Ferenc Erdei und die ungarische Gesellschaft in Europa
Von Susan Zimmermann
Unter den ungarischen Soziografen der 1930er Jahre ist Ferenc Erdei vermutlich der bekannteste. Ganz gewiss war Erdei, mehr als seine Weggenossen, Vertreter eines analytischen Geistes und Denkens, und ein hochbefähigter noch dazu. Geboren wurde Erdeiam 24. Dezember 1910 in einer protestantischen Familie in Makó, einer Agrarstadt der ungarischen Tiefebene. Väterlicherseits stammte die Familie aus der Schicht der Erdarbeiter und landlosen Bauern, mütterlicherseits aus dem mittleren Bauerntum. Die Familie der Mutter lebte das in der Region typische Leben dieser Schicht. Die weitab der Stadt liegende Landwirtschaft betrieb die Familie von einem Außen-Einzelgehöft (tanya) aus, wo man einen Großteil des Jahres verbrachte. In der Innenstadt von Makó besaß die Familie ein Haus, wo sie das Leben verbürgerlichter Bauern lebte. Im Alter hielten sich die Großeltern mütterlicherseits durchgehend in Makó auf, die tanya-Wirtschaft wurde zeitweise von Ferenc Erdeis Eltern übernommen, zeitweise verpachtet.
Der Junge wuchs damit zwischen Makó-Stadt und tanya in der typischen Zwischenschicht der – so Erdeis eigene Formulierung – „kleinproduzierenden Zwiebelgärtner-Familie[n]“ auf. Bildung – als Alternative – für die nächste Generation, tagtägliche Mitarbeit in der Landwirtschaft, Einsicht in gesellschaftliche Erscheinungen und Zusammenhänge, und Berührung mit organisiertem politischen Streben nach Veränderung stellten die Leitmotive der väterlichen Erziehung dar.1929 schrieb sich Ferenc Erdei an der Szegeder Universität ein. Eine erste soziografische Studie des jungen Hörers der Rechtswissenschaften über das Dorf Királyhegyes in unmittelbarer Nähe des großelterlich-elterlichen tanyas erschien Anfang 1931 in der angesehenen gesellschaftswissenschaftlichen Zeitschrift Századunk. Danach beschäftigte sich der junge Mann in verschiedenen Etappen mit der Abfassung eines nach Struktur-, Gruppen- und Siedlungsmerkmalen gegliederten „Gesellschaftsbildes“ seiner Heimatstadt Makó. Zentrale Bedeutung kam in Erdeis Wahrnehmung dem „Rätsel und der Enträtselung“des „Makóer tanya-Systems“ zu, und die Beschäftigung mit dieser gesellschaftlichen Erscheinung sollte zum Ausgangspunkt und Fluchtpunkt von Erdeis intellektuellem Bemühen um die Konzeptualisierung (nicht nur) der Besonderheit der ungarischen Gesellschaft werden. Auf dem Gebiet von Makó, das einschließlich der so genannten „Außengebiete“ eine Fläche von 269 km2 (zum Vergleich Frankfurt am Main heute: 248 km2) und damit außerhalb des eigentlichen Stadtgebietes eine ganze Agrarregion umfasste, befanden sich laut Statistik 1.989 Außen-Einzelgehöfte bzw. tanyas.
Schon während der Studienzeit stand die Bauern- und Agrarfrage im Zentrum des politischen Interesses von Ferenc Erdei. In Abgrenzung von den im Lande herrschenden nationalkonservativen Strömungen und deren ‚Bauerntümelei‘ bemühte sich der junge Mann bald um konkrete und analytisch begründbare politische Visionen und wenn möglich Taten. Doch fand er weder bei den häufig paternalistischen und isolierten Agrarreformprojekten der Settlement-Bewegung, noch bei der von dogmatischen Auffassungen der Agrarfrage geprägten Linken eine wirkliche politische Heimat.
Nachdem Erdei das Studium 1934 mit dem Doktorat abgeschlossen hatte, ging er zunächst zurück nach Makó. Diese Entscheidung war Ausdruck derselben intellektuellen und politischen Suchbewegung, die schon die Studienzeit bestimmt hatte. Von Bedeutung war auch Erdeis Identifikation mit den bäuerlich-agrarischen Schichten, aus denen er selbst stammte, gepaart von früher Jugend an mit einer rebellischen, ja revolutionären Attitüde.In Makó engagierte sich der junge Mann politisch und beruflich in der seit 1931 bestehenden Genossenschaft der Zwiebelproduzenten, die sich mit der Organisation der Produktion und dem Absatz der Zwiebeln befasste. Zwischen November 1935 und März 1936 unternahm Erdei im Auftrag dieser Makóer Genossenschaft jene Studienreise ins Ausland, während derer die im Quellenteil abgedruckten Briefe entstanden. Zum Zwecke des „Sammeln[s] von Erfahrung“ besichtigte der junge Mann landwirtschaftliche Genossenschaften und Gärtnereibetriebe in der Schweiz, Deutschland und den Niederlanden.
