Vom historisch-klimatischen Raum zum politischen Raum. Europas mentale Geografien um 1800

Aus deutscher oder mitteleuropäischer Sicht ist es heute selbstverständlich, von West- und Osteuropa zu sprechen. Wenngleich diese dichotomische Wahrnehmung maßgeblich durch die politische Zweiteilung Europas in der Zeit zwischen 1945 und 1989 geprägt wurde, so hat diese Zweiteilung Europas auch ältere Wurzeln. Auf diese verweist bereits der Titel der Quelle, die den Ausgangspunkt dieses Essays darstellt: „Ost und West. Reisen in Polen und Frankreich“ von Richard Otto Spazier aus dem Jahr 1835. [...]

Vom historisch-klimatischen Raum zum politischen Raum. Europas mentale Geografien um 1800

Von Bernhard Struck

Einleitung

Aus deutscher oder mitteleuropäischer Sicht ist es heute selbstverständlich, von West- und Osteuropa zu sprechen. Wenngleich diese dichotomische Wahrnehmung maßgeblich durch die politische Zweiteilung Europas in der Zeit zwischen 1945 und 1989 geprägt wurde, so hat diese Zweiteilung Europas auch ältere Wurzeln.[1] Auf diese verweist bereits der Titel der Quelle, die den Ausgangspunkt dieses Essays darstellt: „Ost und West. Reisen in Polen und Frankreich“ von Richard Otto Spazier aus dem Jahr 1835.[2]

Anhand ausgewählter deutschsprachiger Reiseberichte aus der Zeit um 1800 wird im Folgenden der Frage nachgegangen, wann und in welchem Kontext die Wahrnehmung der nach wie vor gängigen innereuropäischen Ost-West-Dichotomie entstand. Dabei wird die These vertreten, dass ein entscheidender Wandel in Bezug auf die mentale Karte Europas, aus deutscher Sicht zumindest, in den Jahrzehnten nach dem Wiener Kongress stattfand. Räumliche Kategorien und Zuschreibungen wie Ost- und Westeuropa stellen in diesem Zusammenhang weniger faktische geografische Größen dar, die sich mathematisch berechnen lassen. Vielmehr handelt es sich um räumliche Ordnungen bzw. um mentale Karten, die über die räumliche Ordnung hinaus auch normative Vorstellungen und begriffliche Gegensatzpaare wie „Modernität“ und „Rückständigkeit“, „Zentrum“ und „Peripherie“, „Kultur“ und „Barbarei“ konnotieren. Denn Orte wie Wien oder Helsinki lassen sich nach mathematischen Kriterien und geografischen Einheiten wie Längengraden östlich von Prag bzw. Wroclaw lokalisieren. Auf einer beträchtlichen Zahl von mentalen Europakarten eines durch langjährige EU-Mitgliedschaft geprägten Deutschen oder Franzosen befinden sie sich jedoch im Westen, also einem Werte- und Normensystem zugehörig.

Reisen und Geografie um 1800

Die lange Tradition von Reise und Reisebeschreibung erlebte in Europa zwischen dem späten 18. Jahrhundert und der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts einen quantitativen wie qualitativen Höhepunkt. Denn beides gehörte zu den selbstverständlichen kulturellen Praktiken der gebildeten und literarischen Eliten um 1800. Diderot reiste nach Russland an den Hof Katharinas II., Goethe ins winckelmannsche Arkadien namens Italien, Alexander von Humboldt erforschte Südamerika und Russland und Vater und Sohn Forster erkundeten mit James Cook die Südsee. Diese bekannten Namen stehen stellvertretend für die Vielzahl von Reisenden, die weite Teile Europas im wortwörtlichen Sinne erfuhren, um 1800 bevorzugt Frankreich, Italien, die Schweiz, die Niederlande und England, aber auch exotischere Gegenden wie Polen oder die skandinavischen Länder.

