Rousseaus "Emile" - oder der Beginn moderner Erziehungsreflexion.

Im Sommer 1762 erschien kurz vor dem „Contrat Social“ Rousseaus „Emile oder über die Erziehung“. Der Roman löste einen europaweiten Skandal aus. In Paris wurde der Emile sogleich verboten und selbst in Genf wurde das Werk kurz danach, am 19. Juni 1762, auf den Index gesetzt und öffentlich verbrannt. Sein Autor, der sich auf dem Titelblatt stolz als „citoyen de Genève“ bezeichnet hatte, war hier wie in Frankreich mit Verhaftung bedroht, der er nur durch rasche Flucht in die Schweiz entgehen konnte.[...]

Rousseaus „Emile“ – oder der Beginn moderner Erziehungsreflexion[1]

Von Heinz-Elmar Tenorth

Im Sommer 1762 erschien kurz vor dem „Contrat Social“ Rousseaus „Emile oder über die Erziehung“.[2] Der Roman löste einen europaweiten Skandal aus. In Paris wurde der Emile sogleich verboten und selbst in Genf wurde das Werk kurz danach, am 19. Juni 1762, auf den Index gesetzt und öffentlich verbrannt. Sein Autor, der sich auf dem Titelblatt stolz als „citoyen de Genève“ bezeichnet hatte, war hier wie in Frankreich mit Verhaftung bedroht, der er nur durch rasche Flucht in die Schweiz entgehen konnte. Sicherheit fand er schließlich in der preußischen Enklave Neuchâtel. Gegen den zentralen Vorwurf, der Emile, vor allem sein IV. Buch mit dem „Glaubensbekenntnis des savoyischen Vikars“ und dem Plädoyer für natürliche Religion, versündige sich gegen Religion und Kirche, verteidigte sich Rousseau 1763 in dem ausführlichen und rhetorisch meisterhaften „Brief an Herrn von Beaumont“, den Erzbischof von Paris, Christoph de Beaumont, der ihn 1762 öffentlich verurteilt hatte. Das blieb zunächst ohne Erfolg, auch in Genf galt er weiterhin als gefährlicher Denker, so dass Rousseau, tief enttäuscht, auf sein Bürgerrecht verzichtete.

Die Zensur hat den überwältigenden Erfolg des Emile nicht verhindern können, aber früh deutet sich auch schon an, dass dieses epochemachende Buch über die moderne Erziehung nicht allein wegen seiner Ideen, sondern zumindest in gleicher Weise durch die Kritik und aus der sich verselbständigenden Rezeption der Zeitgenossen und Nachgeborenen lebt. Obwohl bis heute international erfolgreich und in allen westlich beeinflussten Kulturen einen Standardplatz unter den Klassikern der Pädagogik einnehmend, wurde die Rezeption in Deutschland, seit 1762 und kontinuierlich bis heute, ein Phänomen besonderer Intensität, für die Wahrnehmung Rousseaus und die Interpretation des Emile auch international eigentümlich folgenreich. Erziehungsphilosophisch ist es eher der „deutsche Rousseau“ als der authentische Text, von dem die Debatte bestimmt war und ist.

Die deutschsprachigen Pädagogen der Aufklärung, die so genannten Philanthropen, sind die ersten emphatischen Leser Rousseaus. Sie veröffentlichten zwischen 1789 und 1791 in vier Bänden, zugleich der 12. bis 15. Teil ihres Standardwerkes „Allgemeine Revision des gesammten Erziehungswesens“ [3] , nicht nur eine vollständige Übersetzung des Emile, sie kommentierten und kritisierten ihn auch intensiv. Darin spiegelt sich nicht allein ihre Überzeugung, dass hier das „wichtigste Buch, das je über Erziehung geschrieben wurde“ vorgelegt worden sei [4] , mit ihrem Kommentar wollten die Philanthropen, die sich stolz als „Adepten“ Rousseaus bezeichneten, zugleich dafür sorgen, dass die Ideen des Meisters in der angemessenen Weise rezipiert wurden. Angemessen, das hieß für sie, dass die Erziehungstheorie Rousseaus pragmatisch, politisch und pädagogisch kontrolliert und entschärft werden musste. Dieser „pädagogische Rousseau“ bleibt bis heute ein eigentümliches Phänomen, auch dann, wenn er die Erziehungskritik reformpädagogischer oder gesellschaftskritischer Bewegungen, wie etwa um 1900 oder nach 1968, munitionieren half.[5]