Die Briefe, die Erdei während dieser ersten ausgedehnten Reise nach Westen verfasste, sollten zum Teil ein Tagebuch ersetzen und waren unmittelbar als Konzepte für spätere Schriften gedacht (Quelle Nr. 3.5). Sie zeugen nicht nur vom kathartischen Erlebnis dieser Reise selbst. Sie legen auch äußere und innere Bestimmungselemente eines wissenschaftlich-weltanschaulichen Entwicklungsschubes, einer intellektuellen Metamorphose bloß, die das Denken und Schreiben Erdeis in den folgenden Jahren bestimmen und in Fluss halten sollten. Ab 1937 erschienen in rascher Folge mehrere Monografien, denen es, in soziografisch gefärbtem Gewand, darum zu tun war, Sozialstruktur und historische Entwicklungsdynamik der ungarischen Gesellschaft insgesamt forschend zu begreifen. Erdeis Theorie der ungarischen Gesellschaftsformation trat schließlich in Die ungarische Bauerngesellschaft (1941) und in dem inhaltlich ergänzenden und konzeptuell deutlich weiter ausgreifenden, jedoch Fragment und unveröffentlicht bleibenden Manuskript Die ungarische Gesellschaft zwischen den beiden Weltkriegen systematisch und geschlossen hervor.Gestalt und Perspektive dieser Gesellschaftstheorie speisten sich aus mehreren miteinander verwobenen Elementen.
Zunächst einmal ging die Suche nach verallgemeinerbaren Kategorien in hohem Maße von impliziten und expliziten Vergleichen aus, auf deren Grundlage Erdei ein komplexes typologisches System der Gesellschaftsbeschreibung und -analyse entwickelte. Dabei spielte die Untersuchung unterschiedlicher Elemente der ungarischen Siedlungs- und Sozialstruktur eine wichtige Rolle. Seit der Reise von 1935/1936 kam die systematische Abgrenzung von und Beziehung auf „westliche“ Gesellschafts- und Siedlungsstrukturen hinzu.
Entsprechende explizit oder implizit vergleichende Analysen der ungarischen Wirklichkeit(en) führten, so legte Erdei wiederholt dar, letztendlich nicht einfach (nur) zu kategorial bestimmbarer Wahrnehmung ungarischer Spezifika, sondern zur Weiterentwicklung bzw. Revision vorgefundener, vermeintlich allgemeiner Kategorien. Dies galt für die Analyse der Agrarstädte der Tiefebene ebenso, wie für die Untersuchung der höchst vielfältigen ungarischen Dorfstrukturen bzw. Dorftypen: „[N]ur die größere Hälfte der ungarischen Landwirte [lebt] im Dorf, die kleinere Hälfte ist in Agrarstädten mit Außen-Einzelgehöften angesiedelt. [...] Darum ist es uns möglich, die dörfliche Landwirtschaft mit der nicht-dörflichen Landwirtschaft zu vergleichen, und dies kann die von der Landwirtschaft unabhängigen Charakterzüge des Dorfes erhellen.“
Über die Kritik der vermeintlich universalen Kategoriensysteme des „Westens“ und über den relationalen Vergleich innerhalb Ungarns und in Europa gelangte Ferenc Erdei zur Idee der konzeptuellen (nicht: historischen) Gleichberechtigung aller vorfindlichen gesellschaftlichen Organisationsmuster. Die Auseinandersetzung mit westlicher Forschungsliteratur, so insbesondere mit der deutschsprachigen Volkskunde und Agrarsoziologie, mit der US-amerikanischen Rural Sociology, den Arbeiten des Doyens der rumänischen Soziologie Dimitrie Gusti, und mit der ungarischen Literatur der verschiedensten Sparten, spielte dabei eine wichtige Rolle.Schon während der Reise von 1935/1936 hatte die intensive Beschäftigung mit dem internationalen Schrifttum der Bewältigung des kathartischen Erlebnisses gedient. Erdei zog sich in die Berliner Staatsbibliothek zurück: „Eine Woche ist an mir vorübergegangen ohne daß ich die Zeit auch nur wahrgenommen habe. Ich habe eine unwahrscheinliche Menge Bücher gelesen, eine maßlose Menge an Notizen gemacht, und häufig bin ich in sehr enthusiastischem Zustand in den Hallen der großen Bibliothek spaziert. [...] Nicht [...], daß ich in einzelnen Zweigen der Wissenschaft klarer sehe. Es ist im Ganzen etwas geschehen.“