Fast alle Reisenden hatten eines gemein: Sie schrieben über ihre Reisen. Es gehörte zum Ethos der Aufklärung, die eigenen Reisen und die hierbei erworbenen Kenntnisse für die Öffentlichkeit nutzbar zu machen. Der Artikel „Reisen“ in Johann Heinrich Zedlers „Universal-Lexicon“ beispielsweise folgt den zeitgenössischen Apodemiken – Texten, die Anleitungen und Regeln zum korrekten Reisen gaben. Diese forderten nicht nur genaue Reiseplanung und exakte Beobachtung, sondern ebenfalls die Publikation des Erlebten.[3]

Anhand eines so prominenten Lexikons wie dem von Zedler lässt sich darüber hinaus der enge Zusammenhang von Reisebeschreibung und Geografie im 18. Jahrhundert nachzeichnen. In den Artikeln zu „Polen“ oder „Frankreich“, wird dabei sogleich offenbar, dass die Informationen zumeist aus Reisebeschreibungen stammen, die in enger Verknüpfung mit geografischen Texten und Staatsbeschreibungen standen. Die Arbeiten von Geografen wie Anton Friedrich Büsching und August Ludwig Schlözer stützten sich gleichfalls zu einem überwiegenden Teil auf Reiseberichte. Aufgrund der vielen engen Verbindungen von Reisen und Geografie sind Reiseberichte somit eine entscheidende Quelle, die Rückschlüsse darauf erlauben, wie Europa zu unterschiedlichen Zeiten gedacht, wie es räumlich geordnet wurde und welche mentalen Karten dabei jeweils die Wahrnehmung strukturierten.

Reiseberichte als serielle Quelle

Wie so oft stehen Namen wie Diderot oder Humboldt lediglich für die Spitze des Eisberges. Die Masse derjenigen, die reisten und schrieben, die weniger bekannt und heute oft vergessen sind, befindet sich dem Bild des Eisbergs folgend unter der nur selten zur Kenntnis genommenen Oberfläche. Dabei finden sich gerade in diesen Texten, die nie in einen literarischen Kanon aufstiegen und oft lange zu Unrecht als „schwache Texte“ galten, entscheidende Hinweise auf mentale Umbrüche und Neuorientierungen.[4] Der Bericht, der hier den Ausgangspunkt für den Essay darstellt, ist – um dem Bild des Eisbergs noch zu weiter folgen – genau diesen Texten unter der Oberfläche zuzurechnen.

Im Jahr 1833 bereiste der aus Leipzig stammende Schriftsteller und Journalist Richard Otto Spazier das Großherzogtum Posen und Teile Frankreichs. Seinen Reisebericht veröffentlichte er 1835 unter dem Titel „Ost und West. Reisen in Polen und Frankreich“. Dieser Bericht ist beides zugleich, Tradition und Bruch und ließe sich mit Ernst Blochs Dictum der „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“ umschreiben.[5]

Inhaltlich ist der Bericht der Tradition bildungsbürgerlicher Reisen zuzuordnen, allerdings unter den politischen Vorzeichen der Zeit nach 1815. Ganz bildungsbürgerlich möchte der Autor unterhalten und informieren zugleich: Er liefert Informationen zur Reisepraxis, zu Landschaft, Architektur, Ackerbau oder zur Geschichte des Landes. Spazier reklamiert zwar – in Zeiten des Vormärz – unpolitisch zu sein, so dass der Bericht lediglich den „rein menschlichen Verhältnissen gewidmet seyn“ möge.[6] Und doch wird Spazier politisch, als er im Abschnitt über das „Großherzogtum Posen im Sommer 1833“ keinen Hehl aus seiner polonophilen Haltung macht, „seine poetische Begeisterung“ für die Polen und deren Kampf um nationale Unabhängigkeit bekennt und von der „Verbrüderung mit Polen“ und den „gemeinschaftliche[n] Gefühle[n] für die polnischen Männer“ schwärmt.[7] Auch verbirgt er nicht seine Sympathie mit dem Novemberaufstand, die er mit vielen liberal-demokratisch orientierten Schriftstellern der Zeit teilte. Darüber hinaus kritisiert er die preußische Zensur der Zeit offen und gibt seiner Unzufriedenheit mit den Verhältnissen in Preußen nach 1814 freien Ausdruck. Nicht zuletzt kritisiert Spazier offen die preußische Verwaltung der ehemals polnischen Gebiete und nennt sie eine „erobernde Regierung“. Während des Vormärz war dies alles andere als ein unpolitischer Bericht und Spazier folgte dabei explizit Vorbildern wie Heine und Börne.[8]