Der Emile liefert aber auch allen Grund für eine im Zeitverlauf wechselnde Rezeption und Instrumentalisierung zwischen Zensur und einer pädagogisierenden Aneignung, zwischen der Umdeutung ad usum delphini und der radikalisierenden Aneignung zum Zwecke der Kritik aller Erziehung in der bürgerlichen Gesellschaft. Denn bis heute sind vielleicht die Elemente unstrittig, aus denen Rousseau dieses grandiose Gedankenexperiment einer Erziehung außerhalb der negativen Einflüsse einer verdorbenen Kultur konstruiert, in Fortsetzung seiner kulturkritischen Preisschriften und als pädagogische Antwort, neben der politischen, die der Contrat Social auf die kulturkritische Diagnose liefert. Höchst kontrovers ist dagegen bis heute, ob der Emile in sich konsistent ist oder ob hier im Fortgang des Lebenslaufs letztlich zwei Erziehungssysteme konstruiert wurden, wonach der Heranwachsende in der Kindheit anders, nämlich über Erfahrung, als im Jugendalter gesteuert wird, wenn der Lehrer und die Belehrung regieren. Rousseaus Emile gilt ferner insofern als widersprüchlich, als der Propagandist des natürlichen Menschen für den weiblichen Teil der Menschheit ganz andere, sehr konventionelle und geschlechtsspezifische Erziehungsziele und -praktiken empfiehlt. Höchst kontrovers ist schließlich auch, welchen Status diese Erziehungsschrift im Kontext der gesamten pädagogisch-politischen Argumente Rousseaus hat.

Blickt man zunächst auf die Elemente der Konstruktion, die leitenden Begriffe und Ideen, dann stößt man unschwer auf seinen Begriff der Natur. Sie sorgt bei Rousseau im Widerstreit von Eigenliebe und Selbstliebe für die Dynamik des Aufwachsens und fundiert auch die Differenz von Mensch und Bürger. Letztlich unterscheidet Rousseau idealtypisch drei „Erzieher“, also die Natur, die Menschen und die Dinge, die in Harmonie zueinander zu bringen die wesentliche pädagogische Erwartung und Erfolgsbedingung ist. Rousseau setzt auf die Kindheit als Lebensphase eigenen Rechts und auf den Lebenslauf als den Prozess der moralischen Konstruktion des Menschen. Bezogen auf die Formtypik der Erziehung wird der paradoxe Begriff „negativer Erziehung“ bedeutsam, samt den ungewöhnlichen und unseren pädagogischen Alltagsverstand irritierenden Empfehlungen, dass es besser sei, nichts zu tun als irgendetwas zu tun, Zeit zu verlieren als zu gewinnen. Ungewöhnlich ist auch die Kritik an John Locke, in der Rousseau vor dem „Räsonnieren“ mit den Kindern ebenso abrät wie vor zu früher Belehrung aus Büchern. Ein Plädoyer für die Erziehung ist aus der Erfahrung und aus dem Umgang mit den Dingen begründet.