Die Konfrontation mit dem „Westen“ meinte für Erdei nicht nur im Bereich der Forschung mehr als eine rein intellektuelle Auseinandersetzung. Auch dem Schlüsselsatz: „Ich bin Bauer“, der während der Reise von 1935/1936 aus der veränderten und erweiterten Erfahrung und Wahrnehmung europäischer Gesellschaftsformen geboren worden war, kam tiefe persönliche, politische und wissenschaftliche Bedeutung zu. Die Wahrnehmungen und Erkenntnisse, die sich in diesem Schlüsselsatz verdichtet hatten, sollten seine Konzeptualisierung der ungarischen Gesellschaft in mehrfacher Hinsicht beeinflussen. Das „Ich bin Bauer“ stand seit der Reise von 1935/1936 für die Erfahrung und Behauptung, dass die Zugehörigkeit zum Bauerntum in Ungarn – anders als in bestimmten durchgehend verbürgerlichten Ländern des „Westens“ – in eins fiel mit gesellschaftlicher Abschließung und gesellschaftlichem Ausschluss gleichermaßen: mit der Existenz „außerhalb der Nation: von den Herren geknechtet, von den Bürgern verachtet“.„Bauer“ stand von nun an definitiv für fehlende Durchlässigkeit zwischen den sozialen Schichten bzw. Gruppen, und „Bauer“ stand für den Ausschluss aus der bürgerlichen Kultur und der Kultur der Herren gleichermaßen. Seit 1938 erscheinen die ungarische und mit ihr klar abgrenzbare Teile der europäischen Bauernschaft bzw. Agrarbevölkerung im wissenschaftlichen Werk von Ferenc Erdei als „Gesellschaft in der Gesellschaft“, „Bauern-Unterwelt“, die in sich abgeschlossen „unter der Oberfläche der Kultur und Zivilisation“ existierte.Und tatsächlich ist bis heute „Paraszt!“ – „Bauer!“ in Ungarn eine Beschimpfung, die alle Konnotationen der fehlenden Manieren und Bildung, der Dumpfheit und des Vegetativen, kurz: der Existenz außerhalb des menschlichen Kulturlebens in sich einschließt.
Das „Ich bin Bauer“ erfüllte in Erdeis wissenschaftlichem Denken die Funktion der Markierung des eigenen Ortes und Standpunktes. Erdei war dabei in doppeltem Sinne radikal: Es ging ihm in seinen Untersuchungen zunehmend um die Gesellschaft als Ganze.Zugleich bestand er darauf, daß dieses Ganze von der existentiellen Erfahrung des gesellschaftlichen Ortes der Agrarbevölkerung ausgehend zu beleuchten war, bzw. darauf, diese Erfahrung zumindest analytisch zum Ausgangs- und Bezugspunkt der wissenschaftlichen Arbeit zu machen.
Für Erdei gingen also, und dies war ein weiterer wichtiger Baustein seiner Gesellschaftsanalysen, Erfahrung, Identifikation und Interesse mit Forschung zusammen, ja, diese ‚subjektiven‘ Elemente waren unabdingbarer Bestandteil seiner Forschung: „Diese Forschungs-Bewegung war im striktem Sinne keine soziologische Forschung, sondern sehr viel eher literarische Erkundung in politischer Absicht; doch war das Dorf für diese Schriftsteller Erlebnis, das heißt sie haben sehr viel mehr und Glaubwürdigeres über die Wirklichkeit des Dorfes gesagt, als jede andere wissenschaftliche oder sozialpolitische Dorfforschung.“
Die „Dorfforschung“, von der hier die Rede ist, war zentraler Bestandteil der soziografischen und populistischen Bewegung im Ungarn der 1930er Jahre, in deren Kontext auch die Arbeiten von Ferenc Erdei standen. Die soziografische Herangehensweise stellte denn auch einen weiteren wichtigen Bestandteil der Erdei’schen Bemühungen um die Konzeptualisierung der ungarischen Gesellschaft als Ganzer dar.Für Erdei standen Soziografie und Soziologie also in einer engen Wechselbeziehung. Der Soziografie war es – so die berühmten Formulierungen von Gyula Ortutay – um die „Entdeckung Ungarns“ zu tun, weil „wir von unserer Bauernschaft kaum einen [...] klareren Begriff besaßen als von den Eingeborenen der Osterinseln.“Und die Gesellschaftstheorie von Erdei brauchte die breite empirische (und eher implizit begriffsbildende) soziografische Basis, um sich von den universalisierenden, im Hinblick auf bestimmte Erscheinungen der ungarischen Gesellschaft von „sinnlosen und unbrauchbaren“Begriffen der westlichen Soziologie ablösen zu können. „Unsere Soziographien sind weder Methode noch Wissenschaft [sondern]: aus der Ohnmacht geborenes, notgedrungenes Bemühen um Orientierung.