Auch in dieser Hinsicht ist der Bericht ganz Tradition. Denn Spazier reiste nicht, ohne sich mit Vorgängern und Vorbildern des Genres beschäftigt zu haben. Neben Heine und Börne nennt oder zitiert er Laurence Sterne, Edward Bulwer, Walter Scott, Victor Hugo oder Heinrich August Ottokar Reichardt. Allein das Nennen dieser Namen deutet an, dass sich das Genre Reisebericht zu einem wesentlichen Teil von selbst fortschreibt: Ältere Texte werden rezipiert und die Autoren folgen Traditionen und Gattungsmerkmalen. Durch die Zirkulation der Berichte werden vor allem Kontinuitäten weiter geschrieben. Umso interessanter und wichtiger sind die feststellbaren Brüche innerhalb einer größeren Anzahl von Berichten über einen längeren Zeitraum. Unter den gut 350 und mindestens 115 deutschsprachigen Berichten, die zwischen 1750 und 1850 über Frankreich bzw. Polen publiziert wurden, steht der von Spazier verfasste Bericht zugleich für einen klaren Bruch. Dieser Bruch wird allein schon im Titel deutlich, wenn man den Bericht mit früheren Reisebeschreibungen vergleicht.

Europas mentale Geografie um 1800: Nord – Süd, ein historisch-klimatischer Raum

Der Titel „Ost und West. Reisen in Polen und Frankreich“ wirkt auf den ersten Blick ebenso schlicht wie geografisch korrekt: Polen als Reiseziel im Osten, Frankreich demgegenüber im Westen. Ohne Frage dürfte ein heutiger Reisender auf der Route Hamburg-Warschau angeben, sich auf einer Reise gen Osten zu befinden und sich – entgegengesetzt – auf der „mental map“ gen Westen bewegen, wenn es sich um die Route Berlin-Paris handelt. Um 1800 jedoch war dies nicht der Fall und die Ausrichtung Polens und Frankreichs nach Osten und Westen ein Novum.

Noch 30 Jahre vor Spazier begann Johann Gottfried Seume seinen Reisebericht „Mein Sommer 1805“ mit den Zeilen: „Ich war Willens, über meine jetzige Ausflucht nach dem Norden nichts zu sagen.“[9] Was Seume in seinem damals viel gelesenen Bericht als Reise gen Norden beschrieb, war die Route von Dresden über Warschau und Kurland nach Petersburg und von dort nach Skandinavien. Polen und Russland bildeten bei ihm gemeinsam mit den skandinavischen Ländern den Norden. Auch andere Reisende sahen Polen und Russland als Teil des Nordens. Der aus Danzig stammende Carl Feyerabend kritisierte in einem 1798 veröffentlichten Reisebericht unter dem Eindruck physiokratischen Denkens die Land- und Holzwirtschaft der „nordischen Staaten“ Russland und Polen. Selbst Lemberg, das nach der ersten Teilung Polens 1772 zu Österreich gehörte, wurde von dem aus Mähren stammenden Joseph Rohrer im Norden lokalisiert.[10]

Der geografischen Zuordnung Polens, Russlands, Dänemarks, Schwedens, oft auch Preußens zum Norden folgten auch Reisende aus anderen europäischen Ländern wie die Engländer John Carr in seinem „A Northern Summer“ von 1805 und Nathaniel Wraxall in den 1770er Jahren oder die Franzosen Alphonse Fortia de Piles, der von den „États du Nord“ sprach, und Jean-Claude-Hyppolite Méhée de la Touche.[11] Diese bis 1800 geläufige räumliche Ordnung Europas entstammte der aus der Antike über die Renaissance überlieferten Tradition eines Weltbildes eines zivilisierten Südens und eines barbarischen Nordens, das sich wesentlich auf die Rezeption von Tacitus zurückführen lässt.