Das systematische Problem beginnt erst dann, wenn aus den Elementen ein System konstruiert wird, weil sich dann die Frage stellt, ob möglich und wünschenswert ist, was Rousseau konstruiert. Für die Prüfung dieser Frage ist der Hinweis auf Rousseaus eigene Erziehungspraxis und das Abschieben der eigenen fünf Kinder ins Findelhaus zwar alt, aber nicht sinnvoll. Denn ein Gedankenexperiment, und genau das ist der Status des Emile, soll allein die Bedingungen und Möglichkeiten alternativer Erziehung konstruieren, nicht ihre Empirie schon zeigen oder gar Rezepte liefern, auch wenn Tenor und Duktus vieler Abschnitte dies nahe zu legen scheinen. Es soll die pädagogische Kritik und Selbstkritik stimulieren und nicht ein Modell unabhängig von Zeit und Raum präsentieren, sondern eine Option für eine Gesellschaft, der die sozialen, politischen und institutionellen Voraussetzungen für eine Erziehung fehlen, die der Natur des Menschen zu ihren Möglichkeiten verhilft. Wenn Rousseau dagegen in seinen Schriften über die Republik, ob in Genf oder für Polen, nicht über Erziehung in einer anderen Welt nachdenkt, dann konstruiert er keine emilischen Systeme fernab der Welt, sondern folgt dem Modell der platonischen Staatserziehung durch eine kontrolliert-kontrollierende Öffentlichkeit. Hier wie auch im Emile ist die Erziehung deshalb alles anders als ‚rousseauis­tisch’, wie man später eine zügellos-anarchische Erziehung fälschlich nannte; schon sein Freiheitsbegriff sieht das Kind als Objekt des Erziehers, ausgesetzt den Notwendigkeiten, die sein Lernen ordnen. „Wohlgeordnete Freiheit“ ist Rousseaus pädagogisches Weltmodell, nicht laisser-faire oder antiautoritäre Erziehung. Auch von einem unaufhebbaren Konflikt von Mensch und Bürger, die als disjunkte Wege der Orientierung legitime oder illegitime Erziehung trennen, wie es eine jüngere Lesart Rousseaus in Deutschland tradiert, ist Rousseau weit entfernt. Vergesellschaftung als Form und Chance der Individualisierung, das ist seine Herausforderung. Dafür eine angemessene Welt zu konstruieren, ist die pädagogische Aufgabe, und dabei die Natur des Kindes so wenig zu ignorieren wie die Möglichkeiten oder Hindernisse in der jeweiligen Gesellschaft. Diese Kriterien bestimmen den Referenzraum, in dem man die Angemessenheit der jeweiligen Konstruktion einer Erziehungswelt prüfen kann.



[1] Essay zur Quelle Nr. 2.1, Jean-Jacques Rousseau: Emile (1762).

[2] Rousseau, Jean Jacques, Emile ou de l’éducation, Paris 1762 bei Duchesne (mit dem fiktiven Verlagsort Amsterdam) und beim Verlag Néaulme. Vgl. Quelle Nr. 2.1 mit Auszügen aus dem 1. und 2. Buch der aktuellen Edition von Martin Rang.

[3] Herausgegeben v. Joachim Heinrich Campe zusammen mit der „Gesellschaft practischer Erzieher“, so die Selbstbeschreibung der Philanthropen, erschienen die Bände in Wien und Braunschweig (ND Vaduz 1979).

[4] So der Philanthrop und kantianisch beeinflusste Erziehungstheoretiker Johann Heinrich Gottlieb Heusinger 1828 in der Einleitung zu seiner Übersetzung des Emile.

[5] Exemplarisch: Mollenhauer, Klaus, Erziehung und Emanzipation. Polemische Skizzen, München 1968, besonders S. 65ff.

 


Literaturhinweise:
  • Buck, Günther, Über die systematische Stellung des „Emile“ im Werk Rousseaus, in: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 5 (1980), S. 1-40 (auch in: Ders., Rückwege aus der Entfremdung. Studien zur Entwicklung der deutschen humanistischen Bildungsphilosophie, Paderborn 1984, S. 91-134)
  • Fetscher, Iring, Rousseaus politische Philosophie. Zur Geschichte des demokratischen Freiheitsbegriffs, 3. überarb. Aufl., Frankfurt am Main 1975 (sowie neuere Aufl.)
  • Hansmann, Otto (Hg.), Seminar: Der pädagogische Rousseau, Bd. 2: Kommentare, Interpretationen, Wirkungsgeschichte, Weinheim 1996
  • Israel, Jonathan Irvine, Radical enlightenment. Philosophy and the making of modernity 1650-1750, Oxford 2001
  • Talmon, Yaakov Leib, Die Ursprünge der totalitären Demokratie, Köln 1961

Rousseau, Jean-Jacques: Emile (1762)[1]

1. Buch

[…]

Alles, was aus den Händen des Schöpfers kommt, ist gut; alles entartet unter den Händen des Menschen. Er zwingt einen Boden, die Erzeugnisse eines anderen zu züchten, einen Baum, die Früchte eines anderen zu tragen. Er vermischt und verwirrt Klima, Elemente und Jahreszeiten. Er verstümmelt seinen Hund, sein Pferd, seinen Sklaven. Er erschüttert alles, entstellt alles – er liebt die Mißbildung, die Monstren. Nichts will er so, wie es die Natur gemacht hat, nicht einmal den Menschen. Er muß ihn dressieren wie ein Zirkuspferd. Er muß ihn seiner Methode anpassen und umbiegen wie einen Baum in seinem Garten.