“Aus den genannten Bausteinen setzte Erdei schließlich eine vollständige Gesellschaftsanalyse zusammen. Erste entscheidende Schritte zur Ausarbeitung und Systematisierung der entsprechenden Begrifflichkeiten tat er in der Ungarischen Bauerngesellschaft von 1941. Die „Bauer-Gesellschaftsformen“ einschließlich des „ständische[n] Bauerntum[s]“ lebten in Ungarn innerhalb einer „im allgemeinen bereits nach einem anderen Prinzip aufgebauten Gesellschaftsstruktur“ fort. Historisch erkläre sich dieses Fortleben aus dem Zusammenwirken von „zurückgebliebener ungarischer Industrialisierung, Urbanisierung und überhaupt Verbürgerlichung“, der „außergewöhnlichen Überentwicklung des Ständesystems“ und der „Nachbildung“ von „ähnlichen Formen“ wie im Westen. Umgekehrt behindere das Fortleben der „ständischen sozialen Formen“ das Funktionieren der „bürgerlichen Struktur“. Diese geteilte Gesellschaftsstruktur wurde von Erdei als krisenhafter Übergangszustand beschrieben. Die in der ungarischen Gesellschaft fortlebenden „Bauer-Gesellschaftsformen“ verglich er plastisch mit einem Eis-“Block“, wie er sichtbar werde, wenn vom „im Faß gefrorenen Wasser“ die Hülle abgeschlagen werde und die Frühlingssonne darauf zu scheinen beginne. Anders gesagt: In Ungarn sei eine „aus einer früheren Entwicklungsstufe zurückgebliebene soziale Form mit den veränderten Verhältnissen in Widerspruch geraten“.
In seinem Manuskript Die UngarischeGesellschaft zwischen den beiden Weltkriegen erweiterte Erdei diese in der Bauerngesellschaft entwickelten Perspektiven zu einer umfassenden Gesellschaftstheorie, die mit Marx’schen Kategorien und Denkfiguren operierte. Die ungarische Gesellschaft sei fundamental von einer „Doppelheit“ zwischen kapitalistischen „Produktionsverhältnissen“ und verblockter „Gesellschaftsstruktur“, oder anders gesagt, von massiven Widersprüchen zwischen „Klassenlage und gesellschaftliche[r] Lage“ geprägt. Ungarn sei seit dem 19. Jahrhundert „von außen“ kapitalisiert worden. Die bürgerliche Gesellschaft habe sich dementsprechend, so hieß es nun, als „isoliertes separates Stück neben der [...] historischen ständischen Gesellschaftsstruktur“ angesiedelt, sei ein „koloniales Gebilde [...] und ein ‚Fremdkörper‘ in der allgemeinen Struktur der Gesellschaft“. Die Kehrseite dieser Tatsache, die „Konservierung“ der Gesellschaftsformen bzw. -strukturen der ständischen Ordnung, die ihre Wurzeln auch in der vergleichsweise großen Distanz zwischen Adel und Volk hatte, wurde nun (auch) aus der historischen Fremdherrschaft der Habsburger erklärt.
Erdei deutete die so entstandene „Doppelheit“ zwischen „Produktionsverhältnissen“ und verblockter „Gesellschaftsstruktur“ nun als Ausdruck einer „Phasenverschiebung“, die sich als sehr dauerhaft erwiesen habe. Im Ergebnis standen bürgerliche und ständische Struktur als „je getrennt stehenbleibende Gesellschaftsentwicklungen“ der Bauerngesellschaft gleichermaßen fremd gegenüber: „So wie die Lebensform der Herren historisch gewachsen ist, und der Welt der unteren Gesellschaft entgegensteht, so ist die städtische bürgerliche Lebensform aus europäischen Beispielen gewachsen; indes stellt sie gegenüber der bäuerlichen Existenzform eine ebenso schwebende obere Welt dar.“
Die Arbeiterschaft bildete demgegenüber, ungeachtet all ihrer Besonderheiten im Vergleich mit der Arbeiterklasse im Westen, als unterste der im Prozess der Verbürgerlichung entstandenen Schichten einen organischen Teil der bürgerlichen Struktur (und schritt zugleich als „Klasse der Bewegung [...] mit formender Absicht auf den Stufen der Entwicklung“ fort).Die Bauerngesellschaft war und blieb demgegenüber eine ausgeschlossene „Bauern-Unterwelt“, deren fehlende Teilhabe am Prozess der Verbürgerlichung die zentrale Problematik der ungarischen Gesellschaft darstellte.
