stilelemente mit dem „confort moderne“ zu einer rationellen Dienstleistungsmaschine kombinierend.Ein bescheideneres Exemplar einer solchen Maschine war das Quisisana im kaum minder „eleganten“ Heringsdorf, das 1908 im Verbandsführer der Ostsee-Bäder inserierte. Im Baustil vergleichbar, mussten sich hier offenbar viele Gäste Bad und Toilette mit anderen teilen, und das elektrische Licht wird noch stolz erwähnt; die Lage nahe des Piers, die Zimmerpreise und die „Autogarage“ lassen jedoch ebenfalls auf ein sehr „gehobenes“ Publikum schließen.
Biarritzam Golf von Biscaya und Heringsdorfauf Usedom – so verschieden ihr „Flair“ von den Gästen auch wahrgenommen wurde – waren Knotenpunkte in einem kräftig expandieren Netz von im Wortsinne „mondänen“, weithin austauschbaren Kunstorten, einzig erschaffen für die Bedürfnisse einer „Touristenklasse“; einer „Klasse“, nach innen zwar hochgradig differenziert nach Geld, Geburt und Geschmack, nach außen jedoch verbunden durch einen touristischen Habitus und das Privileg der Teilhabe am Fremdenverkehr, ein Privileg, das schließlich grosso modo mit der ‚Kragenlinie’ zusammenfiel.
Diese „exklusive Demokratisierung“ des Tourismus (H. Bausinger) im oberen Zehntel der Bevölkerung war ein zweischneidiges Schwert. Zu Recht wiesen Kritiker auf den Preis hin, den sie einforderte: den Verlust von Unterscheidbarkeit und Unerreichbarkeit, und damit auch von räumlicher und sozialer Exklusivität. Heimatschützern und Bergenthusiasten geriet der „Kellner“ zum Inbegriff des Kommerzialisiert-Unauthentischen; manche Familie flüchtete vor dem „High life“ der großen Bäder in die stille Sommerfrische. Aber auch die Idylle solch „marginaler Paradiese“ (E. Cohen) hatte selten Bestand. Die Klage über die nivellierende Kraft des Tourismus ist bekanntlich nicht verstummt – und damals wie heute hält sie keineswegs davon ab, zu verreisen. „Alle Welt reist“, notierte Fontane und meinte damit das Bildungs- und Wirtschaftsbürgertum.
Die Allermeisten reisten im Inland, allenfalls – mit Ausnahme der Engländer – in Nachbarländer. Der Binnentourismus leistete einen gehörigen Beitrag zur Nationenbildung. Den obersten Segmenten innerhalb der „Touristenklasse“ aber stand die Welt offen. Im Reisebüro konnten sie Polarfahrten oder monatelange Weltreisenbuchen. Selbst von denen, die über das nötige Geld- und Zeitbudget verfügten, nutzten freilich nur wenige die Infrastruktur des imperialistischen „Weltsystems“ für solch exotische Fernreisen. Stattdessen erblühte ein transnationales Europa des Luxus und der Moden. Dank einer enormen Freizeitmobilität – hieran waren Frauen wie Männer beteiligt – erschufen sich die Oberschichten jenes „Paneuropa des Verkehrs“, das Georges Nadelmackers 1876 bei der Gründung seiner Compagnie Internationale des Wagons-Lits vorgeschwebt hatte.An den Küsten von Nord- und Ostsee, des Atlantik und des nördlichen Mittelmeers, in den Kurbädern Böhmens, des Alpenraums, Deutschlands und Frankreichs, versammelte sich die europäische „Gesellschaft“ aus Großbourgoisie und Hochadel, was wiederum andere Wohlhabende nachzog (bis herunter zu den „Passanten“, die des Sonntags als Zuschauer in die Seebäder strömten, in der Hoffnung eine Königin oder wenigstens einen Minister zu Gesicht zu bekommen). Einerseits war hier eine entortete Spaßgesellschaft entstanden, wo „viktorianische“ Konventionen außer Kraft gesetzt waren und die Milieugrenzen fließend sein konnten; anderseits ging es sehr ernsthaft um die Zurschaustellung und Mehrung kulturellen und sozialen Kapitals – eine Arena der Familien- oder gar Staatspolitik.