Ohne das wäre alles noch schlimmer, und unsere Gattung will nicht halb geformt existieren. So, wie es im Augenblick steht, würde ein nach seiner Geburt völlig sich selbst überlassener Mensch das verbildetste aller Wesen sein. Vorurteile, Autorität, Vorschriften, Beispiel – alle die Einrichtungen der Gesellschaft, in denen wir ertrinken, würden seine Natur ersticken und ihm kein Äquivalent dafür geben. Sie müßte, wie ein Bäumchen, das der Zufall mitten auf einem Weg hat wachsen lassen, alsbald zugrunde gehen, weil die Vorübergehenden es von allen Seiten stoßen und in alle Richtungen biegen würden.

An dich wende ich mich, zärtliche und klarblickende Mutter[2], die du abseits von der großen Straße zu gehen und das heranwachsende Bäumchen vor dem Schock der menschlichen Irrtümer zu schützen wußtest! Pflege und tränke das junge Gewächs, bevor es stirbt; eines Tages werden seine Früchte deine Wonne sein. Friede beizeiten die Seele deines Kindes ein; ein anderer mag den Umkreis abstecken wollen, aber du allein mußt die Schranken setzen[3].

Die Pflanze wird durch Pflege aufgezogen, der Mensch durch die Erziehung. Würde der Mensch groß und stark geboren, so wären Körperwuchs und Kraft ihm völlig unnütz, bis er gelernt hätte, sich ihrer zu bedienen. Sie gerieten ihm sogar zum Nachteil, da die anderen nicht auf die Idee kämen, ihm beizustehen[4], und, ganz sich selbst überlassen, müßte er vor Elend sterben, ohne je kennengelernt zu haben, was er braucht. Man klagt über den Zustand der Kindheit, aber man sieht nicht, daß die menschliche Rasse zugrunde ginge, wenn nicht jeder Mensch zuerst Kind gewesen wäre.

Wir werden schwach geboren und bedürfen der Kräfte; wir werden hilflos geboren und bedürfen des Beistands; wir werden dumm geboren und bedürfen des Verstandes. All das, was uns bei der Geburt noch fehlt und dessen wir als Erwachsene bedürfen, wird uns durch die Erziehung zuteil.

Diese Erziehung kommt uns von der Natur oder den Menschen oder den Dingen. Die innere Entwicklung unserer Fähigkeiten und unserer Organe ist die Erziehung durch die Natur. Der Gebrauch, den man uns von dieser Entwicklung zu machen lehrt, ist die Erziehung durch die Menschen, und der Gewinn unserer eigenen Erfahrung mit den Gegenständen, die uns affizieren, ist die Erziehung durch die Dinge.

[...]

Sobald also die Erziehung zur Kunst wird, ist es nahezu unmöglich, daß sie gelingt, da das zu ihrem Gelingen notwendige Zusammenwirken nicht in der Hand eines Menschen liegt. Das einzige, was man durch Bemühungen erreichen kann, ist, dem Ziel mehr oder weniger nahe zu kommen, aber man muß Glück haben, um es zu erreichen.

Was ist denn dieses Ziel? Es ist die Natur selbst; wir haben es bewiesen.

[...]

2. Buch

[...]