Aber nicht nur die literarische Tradition war für die Konstituierung der geografischen Kategorie des Nordens entscheidend. Die Beobachter führten eine Reihe von Faktoren an, die Länder wie Polen und Russland mit den baltischen sowie skandinavischen Ländern verbanden. Hierzu gehörte die klimatische Vergleichbarkeit, die den Norden prägte und vom Süden unterschied. Das Klima wiederum bedingte die von den Reisenden wiederholt betonten Ähnlichkeiten in der Alltagskultur, Architektur oder Kleidung der Menschen des Nordens. Entsprechend der Klimatheorie des 18. Jahrhunderts unterschied Montesquieu in seinem „L’Esprit des lois“ von 1748 die europäischen Staaten und deren Regierungsformen nach Nord und Süd. Nicht zuletzt waren es historische Gründe, vor allem die Erinnerung an die Kriege zwischen Polen-Litauen und Schweden in der Mitte des 17. Jahrhunderts, die den Norden in den Berichten als eine historische Region konstituierten. In Polen waren nicht nur Erinnerungen an diese Kriege von sehr großer Bedeutung, sondern auch die bis weit ins 18. Jahrhundert hinein sichtbaren Spuren aus den Kriegen der 1650er und 1660er Jahre, die der so genannten Großen Sintflut und die des Großen Nordischen Krieges zu Beginn des 18. Jahrhunderts, in denen Russland und Schweden um die Vorherrschaft im Ostseeraum gerungen hatten. Schließlich betonten die Reisenden die Gemeinsamkeiten zwischen Skandinavien, den baltischen Regionen, Russland und Polen in Bezug auf Demografie und Urbanität, indem sie die schwach ausgeprägte städtische Kultur von den ihnen bekannten Heimatregionen unterschieden.

Nachdem Frankreichreisen lange beinahe gleichbedeutend mit Parisreisen waren, nahmen besonders in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts Reisen in die Provinz zu. Diese Reisen führten in der Regel in die südlichen Teile des Landes. Spätestens ab Lyon, so Karl Friedrich von Jariges oder der aus Hamburg stammende Kaufmann Johann Daniel Mutzenbecher, nehme das Land einen südlichen Charakter an. Wie die Reisenden, die sich zeitgleich auf dem Weg nach Norden befanden, hoben sie das sich wandelnde Klima hervor, das wiederum eine veränderte Vegetation sowie Architektur, Kleidung und Alltagskultur bedingte. Positiv wurden die „classischer“ werdende Landschaft des Südens oder die „Denkmäler und Baukunst“ der römischen Antike beurteilt, die für den Süden standen.[12] Analog zum Norden handelte es sich bei der mentalen Raumkategorie des Südens um eine historische, auf die Antike zurückgehende Region.

Anders als im Fall Polens war die geografische Zuordnung Frankreichs zum Süden jedoch nicht ganz eindeutig. Oft betonten die Beobachter die Ähnlichkeiten des nördlichen Frankreichs mit Deutschland. Bei seinen Aufenthalten in der Normandie in den 1840er Jahren musste Jakob Venedey „bei jedem Schritt an Deutschland denken“ und sah sich in Rouen zurück nach Köln oder Nürnberg versetzt.[13] Insofern war Frankreich geteilt auf der Nord-Süd-Achse Europas. Gerade jedoch durch die vielfach kombinierten Reiseziele Italien und Frankreich wurde letzteres aus deutscher Sicht oft dem Süden zugerechnet. Das zeigt nicht zuletzt die Debatte um den Nationalcharakter, der in keinem Bericht fehlte. Dem eigenen „nordischen Ernst“, so das Selbstverständnis der deutschen Besucher, standen abwertend „südliche Phrasen“, die vermeintliche Oberflächlichkeit und Leichtfertigkeit der Franzosen gegenüber und der Charakter der Südfranzosen galt als prägend für die Nation insgesamt.[14] Was bis in diese Zeit fehlt, war eine Zuordnung nach den Kategorien „West“ und „Ost“.