In der politischen Weltsicht von Erdei fiel diese Konstellation in eins mit dem Ruf nach dem Aufstand gegen das stigmatisierende „Bauer“-Dasein, welches ein revolutionäres Potential darstelle, das es (so) im Westen nicht gebe. Beides hatte er schon in den Briefen von Anfang 1936 klar zum Ausdruck gebracht: „[W]as ich hier aus der Nähe durchlebt habe, dem ist der Kampfesruf entsprossen, daß wir nicht Bauer sein dürfen. [...] Diese Qualität muß vom Erdboden getilgt werden!“ Während die Revolution im Westen, aufgrund der erfolgreichen Integration auch der Bauern in die bürgerliche Gesellschaftsstruktur, „keinen Sinn“ mache und „nicht möglich“ sei, stelle die sozial ungeklärte Stellung der Bauernschaft „bei uns und weiter östlich“ die „Quelle“ möglicher „bedeutender historischer Ereignisse“ dar. „Die fällige Revolution“, so schrieb Erdei schon am Beginn seiner Reise in den Westen an István Bibó, „ist unser osteuropäisches Privileg.“ Erst nach einem solchen grundsätzlichen Umbruch konnten dann die schon oder noch vorhandenen, „für die Ewigkeit geschaffenen [...] Kulturtaten“ des Bauerntums in den Aufbau einer vereinten besseren Gesellschaft eingebracht werden.
In der ungarischen Gesellschaft der Zwischenkriegszeit habe die Krise der Bauernschaft dazu geführt, dass die verschiedenen, dem „Block“ der „Bauerngesellschaft“ angehörigen sozialen Gruppen jeden nur möglichen Fluchtweg einschlugen. Der beste Weg heraus aus dem stigmatisierenden Bauer-Dasein, die erfolgreiche Verbürgerlichung und damit Eingliederung in die bürgerliche Gesellschaftsstruktur, war am weitesten fortgeschritten bei jenen Gruppen, die in den tanya-Strukturen der Tiefebene lebten, sowie bei der Bevölkerung von Dörfern „mit gutem Verkehrsanschluß“ oder in „Stadtnähe“ bzw. in den Gebieten mit bedeutender Industrieproduktion, großen Märkten und Handel. Als dekadent betrachtete Erdei demgegenüber das berüchtigte „egyk“-System, also die drastische Reduktion der bäuerlichen Nachkommenschaft, die ‚Folklorisierung‘ verschiedener Dörfer, und eine ganze Reihe anderer Erscheinungen.
Die „sehr dauerhaft[e]“ Konstellation des „Übergangszustandes“ war auch dafür verantwortlich, dass die „je getrennt stehen bleibenden Gesellschaftsentwicklungen“ doch miteinander „in Kommunikation, Verbindung und Zusammenschluss“ traten. Im Ergebnis stellte darum die ungarische Gesellschaft eine „vielfältig zusammengesetzte Struktur“ dar, in der sich „die unendliche Reihe der Übergangsvarianten der sozialen Formen“ nebeneinander anordnete bzw. „in orientalischer Buntscheckigkeit“ miteinander vermengte.
Zu einer detaillierten Untersuchung und umfassenden Typologisierung dieser Gemengelagen kam Ferenc Erdei nicht mehr. Mit der Zeitenwende von 1944/1945 verlagerte sich der Schwerpunkt seiner Tätigkeit stärker in die Welt der Politik. Seit Dezember 1944 stieg er zur Leitfigur des linken Flügels der Nationalen Bauernpartei auf und trat früh als Vertreter einer Volksfrontpolitik in den Vordergrund. In dieser Phase befasste sich Erdei mit Fragen der Bodenreform und des bäuerlichen Genossenschaftswesens. Später wandte er sich den Problemen der staatssozialistischen Produktionsgenossenschaften und nationalen Agrarpolitik zu. Von 1949 bis 1953 war er Landwirtschaftsminister, von 1953 bis 1956 Justizminister, später wiederum Landwirtschaftsminister und schließlich stellvertretender Ministerpräsident. 1956 gehörte er zu jenem Teil der kommunistischen Eliten, der sich (zunächst) aktiv auf die Seite der Veränderung stellte. 1956 wurde er ordentliches Mitglied der Ungarischen Akademie der Wissenschaften, über Jahrzehnte hinweg übte er in der Akademie Leitungsfunktionen aus. Seit 1957 war er Vorstand eines bedeutenden agrarwirtschaftlichen Forschungsinstituts. Fragen der Landes- und Stadtentwicklung und –planung, der Agrarentwicklung und des landwirtschaftlichen Genossenschaftswesens standen bis zu seinem Lebensende im Zentrum seiner wissenschaftlichen Tätigkeit. 1948 und 1962 erhielt er mit dem Kossuth-Preis die bedeutendste ungarische staatliche Auszeichnung für kulturelle und künstlerische Leistungen. Nach seinem Tod in Budapest am 11. Mai 1971 wurde Ferenc Erdei in seiner Heimat, der bis heute für ihre Zwiebelproduktion bekannten Agrarstadt Makó im äußersten Südosten Ungarns, beigesetzt.