Behandelt euren Zögling seinem Alter gemäß. Weist ihm sofort seinen richtigen Platz an und haltet ihn dort so fest, daß er sich nicht von ihm zu entfernen sucht. Dann wird er, noch bevor er weiß, was Vernunft überhaupt ist, die beste Schulung durchmachen, die ihn zu ihr hinführt. Befehlt ihm nie etwas, was immer es auch sein mag – absolut nichts. Suggeriert ihm nicht einmal die Vorstellung, daß ihr die geringste Autorität über ihn haben könntet. Er soll nur wissen, daß ihr stark seid und er schwach ist und daß er euch durch diese Tatsache notwendigerweise ausgeliefert ist. Er soll es wissen, erfahren und spüren, rechtzeitig spüren, das harte Joch auf seinem stolzen Haupt, das die Natur dem Menschen auferlegt, das schwere Joch der Notwendigkeit, unter das sich jedes endliche Wesen beugen muß. Er soll diese Notwendigkeit in den Dingen sehen, niemals in der Laune der Menschen[5]*. Der Zügel, der ihn im Zaum hält, sei die Stärke und nicht die Autorität. Verbietet ihm nicht das, was er nicht tun soll, sondern hindert ihn daran, und zwar ohne Erklärungen und vernünftige Begründungen. Gesteht ihm bei seinem ersten Wort alles zu, wozu ihr bereit seid, ohne ihn bitten und flehen zu lassen, und vor allem bedingungslos. Bewilligt mit Freude und verweigert es nur mit Bedauern, jedoch unwiderruflich. Laßt euch nicht aus Bequemlichkeit zum Nachgeben verführen, euer Nein muß wie eine eherne Mauer sein; ist das Kind fünf- oder sechsmal vergeblich dagegen angerannt, wird es nicht mehr versuchen, sie umzustürzen.

So nur erzieht ihr es zur Geduld, zur Ausgeglichenheit, zum friedfertigen Sich-Abfinden, sogar dann, wenn es das Gewünschte nicht erreicht hat. Denn es liegt in der Natur des Menschen, geduldig die Notwendigkeit der Dinge zu ertragen, aber nicht den bösen Willen der Menschen. [...]

Es ist sehr seltsam, daß man, seit man sich mit der Erziehung der Kinder beschäftigt hat, auf keine anderen Mittel, sie zu leiten, verfallen ist als auf Wetteifer, Eifersucht, Neid, Eitelkeit, Habgier, Feigheit, also gerade die gefährlichsten Leidenschaften, die am schnellsten emporschießen und am geeignetsten sind, die Seele zu verderben, noch ehe der Körper gereift ist. Mit allem, was man vorzeitig ihrem Kopf eintrichtern will, pflanzt man die Wurzel eines Lasters in den Grund ihres Herzens. Hirnlose Lehrer glauben Wunder zu vollbringen, wenn sie die Kinder zum Bösen anleiten, um ihnen beizubringen, was Gutsein ist. Und dann sagen sie uns in tiefem Ernst: so ist der Mensch. Ja, so ist der Mensch, den ihr herangebildet habt.

Alle Mittel hat man ausprobiert, außer einem, dem einzigen, das Erfolg verspricht: die kluggeregelte Freiheit. Man soll sich nicht mit der Erziehung eines Kindes befassen, wenn man es nicht dahin zu führen versteht, wohin man es bringen will, durch die Gesetze des Möglichen und des Unmöglichen. Da der Bereich des einen sowie des anderen ihm unbekannt ist, erweitert man ihn oder schränkt ihn nach Gutdünken ein. Man zügelt, treibt oder hält es zurück nur durch die Bande der Notwendigkeit, ohne daß es murrt. Nur durch die Macht der Dinge macht man es sanft und gefügig, ohne daß auch nur irgendein Laster in ihm zum Aufkeimen käme; denn niemals erwachen die Leidenschaften, wenn sie ohne jede Wirkung sind.

Haltet eurem Zögling keine weisen Reden, er muß durch Erfahrung klug werden. Züchtigt ihn nicht, denn er weiß nicht, was unrecht tun ist. Laßt ihn niemals um Verzeihung bitten, denn er kann euch nicht beleidigen. Da er seinen Handlungen keinerlei Moralbegriffe unterlegen kann, kann er auch nichts moralisch Unrechtes tun, das eine Züchtigung oder einen Verweis verdienen würde.

[...]

Ob ich es wage, hier die größte, wichtigste und nützlichste Regel jeglicher Erziehung darzulegen? Sie heißt: Zeit verlieren und nicht gewinnen. Der Durchschnittsleser verzeihe mir meine Paradoxa – man braucht sie, wenn man nachdenkt. Und was man mir auch entgegenhalten mag – ich bin lieber der Mann der Paradoxa als der der Vorurteile. Die gefährlichste Zeit des Lebens ist die zwischen der Geburt und dem zwölften Lebensjahr. Das ist die Zeit, in der Irrtümer und Laster keimen, ohne daß man schon die Mittel hätte, sie zu zerstören. Und hat man endlich die Mittel, so ist es zu spät; die Wurzeln sitzen zu tief, um sie auszureißen. [...]