Europas mentale Geografie 1835: Ost – West, ein politischer Raum

Der Bericht von Richard Otto Spazier und sein Titel „Ost und West“ stellten Mitte der 1830er Jahre, zwischen Wiener Kongress und der Revolution von 1848, einen Bruch mit der Tradition des innereuropäischen Nord-Süd-Gegensatzes dar. Kein Reisender hatte bis dahin explizit die geografischen Kategorien von Ost und West für Länder wie Polen und Frankreich – oder auch Russland und England – verwendet. Der Osten existierte zwar, war aber gleichbedeutend mit Orient oder Asien und bezeichnete in der Frühen Neuzeit vor allem das als „barbarisch“, „despotisch“ und „asiatisch“ betrachtete Osmanische Reich.[15] Die polnisch-litauische Union als die letzte lateinisch-christliche Bastion, die unter Johann Sobieski 1683 das von den Osmanen bedrohte Wien befreite, war in dieser Alteritätskonstruktion selbstverständlich Teil der europäischen, (unausgesprochen) westlich-okzidentalen, und im Selbstbild „zivilisierten“ Welt.[16]

Als Spazier 1835 Polen dem Osten zuordnete – und Frankreich dem Westen – holte er gewissermaßen diese außereuropäische Alteritätskonstruktion, für die die Kategorie des Ostens stand, nach Europa hinein. Was zuvor für das andere, als bedrohlich empfundene „östliche“ Osmanische Reich stand, nämlich „rückständig“, „despotisch“ oder „barbarisch“ zu sein, galt nun für den innereuropäischen Osten. Mit diesem wurde in der Zeit zwischen 1815 und 1850 zunächst zwar primär das autokratische Zarenreich bezeichnet. Da der größte Teil der ehemaligen polnisch-litauischen Adelsrepublik im Zuge der Teilungen Russland zugeschlagen und das Königreich Polen nach dem Wiener Kongress in Personalunion mit dem Zarenreich regiert wurde, übertrug Spazier – bei aller Sympathie mit Polen und deren Kampf um nationale Unabhängigkeit – die Kategorie des Ostens nun aber auch auf Polen. Der innereuropäische Westen, neben Frankreich auch England und die Niederlande, stand auf dieser normativ verstandenen mentalen Landkarte für Fortschritt, Moderne und Liberalität.

Wenn ein „schwacher Text“ (LaCapra) wie der von Spazier einen solchen Bruch anzeigt, ist dies eher als ein Indiz für eine lang- oder mittelfristige Entwicklung zu interpretieren denn als eine originäre Idee des Autors. Legt man die Idee der Zirkulation von Texten, Wissen und Diskursen zugrunde, wird deutlich, dass in einem Zeitraum zwischen Wiener Kongress und Märzrevolution auch in anderen Texten nach dieser geografischen Neuausrichtung Europas zu suchen ist.[17]

Ansätze der geografischen Neuausrichtung Europas finden sich neben philologischen Texten, die um 1800 begannen, die skandinavischen Sprachen systematisch von den slawischen zu unterscheiden, in Hegels „Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte“ aus den 1820er Jahren. Er unterteilte Europa in drei Regionen: eine südliche, „gegen das Mittelmeer gekehrt“, dann „das Herz Europas“, zu dem er Frankreich, England und Deutschland als „Hauptländer“ zählte, schließlich „bilden die nordöstlichen Staaten Europas Polen, Russland, die slawischen Reiche“ den dritten Teil Europas. In der Bezeichnung der „nordöstlichen Länder“ wird der Übergangscharakter in der Zeit nach 1815 deutlich.[18] Ost und West standen bei Hegel als geografische Größen in dem von ihm gekennzeichneten Verlauf der Weltgeschichte nach wie vor für den Gegensatz zwischen Europa und Asien. Für eine innereuropäische Ausdifferenzierung hatten sie noch keine eindeutige Relevanz. Dennoch wird auch hier der Wandel in der Zeit nach 1815 sichtbar.

Entscheidend für das endgültige Drehen Europas von einer dominanten Nord-Süd-Zivilisationsachse auf eine Ost-West-Dichotomie waren die Julirevolution in Frankreich und der Novemberaufstand in Polen. Beide Ereignisse, die oft nur im Schatten der Französischen Revolution und der Revolution von 1848 erinnert werden, sorgten um 1830 herum dafür, dass ein zuvor primär entlang des aufgeklärten Klimadiskurses geteiltes Europa nun vor allem entlang der neuen politischen Koordinaten betrachtet wurde. Für die Generation Spaziers, der um 1800 oder noch während der Französischen Revolution geboren wurde und so auch mit der Verheißung einer nach heutigen Gesichtspunkten liberalen Gesellschaft groß werden sollte, bedeutete das Jahr 1830 eindeutig einen Umbruch. Das autokratisch-absolutistische Zarenreich und seine Einflusszone wurden nach der Niederschlagung des Novemberaufstandes letztlich nicht nur von ihm zum Osten Europas erklärt und so mit der bekannten Chiffre für Rückständigkeit, Barbarei und Peripherie verknüpft. Auch die bürgerlich geprägte Julimonarchie Frankreichs stand gemeinsam mit England für viele liberal Gesinnte von nun an für eine politische Moderne im Sinne von Verfassung, Rechtstaatlichkeit und Zivilisation, und mithin für das neue der Zukunft zugewandte Europa.