Politische Grenzen bedeuteten dieser leisure class nicht viel. Ins Spielerische gewendet, schrieb sie das polyglotte Erbe des alteuropäischen Adels fort, wobei ein elitär-“paneuropäisches“ Wir-Gefühl Hand in Hand ging mit komplexen internen Fraktionierungen. Kulturräume nahm diese Elite, wenn überhaupt, transnational bzw. regional wahr; ihre mentalen Landkarten wurden durch „Brauchtum“, Landschaft und Klima geprägt. Das böhmische Bäderdreieck war auf dieser Landkarte weder tschechisch noch österreichisch, sondern europäisch; gleiches galt sinngemäß für die Riviera oder die südlichen Alpenseen.Just auf der von der Kulturkritik beklagten Interesselosigkeit gegenüber den Bereisten, auf dem elitären Einfordern von ubiquitären Standards basierte das europäische Freizeitnetz. Das bisweilen gepflegte „Landestypische“ diente weniger nationalen Zuschreibungen, denn als pittoresker Marker, der half, die Destinationen trotz der immer gleichen Grand Hotels mit ihrer globalisierten Grande Cuisine unterscheidbar zu machen; für Biarritz leisteten dies etwa der Stierkampf und das baskische Pelote-Spiel.
Das Reisen war für die Eliten angstfrei und bequem. Luxuszüge mit gediegenen Restaurants und Schlafwagen verbanden die Metropolen mit den Freizeitzentren, Terrorismus war unbekannt, das Kommunikationsnetz dank Post, Telegraf und Telephon hervorragend. Meist benötigte man weder Pass noch Visum, um kreuz und quer durch den Kontinent zu fahren. Es war dies ein Europa, das wusste, dass seine Komponenten bei aller Verschiedenheit doch anschlussfähige Strukturen besaßen, ein Europa, das grosso modo in seinen Grenzen der heutigen EU entsprach. Hier reichte es, eine Postausweiskarte bei sich zu führen (die für 50 Pfennig auf jedem Postamt erhältlich war) und beim Grenzübertritt genügend Barschaft bzw. die weltweit gültigen Traveller Cheques vorzuweisen.
Die heute meist als neuartig wahrgenommene Globalisierung ist so neuartig nicht. Und sie erweist sich keineswegs als unumkehrbar: 1914 ging das glänzende „Paneuropa“ unter.Der Beitrag des Elitetourismus zur Schaffung eines kerneuropäischen Kulturraums war beträchtlich; seine soziale und politische Basis erwies sich freilich als viel zu schmal, um ein wirkungsvolles Gegengewicht zum nationalstaatlichen Identitätskonzept zu bilden.
[1] Essay zur Quelle Nr. 1.9, Annoncen von Grand Hotels vor dem Ersten Weltkrieg: Biarritz (Frankreich), Heringsdorf (Deutschland).
[2] Pimlott, John Alfred Ralph, The Englishman's holiday. A social history, London 1947, zit. n. der 2. Aufl., Hassocks 1977, S. 9.
[3] Sogar in Deutschland: Vgl. Spode, Hasso (Hg.), Goldstrand und Teutonengrill. Kultur- und Sozialgeschichte des Tourismus in Deutschland. 1945-1989, Berlin 1996.
[4] Hans-Ulrich Wehlers ‚Bibliographie zur neueren deutschen Sozialgeschichte’, München 1993, schwieg zum Tourismus, und noch die amibitionierte ‚Europäische Konsumgeschichte’, hg. von Hannes Siegrist u.a., Frankfurt am Main 1997, informiert uns zwar über Eigenarten des italienischen Kleinhandels, doch findet sich unter den 32 Beiträgen kein einziger zum Massenreisen. Gereist sind derweil die „Kulturbedeutung“ und mit ihr die Themen. Allein an deutschsprachigen Hochschulschriften der letzten 3 Jahre seien genannt: Merki, Christoph Maria, Der holprige Siegeszug des Automobils. 1895-1930. Zur Motorisierung des Straßenverkehrs in Frankreich, Deutschland und der Schweiz, Wien 2002; Schumacher, Beatrice, Ferien. Interpretation und Popularisierung eines Bedürfnisses. Schweiz 1890-1950, Köln 2002; Prein, Phillip, Bürgerliches Reisen im 19. Jahrhundert. Freizeit, Kommunikation und soziale Grenzen, Diss. Berlin 2002; Mai, Andreas, Die Erfindung und Einrichtung der Sommerfrische. Zur Konstituierung touristischer Räume in Deutschland im 19. Jh., Diss. Leipzig 2002; Pagenstecher, Cord, Der bundesdeutsche Tourismus. Ansätze zu einer Visual History: Urlaubsprospekte, Reiseführer, Fotoalben. 