Die erste Erziehung muß also rein negativ sein. Sie besteht keineswegs darin, Tugend und Wahrheit zu lehren, sondern darin, das Herz vor dem Laster und den Geist vor dem Irrtum zu bewahren. Wenn es euch gelänge, nichts zu tun und nichts geschehen zu lassen, wenn es euch gelänge, euren Zögling gesund und kräftig bis zu seinem zwölften Lebensjahr zu bringen, ohne daß er seine rechte von seiner linken Hand zu unterscheiden vermöchte, so würden sich die Augen seines Verständnisses vom ersten Augenblick an unter eurer Obhut der Vernunft öffnen. Ohne Vorurteile, ohne Gewohnheiten wäre nichts in ihm, was euren Bemühungen entgegenwirken könnte. Bald würde er unter euren Händen der weiseste aller Menschen, und indem ihr zu Anfang gar nichts getan hättet, hättet ihr ein Wunder an Erziehung vollbracht.

Tut das Gegenteil dessen, was der Brauch ist, und ihr werdet fast immer das Richtige tun.

[…]

Ich predige euch eine schwere Kunst, ihr jungen Lehrer, nämlich beherrschen ohne Vorschriften zu geben und durch Nichtstun alles zu tun. Ich gebe zu, daß diese Kunst nicht eures Alters ist, ihr könnt dabei nicht sofort mit euren Talenten brillieren und den Vätern Eindruck machen. Aber sie ist die einzige, die Erfolg verspricht. Nie wird es euch gelingen, einen Weisen zu schaffen, wenn ihr nicht zunächst einen Gassenjungen geschaffen habt. Das war die Erziehung der Spartaner; anstatt die Kinder hinter die Bücher zu setzen, brachte man ihnen zunächst bei, wie sie sich ihr Mittagessen stehlen konnten. Waren deshalb die Spartaner roh, wenn sie erwachsen waren? Wer kennt nicht die Treffsicherheit und Würze ihrer Entgegnungen? Immer zum Sieger bestimmt, vernichteten sie ihre Feinde in jeglicher Art von Krieg, und die geschwätzigen Athener fürchteten ebensosehr ihre Worte wie ihre Streiche.

In der gepflegten Erziehung befiehlt der Lehrer und glaubt dadurch zu herrschen. In Wirklichkeit ist es das Kind, das herrscht. Es bedient sich dessen, was ihr von ihm fordert, um von euch zu erlangen, was ihm gefällt. Eine Stunde Fleiß müßt ihr ihm mit acht Tagen Nachgiebigkeit bezahlen. Jeden Augenblick müßt ihr mit ihm unterhandeln. Und die Verträge, die ihr in eurem Sinne machen wollt, die es aber in seinem Sinne durchführt, dienen immer nur seinen Wünschen, besonders dann, wenn man so ungeschickt ist, zu seinem Vorteil eine Bedingung daran zu knüpfen, die ihm sowieso nichts ausmacht. Im allgemeinen versteht das Kind viel besser in der Seele des Lehrers zu lesen als dieser im Herzen des Kindes. Und das ist klar: denn den ganzen Spürsinn, den ein unabhängiges Kind für seine Selbsterhaltung aufwenden müßte, gebraucht es, um seine natürliche Freiheit aus den Fesseln seines Tyrannen zu retten, während dieser Tyrann, der gar kein so dringendes Interesse daran hat, den anderen voll und ganz zu verstehen, manchmal besser auf seine Kosten kommt, wenn er ihn bei seiner Faulheit oder Eitelkeit läßt.

Folgt mit eurem Zögling dem umgekehrten Weg. Laßt ihn immer im Glauben, er sei der Meister, seid es in Wirklichkeit aber selbst. Es gibt keine vollkommenere Unterwerfung als die, der man den Schein der Freiheit zugesteht. So bezwingt man sogar seinen Willen. [...]



[1] Auszüge aus: Rousseau, Jean-Jacques, Emile oder Über die Erziehung, dt. Fassung nach der Edition von Martin Rang, aus dem Französischen unter Mitarbeit des Herausgebers übertragen von Eleonore Sckommodau, Stuttgart 1998, S. 107-110, 208-210, 212-213, 264-266. Die mit * versehenen Anmerkungen stammen von Rousseau, die übrigen von M. Rang. Zusätze in runden Klammern von H.-E. Tenorth.