Auf seinem intellektuellen Weg durch das Ungarn der 1930er und frühen 1940er Jahre hatte sich Ferenc Erdei konsequent vom Bemühen um die wissenschaftliche und politische Verarbeitung persönlicher und kollektiver Erfahrung leiten lassen. Spätestens seit der Reise in den Westen zur Jahreswende 1935/1936 gehörte dazu neben der Kindheits- und Jugenderfahrung eines Lebens in Agrarstadt und tanya der ungarischen Tiefebene auch das Denken in Kategorien des gesellschaftsstrukturellen Unterschiedes und Vergleiches. Erst beides zusammen, und dazu das – lebenslange – Bestehen auf der
Identifikation und intellektuellen wie politischen Solidarität mit jenen, die in einem Lande lebten, in dem „Bauer!“ den Ausschluss aus Kultur, Gesellschaft und Entwicklung bedeutete, ermöglichten den fundamentalen Beitrag Erdeis zur europäischen Gesellschaftswissenschaft: eine Analyse der ungarischen Siedlungs- und Gesellschaftsstruktur, deren Perspektive von unten nach oben und vom Lokalen zum Gesamt-Ungarischen in Europa gerichtet war. Erdeis wissenschaftliche und politische Leistung bestand dabei nicht zuletzt darin, dass er aus der Not der Abgrenzung von einer „westlich“ begründeten und auch in Ungarn tief verwurzelten hegemonialen Gesellschaftswissenschaft mit universellem Anspruch eine Tugend machte: die Tugend eines ebenso vergleichenden wie relationalen, empirischen wie typologisierenden, und auf einem inner-wissenschaftlichen Ort für Erfahrung und Interesse bestehenden Neudenkens ungarischer Gesellschaft.
[1] Essay zur Quelle Nr. 3.5, Ferenc Erdei: Reisebriefe aus westeuropäischen Ländern (1936).
[2] Geb. 1910; gest. 1971. Biografische Angaben zu Erdei finden sich insbesondere in Huszár, Tibor, Ferenc Erdei. Portrait of a Sociologist, in: Ders. (Hg.), Ferenc Erdei, Selected Writings, Budapest 1988, S. 389-407 (dieses Werk enthält auch umfangreiche Übersetzungen aus den Arbeiten Erdeis); Erdei, Sándor, Erdei Ferenc élete [Das Leben von Ferenc Erdei], in: Erdei, Ferenc (= FE), Emberül élni. Egy életút mérföldkövei. Válogatás [Menschlich leben. Marksteine eines Lebensweges. Auswahl], Budapest 1974, S. 569-665; Benko, Péter, A magyar népi mozgalom almanachja [Almanach der ungarischen populistischen Bewegung], Budapest 1996, S. 109-112.
[3] Huszár, Tibor (= TH), Történelem és szociológia. A cselekvo ember nyomában. Elvek és utak [Geschichte und Soziologie. Auf der Spur des handelnden Menschen. Prinzipien und Wege], Budapest 1979, S. 251ff. FE: Egy különös falukutatás története [Die Geschichte einer ungewöhnlichen Dorfforschung], in: Gondos, Erno (Hg.), A valóság vonzásában [Im Anziehungskreis der Wirklichkeit] (1963), wiederabgedruckt in: FE: összegyujtött muvei: Településpolitika, közigazgatás, urbanizáció [Gesammelte Werke von FE: Siedlungspolitik, Verwaltung, Urbanisierung], Budapest 1977, hier S. 15.
[4] So Erdei in seiner autobiografischen Schrift, Die Geschichte einer ungewöhnlichen Dorfforschung, wiederabgedruckt in Gesammelte Werke FE: Siedlungspolitik (wie Anm. 3), hier S. 18.