1950-1990, Hamburg 2003; Kersten, Oliver, „Laßt weit zurück die Stätten eurer Fron!“ Kontinuitäten und Brüche in der Naturfreundebewegung in der Region Berlin-Brandenburg, Diss. Berlin 2004. Bereits Zimmers, Barbara, Geschichte und Entwicklung des Tourismus (Trierer Tourismusbibliographien 7), Trier 1995, brachte es auf 729 Titel; regelmäßig findet sich Historisches im Jahrbuch Voyage; seit 2003 informiert H-Travel (h-net.msu.edu) über Neuerscheinungen und Tagungen. Zum Forschungsstand siehe auch Koshar, Rudy, German Travel Cultures, Oxford 2000; Baranowski, Shelley; Furlough, Ellen (Hg.), Being elsewhere: Tourism, consumer culture, and identity in 19th and 20th century Europe and North America, Ann Arbor 2001; Berghoff, Hartmut u.a. (Hg.), The making of modern tourism. The cultural history of the British experience. 1600-2000, New York 2001; Tissot, Laurent (Hg.), Construction d´une industrie touristique aux 19e et 20e siècles, Neuenburg 2003; Leonardi, Andrea; Heiss, Hans (Hg.), Tourismus und Entwicklung im Alpenraum. 18.-20. Jh., Innsbruck 2003 sowie Pagenstecher, Cord, Neue Ansätze für die Tourismusforschung. Ein Literaturbericht: in Archiv für Sozialgeschichte 38 (1998), S. 591-619; Walton, John K, Taking the history of tourism seriously, in: European History Quarterly 27 (1997), S. 563ff.
[5] Vgl. meine Schaubilder über tourismushistorische Produktionen nach Erkenntnisinteresse und nach Disziplinen in Leonardi; Heiss (wie Anm. 4), S. 92f.
[6] Ein Abriss dieses Narrativs: Spode, Hasso, Der Tourist, in: Frevert, Ute; Haupt, Heinz-Gerhard (Hg.), Der Mensch des 20. Jahrhunderts, Frankfurt am Main 1999; zur Theorie: Ders., "Reif für die Insel". Prolegomena zu einer historischen Anthropologie des Tourismus, in: Cantauw, Christine (Hg.), Arbeit, Freizeit, Reisen, Münster 1995.
[7] Der Tourist ist der „Reise-Trottel“, ein bloßer Konsument, dem der Hautgout der vulgären Masse anhaftet, vgl. Urbain, Jean-Didier, L'idiot du voyage. Histoire de touristes, Paris 1991. Dieses Bild schlug sich in der Forschung nieder. Wenn sich die Historie mit dem Reisen befasste, dann mit Entdeckern, Philosophen, Literaten, Migranten, Soldaten. So kommt es, dass seit dem 19. Jh. alljährlich Millionen Menschen in den Urlaub fahren, über die wir zusammengenommen nicht viel besser informiert sind, als über die Verdauungsprobleme Montaignes auf seiner Italienreise.
[8] Hinzukommen die der vortouristischen „Reisekultur“ gewidmete Sammlung der Landesbibliothek Eutin und das Eco-Archiv in Hofgeismar mit Schwerpunkt Naturschutz und soziale Bewegungen.
[9] Vgl. Quelle Nr. 1.9a und Nr. 1.9b.
[10] Zum „Fordismus“ in der Tourismusindustrie siehe Spode, Hasso, Fordism, mass tourism and the third Reich: the "strength through joy" seaside resort as an index fossil, in: Journal of Social History 38 (2004); zur Baugeschichte siehe Schmitt, Michael, Palast-Hotels. Architektur und Anspruch eines Bautyps. 1870 bis 1920, Berlin 1982.
[11] In Deutschland kam auf 20-30 Betten ein Bad; selbst das Berliner Adlon hatte für seine 325 Zimmer nur 140 Bäder, vgl. Stradner, Josef, Der Fremdenverkehr, 2. Aufl., Graz 1917, S. 49.
[12] Biarritz, 10 Bahnstunden von Paris, zählte 18.000 Einwohner; das Fischerdorf stieg nach 1850, angestoßen durch Kaiserin Eugénie, zu einem der exklusivsten Seebäder der Welt auf. Neben Madeira war es ein Vorreiter des Sommerurlaubs im Süden („ouvert toute l´année“) und damit der Diffusion der nördlichen Strandpraktiken, die schließlich in Verbindung mit dem Südseetraum zum „global beach“ führte (hierzu Urbain, Jean-Didier, Sur la plage. Moeurs et coutumes balnéaires (XIXe-XXe siècles), Paris 1994; Löfgren, Orvar, On holiday. A history of vacationing, Berkeley 1999; Spode, Hasso, Badende Körper – gebräunte Körper. Zur Geschichte des Strandlebens, in: Hasselmann, Kristiane; Schmidt, Sandra; Zumbusch, Cornelia (Hg.): Utopische Körper, München 2004, S. 233-248.