Aus deutscher Sicht hatte sich Europa in den Jahrzehnten nach 1815 von der älteren Nord-Süd-Ausrichtung auf eine bis heute weitgehend gültige Ost-West-Achse gedreht. Das Spezifische der deutschen Sicht auf beide mentalen Ordnungen war, dass Deutschland sich auf ihnen in einer mittleren Position und damit auf der Schnittstelle zwischen den Polen befand. Für die gebildeten, politisch orientierten Beobachter der Zeit, so auch Spazier, war dies eine ambivalente Situation. Der Blick richtete sich zunehmend auf das westliche Vorbild. Man selbst jedoch gehörte nicht dazu, war doch Preußen politisch in den Jahren nach dem Wiener Kongress Russland und Habsburg – und damit dem Osten – näher als dem Westen. Für die unmittelbare Nachbarschaft zum östlichen Nachbarn zu Polen sollte diese Konstellation Folgen haben. Viele Autoren, auch Reisende, äußerten sich schon bald nach der kurzlebigen Euphorie nach dem Novemberaufstand zunehmend negativ und abwertend über Polen, das Polnische und das Slawische.[19] Niemand will im Osten sein. Auch in dieser Hinsicht gibt es bis heute eine starke Kontinuität.

 


[1] Zu diesem Aspekt vgl. Wolff, Larry, Inventing Eastern Europe. The Map of Civilization on the Mind of the Enlightenment, Stanford 1994; Lemberg, Hans, Zur Entstehung des Osteuropabegriffs im 19. Jahrhundert. Vom „Norden“ zum „Osten“ Europas, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 33 (1985), S. 48-91.

[2] Vgl. Richard Otto Spazier, Ost und West. Reisen in Polen und Frankreich (Stuttgart 1835); [Auszüge]

[3] Zedler, Johann Heinrich (Hg.), Art. „Reisen“, in: Großes vollständiges Universal-Lexicon aller Wissenschaften und Künste, 64 Bde., Leipzig/Halle 1732-1750 (ND: Graz 1961-1964), Bd. 31 (1742), Sp. 366-384.

[4] Zum Begriff des „schwachen Texts“ vgl. LaCapra, Dominick, Geistesgeschichte und Interpretation, in: Ders.; Kaplan, Steven L. (Hgg.), Geschichte denken. Neubestimmung und Perspektiven moderner Geistesgeschichte, Frankfurt am Main 1988, S. 45-87.

[5] In Anlehnung an Blochs Konzept für die Zeit um 1800 vgl. Herrmann, Britta; Thums, Barbara (Hgg.), Ästhetische Erfindung der Moderne. Perspektiven und Modelle 1750-1850, Würzburg 2002.

[6] Vgl. Spazier, Ost und West, S. 107.

[7] Ebd., S. 109.

[8] Ebd., S. 129, 203, 206.

[9] Seume, Johann Gottfried, Mein Sommer 1805, 2. Aufl., Leipzig 1815, S. III.

[10] Vgl. Feyerabend, Carl B., Kosmopolitische Wanderungen durch Preußen, Liefland, Kurland, Litthauen, Vollhynien, Podolien, Gallizien und Schlesien, in den Jahren 1795 bis 1797, 4 Bde., Germanien [Danzig] 1798-1803, hier Bd. 2, S. 367; Rohrer, Joseph, Bemerkungen auf einer Reise von der türkischen Gränze über die Bukowina durch Ost- und Westgalizien, Schlesien, Mähren nach Wien, Wien 1804, S. 157.