[5] Im Rahmen der gängigen Differenzierung der Kategorien Stadt und Dorf war, so Erdei, eine Analyse dieser sozioökonomischen Erscheinung nicht möglich: „Worum es also geht: das Außen-Einzelgehöft, als peripherer Produktionsbetrieb, gehört zum städtischen oder dörflichen Konsumationsbetrieb dazu. Gegenüber dem Dorfsystem, in dem Haus und Hof nicht nur Konsumationsbetrieb, sondern auch Produktionsbetrieb sind, stellt das Außen-Einzelgehöft-System eine Differenzierung dar: die Trennung von Produktions- und Konsumationsbetrieb [... Die Vorteile dieser Trennung bestehen unter anderem darin, dass] sich der Landwirt infolge des ständigen gesellschaftlichen Verkehrs von der Kulturentwicklung nicht entkoppelt.“ FE: Társadalomrajz. A makói tanyarendszer [Gesellschaftsskizze. Das Makóer Außen-Einzelgehöft-System], in: Népünk és nyelvünk (1932), wiederabgedruckt in: Gesammelte Werke FE: Siedlungspolitik (wie Anm. 3), hier S. 246f., 267.
[6] So Erdei in einer autobiografischen Skizze von 1938, zit. in TH (wie Anm. 3), S. 253.
[7] Die Titel waren, in deutscher Übersetzung, unter anderem: Flugsand (1937); Bauern (1938); Ungarische Stadt (1939); Ungarisches Dorf (1940); Ungarische Außen-Einzelgehöfte (1942).
[8] FE: A magyar paraszttársadalom [Die ungarische Bauerngesellschaft], Budapest 1941; FE: A magyar társadalom a két háború között [Die ungarische Gesellschaft zwischen den beiden Weltkriegen], MS (1944, und z.T. Überarbeitungen aus der Zeit der ersten Monate nach der Befreiung Anfang 1945), erstmals abgedruckt im Zuge der ungarischen Erdei-Renaissance der 1970er und 1980er Jahre in: Valóság (1976) 4 und 5 (Teile 1 und 2).
[9] „[Wir] müssen eine deutliche Grenze ziehen zwischen den klassischen Stadt-Dorf-Regionen und den weder dörflich noch städtisch besiedelten Gegenden der ungarischen Tiefebene. [...] Hier gibt es kein wirkliches Dorf, und keine wirkliche Stadt. Der Stadtbegriff westlichen Ursprungs, der dort fehlerfrei angewandt werden kann, und ebenso jener des Dorfes, sind in der Tiefebene sinnlos und unbrauchbar.“ Ein Forscher, der diese Begriffe doch anzuwenden versucht, „wird die Städte der Tiefebene ohne ihre Außen-Einzelgehöfte als unvollkommene westliche Städte zu erkennen glauben, und die Außen-Einzelgehöfte als unvollkommene westliche Streudörfer.“ FE: Az ostermelés városrendezési vonatkozásai [Die stadtplanerischen Bezüge der Urproduktion]. MS für das Handbuch der ungarischen Stadtplanung, hg. V. Bierbauer (1938), abgedruckt in Gesammelte Werke FE: Történelem és társadalomkutatás [Geschichte und Gesellschaftsforschung], Budapest 1984, S. 313f.
[10] Zit. n. FE: Magyar falú [Ungarisches Dorf], Budapest 1940, S. 16f. In diesem Werk legte Erdei eine differenzierte Analyse einer ganzen Reihe von Dorf-Typen, und damit keineswegs eine Gegenüberstellung von als je einheitlich begriffenen Verhältnissen in der großen Tiefebene und im übrigen Ungarn vor.
[11] Im ungarischen Dorf z.B. listete Erdei in einem bibliografischen Essay zahlreiche entsprechende Werke auf, vgl. S. 232-236; in Parasztok [Bauern], Budapest 1938, findet sich eine umfangreiche gesamteuropäische Bibliografie.
[12] FE: Brief an den jüngeren Bruder, 12. Februar 1936, zit. in TH (wie Anm. 3), S. 490.
[13] So Erdei in einem Vortragsmanuskript von 1938, abgedruckt in: Gesammelte Werke FE: Geschichte (wie Anm. 9), S. 454.
[14] FE: Bauern (wie Anm. 7), S. 13-17. Eines der fünf Hauptkapitel dieses Werkes untersucht, nach Großregionen und Ländern differenziert, die Lage der Bauerngesellschaft in ganz Europa.