[2] *Die erste Erziehung ist die wichtigste, und diese erste Erziehung ist unbestreitbar Sache der Frauen: wenn der Schöpfer der Natur gewollt hätte, daß es Sache der Männer sei, so hätte er ihnen Milch zum Nähren der Kinder gegeben. Wendet euch also vorzugsweise an die Frauen in euren Abhandlungen über Erziehung, denn abgesehen davon, daß sie die Erziehung unmittelbarer überwachen können als die Männer und ihr Einfluß darauf immer größer wird, ist ihr Erfolg für sie auch viel wichtiger, da die meisten aller Witwen ihren Kindern nahezu ausgeliefert sind und dann heftig zu spüren bekommen, ob sie ihre Kinder schlecht oder gut erzogen haben. Die Gesetze, immer so sehr mit den Gütern des Lebens und so wenig mit den Menschen beschäftigt, da sie in ihren Zielen den Frieden und nicht die Tugend verfolgen, gestehen den Müttern zu wenig Autorität zu. Sie befinden sich dennoch in einer viel sichereren Lage als die Väter, und ihre Aufgaben sind viel mühevoller. Ihre Sorgfalt ist für ein gut geregeltes Familienleben viel wichtiger, und im allgemeinen sind sie es, die am meisten an den Kindern hängen. Es gibt Fälle, wo ein Sohn, dem es irgendwie an Respekt vor dem Vater fehlt, zu entschuldigen ist. Wenn aber ein Kind, gleichgültig um was es geht, so entmenscht ist, seiner Mutter den Respekt zu verweigern, der, die es in ihrem Schoß getragen hat, die es mit ihrer Milch genährt hat, die sich in jahrelanger Selbstentäußerung nur um es allein gekümmert hat, so müßte man dieses Kind schleunigst strangulieren wie ein Ungeheuer, das nicht würdig ist, das Licht der Welt zu erblicken. Es wird immer gesagt, daß Mütter ihre Kinder verwöhnen. Damit tun sie sicher unrecht, doch vielleicht weniger als ihr, die ihr sie herabwürdigt. Die Mutter will, daß ihr Kind glücklich ist, und zwar sofort. Hierin hat sie recht: täuscht sie sich über die Mittel, muß man sie aufklären. Ehrgeiz, Geiz, Tyrannei, die mißverstandene Vorsorge der Väter, ihre Nachlässigkeit und ihre harte Empfindungslosigkeit sind hundertmal verhängnisvoller für die Kinder als die blinde Zärtlichkeit der Mütter. Es bleibt nur noch der Sinn dessen zu erklären, was ich Mutter nenne, und das wird in der Folge geschehen.

[3] *Man hat mich versichert, daß M. Formey meinte, ich wolle hier von meiner Mutter sprechen, und daß er das auch in irgendeinem Buch ausgesprochen habe. Entweder macht man sich damit auf grausame Weise über M. Formey lustig oder über mich. (M. Formey [1711-1797], protestantischer Geistlicher in Berlin, hatte einen „Anti-Emile“ verfasst.)

[4] *Äußerlich ihnen ähnlich ohne die Gabe der Sprache und des Denkens, das sie zum Ausdruck bringt, wäre er nicht in der Lage, ihnen sein Hilfsbedürfnis verständlich zu machen, und nichts an ihm würde es ihnen kundtun.

[5] *Es ist sicher, daß das Kind jeden Willen, der sich dem seinen widersetzt, als unbegründete Laune empfinden wird. So wird es auch das, was sich seinen eigenen Launen widersetzt, als unbegründet empfinden.

 


Die Druckversion des Essays findet sich in Hohls, Rüdiger; Schröder, Iris; Siegrist, Hannes (Hg.), Europa und die Europäer. Quellen und Essays zur modernen europäischen Geschichte, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2005.
Für das Themenportal verfasst von

Heinz-Elmar Tenorth

( 2006 )
Zitation
Heinz-Elmar Tenorth, Rousseaus "Emile" - oder der Beginn moderner Erziehungsreflexion, in: Themenportal Europäische Geschichte, 2006, <www.europa.clio-online.de/essay/id/fdae-1361>.
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