[11] Vgl. Carr, John, A Northern Summer; or, Travels round the Baltic through Denmark, Sweden, Russia, Prussia, and Part of Germany in the Year 1804, London 1805; Wraxall, Nathaniel, Cursory Remarks Made on a Tour through Some of the Northern Parts of Europe, Particularly Copenhagen, Stockholm, and Petersburgh, London 1775; Fortia de Piles, Alphonse-Touissaint-Joseph-André-Marie-Mars (anonym), Voyage de deux Français en Allemagne, Danemarck, Suède, Russie et Pologne, fait en 1790-1792, Bd. 5: Pologne et Autriche, Paris 1796; Méhée de la Touche, Jean-Claude-Hyppolite (anonym), Mémoires particuliers et extraits de la correspondance d’un voyageur avec feu Monsieur de Beaumarchais sur la Pologne, La Lithuanie, la Russie Blanche, Pétersbourg, Moscow, la Crimée, etc., etc. Contenant des Observations nouvelles sur la Puissance militaire de la Russie, ses Finances, ses Mœurs et Coutumes, etc., etc., Paris 1807, S. 14.

[12] Vgl. Mutzenbecher, Johann Daniel (anonym), Bemerkungen auf einer Reise aus Norddeutschland über Frankfurt nach dem südlichen Frankreich im Jahr 1819, Leipzig 1822, S. 139; Jariges, Karl Friedrich von (anonym), Bruchstücke einer Reise durch das südliche Frankreich, Spanien und Portugal im Jahr 1802, Leipzig 1810, S. 10-14.

[13] Vgl. Venedey, Jakob, Reise und Rasttage in der Normandie, 2 Bde., Leipzig 1838, hier Bd. 1, S. 4.

[14] Vgl. Fahne, Anton, Bilder aus Frankreich vom Jahre 1831. Beiträge zur Beurtheilung unserer Zeit, Berlin 1835, S. 216; Venedey, Jacob, Das südliche Frankreich, 2 Bde., Frankfurt am Main 1846, hier Bd. 1, S. 388.

[15] Vgl. Lemberg, Entstehung des Osteuropabegriffs, S. 71f.

[16] Vgl. Delanty, Gerard, Inventing Europe. Idea, Identity, Reality, New York 1995, S. 35-37, 42-47.

[17] Vgl. Struck, Bernhard, Nicht West – nicht Ost. Frankreich und Polen in der Wahrnehmung deutscher Reisender, 1750-1850, Göttingen 2006, S. 185-192.

[18] Vgl. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, 5. Aufl., Frankfurt am Main 1999, S. 132-136.

[19] Vgl. Struck, Nicht West – nicht Ost, S. 387-432.


Literaturhinweise:

  • Orlowski, Hubert, „Polnische Wirtschaft“. Zum deutschen Polendiskurs der Neuzeit, Wiesbaden 1996.
  • Schenk, Frithjof Benjamin, Mental Maps. Die Konstruktion von geographischen Räumen in Europa seit der Aufklärung, in: Geschichte und Gesellschaft 28 (2002), S. 493-514.
  • Todorova, Maria, Die Erfindung des Balkans. Europas bequemes Vorurteil, Darmstadt 1999.
  • Wolff, Larry, Inventing Eastern Europe. The Map of Civilization on the Mind of the Enlightenment, Stanford 1994.

Richard Otto Spazier, Ost und West. Reisen in Polen und Frankreich (Stuttgart 1835); [Auszüge][1]

In neuester Zeit kommt dazu, daß es uns nicht mehr erlaubt ist, wie unsern großen Schriftstellern der vergangenen Periode, Vorbereitungen und Studien zu machen; bei uns fällt Entwurf und Ausarbeitung fast immer in einander; die Zeit drängt uns zu sehr. – Vergleichen Sie die Zeit, in welcher heut ein Buch gemacht werden muß, soll es nicht um moralische oder intellektuelle Decennien zu späte kommen, mit jenen zehn bis zwölf Jahren, in denen ein Meister, Faust, Titian, selbst noch Raumer’s Geschichte der Hohenstaufen, gemacht wurden, abgerechnet die Jahre, welche die Manuscripte auf den deutschen Postwagen auf der Reise zu allen guten Freunden zubrachten! – Man hat jetzt kaum Zeit zur einmaligen Durchsicht. Darum sind wir so himmelschreiend incorrect, unsystematisch, freilich frischer. [...] Ich werde Ost und West, Polen und Frankreich, und Alles, was dazwischen liegt, besprechen alternativ wo und wie ich Lust habe, sich vermischen miteinander, bald über den Rhein und die Weichsel, bald über die Seine und die Loire, bald in mein Herz, bald in ein Buch springen. Ich weiß gewiß, das Ding sieht nachher ganz hübsch angelegt und absichtlich aus, und die Leser wittern darin einen fein angelegten und überdachten Plan. […] [S. 21]