[15] Analytische Problemzonen, die Erdeis Untersuchungen des „Ganzen“ dennoch kennzeichneten, betrafen die (gegenüber den „Bauern“ in den Hintergrund gedrängten) landlosen und eigentlich unterbäuerlichen Schichten die Familie (deren interne Strukturen und Machtverhältnisse verborgen blieben) und die ethnischen Unterschiede in der ungarischen Gesellschaft. Die letzteren setzte Erdei zwar zu keinem Zeitpunkt auf rassistische Weise an die Stelle gesellschaftlicher Unterschiede. Dennoch ließ er sich auf die Kategorien der offen antisemitischen Debatte über gesellschaftliche Ungleichheit als Ungleichheit zwischen „Ungarn“ und „Juden“ ein, die die ungarische Öffentlichkeit der späten 1930er Jahre dominierte (vgl. eine berühmte Stellungnahme von Erdei und anderen Spitzenvertretern der berühmten „März-Front“, in: Válasz (1936) 2, Wiederabdruck in Széchenyi (Hg.), Válasz, S. 472ff.); und immer wieder grenzte Erdei ein – wenn auch wandelbares und zur Integration bereites – „ungarisches“ Wir gegen die übrigen Nationalitäten ab. In der ungarischen Rezeption wurde diese Seite des Erdei’schen Erbes, in der Epoche des Staatssozialismus und darüber hinaus, weitgehend unterdrückt bzw. ignoriert.
[16] Vgl. etwa Vortragsmanuskript von 1938, abgedruckt in: Gesammelte Werke FE: Geschichte (wie Anm. 9), S. 454.
[17] FE: Ungarisches Dorf (wie Anm. 7), S. 235.
[18] Erdei grenzte die von Agrarstädten und tanya-System dominierten Regionen geografisch und im Hinblick auf den Anteil an der ungarischen Gesamtbevölkerung detailliert und auch quantitativ ein. Er beschäftigte sich eingehend auch mit den nicht in diesem Gebiet gelegenen ungarischen Städten „westlichen Charakters“. Vgl. FE: A város és a falu szintézise [Die Synthese von Stadt und Dorf], in: Társadalomtudomány (1940) 2, abgedruckt in: Gesammelte Werke FE: Geschichte (wie Anm. 9), S. 302ff.; FE: Magyar Város [Ungarische Stadt], Budapest 1939, bes. das Kapitel „Ungarische Städte“.
[19] Ortutay, Gyula, Magyarország felfedezése [Die Entdeckung Ungarns], in: Válasz (1936) 2, Wiederabdruck in Széchenyi (Hg.), Válasz, S. 311f.
[20] FE, Die stadtplanerischen Bezüge, abgedruckt in: Gesammelte Werke FE: Geschichte (wie Anm. 9), S. 313.
[21] Stichwortartiges Vortragsmanuskript von 1938, abgedruckt in Gesammelte Werke FE: Geschichte (wie Anm. 9), S. 453f.
[22] FE: Bauerngesellschaft (wie Anm. 7), S. 32-39, 60f.
[23] FE: Gesellschaft zwischen den beiden Weltkriegen, abgedruckt in: Valóság (1976) 4, S. 23-30.
[24] FE: Gesellschaft zwischen den beiden Weltkriegen, abgedruckt in: Valóság (1976) 5, S. 56ff.
[25] FE: Brief an den jüngeren Bruder, 10. Januar 1936, abgedruckt in: Aus der Briefkiste von Ferenc Erdei. Briefe aus dem Westen; FE: Brief an István Bibó, 24. Dezember 1935, zit. nach TH (wie Anm. 3), S. 472; weitere Briefzitate in ebd., S. 485, 487; und die abgedruckten Quellentexte.
[26] All dies hatte Erdei schon in der Bauerngesellschaft, bes. S. 50-82, eingehend geschildert.
[27] FE: Gesellschaft zwischen den beiden Weltkriegen, abgedruckt in: Valóság (1976) 4, S. 24f.
Literaturhinweise:
Huszár, Tibor, Ferenc Erdei. Portrait of a Sociologist, in: Ders. (Hg.), Ferenc Erdei. Selected Writings, Budapest 1988, S. 389-407
Ders., Történelem és szociológia. A cselekvo ember nyomában. Elvek és utak [Geschichte und Soziologie. Auf der Spur des handelnden Menschen. Prinzipien und Wege], Budapest 1979
Sipos, Levente; Tóth, Pál Péter (Hg.), A népi mozgalom és a magyar társadalom. Tudományos tanácskozás a szárszói találkozó 50. évfordulója alkalmából [Die populistische Bewegung und die ungarische Gesellschaft. Wissenschaftliche Konferenz zum 50. Jahrestag der Konferenz von Sárszó], Budapest 1997