[13] Heringsdorf war Teil der Usedomer Bäderkette mit insgesamt 17.000 Einwohnern; 1819 als Villenkolonie gegründet, wurde es ab 1872 zum Tourismuszentrum ausgebaut. Nur knapp 3 Bahnstunden von der Hauptstadt, spiegelte die Bäderkette den sozialen Kosmos des „besseren“ Berlin: in Swinemünde gab das Militär den Ton an, in Ahlbeck das mittlere Bürgertum, in Heringsdorf die Großkapitalisten, und in Bansin die Künstler. Seit der Jahrhundertwende wurden solche Milieuunterschiede zunehmend politisch-rassistisch überhöht: zumal in den USA erstarkte ein „resort antisemitism“, aber auch in Deutschland, vgl. hierzu Bajohr, Frank, "Unser Hotel ist judenfrei". Bäder-Antisemitismus im 19. und 20. Jh., Frankfurt am Main 2003. So wurde Bansin 1914 vom Jüdischen Centralverein als „antisemitisch“ eingestuft, wogegen Heringsdorf nicht nur vom Kaiser, sondern auch von jüdischen Magnaten besucht wurde und prompt als „Judenbad“ galt.
[14] Nur „geistig Tätige“ bedurften der „Regeneration“: vgl. Schumacher (wie Anm. 4); Spode, Hasso, Wie die Deutschen „Reiseweltmeister“ wurden. Eine Einführung in die Tourismusgeschichte, Erfurt 2003.
[15] Vgl. den Bericht Carl Stangens: Eine Reise um die Erde. 1878/79, Leipzig 1880; das Reisebureau Stangen verlangte 1900 für eine solche Weltreise 11.000 Mark.
[16] Zit. n. Griep, Wolfgang, Wie das Essen auf Räder kam. Zur Vor- und Frühgeschichte des Speisewagens, in: Voyage 5 (2002), S. 136. Im späten 19. Jh. traten die kolonialen und halbkolonialen Gebiete am arabischen Mittelmeer sowie die USA hinzu.
[17] Suprastaatlich auch – allerdings nicht mit „mondänem“, sondern im Gegenteil mit „volkstümlichem“, später völkischem Unterton – die mentale Landkarte der Ostalpen: „Unter Tirol ist hier meist durchweg das deutsch-österreichische Alpenland gemeint, also Oberbayern und Tirol nebst angrenzenden Gebirgsländern.“ Zitat aus Kinzel, Karl, Wie reist man in Oberbayern und Tirol?, 11. Aufl., Schwerin 1914, S. 11; siehe auch Günther, Dagmar, Alpine Quergänge. Kulturgeschichte des bürgerlichen Alpinismus. 1870-1930, Frankfurt am Main 1998. Zu den Reisemodalitäten z.B. Griebens Reise-Notizbuch, Berlin 1912.
[18] Legitimiert mit dem Zauberwort „Zahlungsbilanz“ wurden hohe bürokratische und finanzielle Hürden gegen den „unpatriotischen“ Auslandsurlaub aufgebaut. Fünf Jahrzehnte lang sollte die Schweiz die alten Zahlen nicht mehr erreichen. Zugleich wurde – im Dritten Reich, auch in Italien, England, Frankreich, der Schweiz u.a. – versucht, das Reiseprivileg zu „brechen“, doch erst in den 1960er Jahren wurde die Kragenlinie nachhaltig überschritten.
[19] Eine ganz andere Frage wäre die nach der Pilotfunktion für die spätere „Erlebnisgesellschaft“.
Literaturhinweise:
Bajohr, Frank, „Unser Hotel ist judenfrei“. Bäder-Antisemitismus im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt am Main 2003
Leonardi, Andrea; Heiss, Hans (Hg.), Tourismus und Entwicklung im Alpenraum. 18.-20. Jahrhundert, Innsbruck 2003
Löfgren, Orvar, On holiday. A history of vacationing, Berkeley 1999
Spode, Hasso, Wie die Deutschen „Reiseweltmeister“ wurden. Eine Einführung in die Tourismusgeschichte, Erfurt 2003
Tissot, Laurent (Hg.), Construction d´une industrie touristique aux 19e et 20e siècles, Neuenburg 2003