Wem war nicht sonst wohl in seinen Begriffen der Name ‚Polen’ fast gleichbedeutend mit Wildniß, Oede, düsterem Landstrich, finsterem Wald und Sand? Wem erschien es nicht in der Einbildungskraft als ein unwirthlicher, schmutziger, armer, unangebauter, verwahrloster Erdstrich? Und welcher deutsche Jüngling hätte sich am Ende des Jahres 1831 nicht mit Entzücken in das Erlenwäldchen von Grochow plötzlich versetzt gefunden [...], und währe nicht so freudig durch die Weichsel bei Pulawy geschwommen, wie Lord Byron durch den Hellespont bei Sestos und Abydos? […] [S. 110]

Die Bauerhäuser haben durchaus nackte braune Lehmwände, und die von Alter ganz grau gewordenen dicken Strohdächer hängen darüber fast bis zur Erde herunter, so daß sie fast mehr als Dächer von Erdwohnungen, als wie von Häusern erscheinen. Dies ist es nun, was diese Provinz [Posen] für den Blick so leblos macht. [...] Indessen, sobald man sich nur etwas daran gewöhnt hat, erscheint dieses Land dennoch uns heimischer und wohnlicher, als die abscheulichen französischen grauen und gelben Steindörfer mit den wie Schwalbennester an einander klebenden zwei- und dreistöckigen Häusern und deren kleinen Fensterlöchern. […] [S. 135-136]

So wären denn jetzt in einem und demselben Lande nach einer Einverleibung von fast vierzigjähriger, nur durch wenige Jahre unterbrochener Dauer, beide Einwohnerschaften wie Wasser und Oel von einander geschieden. [...] Es fiel mir ein großer Stein vom Herzen, als ich sie [die Grenze] hinter mir hatte. Denn so viel ich Freudiges und Angenehmes in der Provinz Posen erfahren, so lag es doch hinter mir als ein düsteres und in seinem jetzigen Verhältnissen unheimliches Land mit nur hin und wieder auftauchenden grauen Lichtflecken und Oasen. Wie schön und frei athmete ich auf, als ich unter dem schönsten blauen Augusthimmel durch die schönen schlesischen Dörfer mit den geräumigen und wohnlichen Häusern und heitern Kirchthürmen [...] vorüberfuhr [...]. [S. 159-160]

Es muß ihn [den Menschen] unaufhörlich drängen, sich einer großen Gesamtheit entweder nach Osten oder nach Westen hin einzuverleiben, und nicht bloß aus materiellem und geselligem, sondern auch aus geistigem Bedürfnis. […] [S. 218]

Am meisten entrüstete mich, daß der Wirth, der früher gewiß mit der größten patriotischen Miene hunderte von Schoppen den Sängern deutscher Freiheitslieder in demselben Zimmer vorgelegt hatte, sich in die größten Schmähungen gegen diese jetzt verurtheilten Leute ergoß und mit ziemlich deutlichen Winken auf mich, der ich nach Frau Regina Wirth zu fragen gewagt, von den zur Ruhe zu bringenden Schwindelköpfen sprach. […] Und wenn Deutschland solche Naturen so dicht an der französischen Grenze ?Homburg? in einem im Allgemeinen beamten- und garnisonslosen bürgerlich ziemlich gleichgestellten Lande, unter Klassen, die ihrem Gewerbe nach unabhängig sind, wenn, sage ich auch hier noch, Deutschland solche Naturen erzeugt, so wird man sich leicht mit allen jenen Erbärmlichkeiten aussöhnen, die man weiter nach Osten zu unter so weit drückenderen Verhältnissen findet, und muß seinen fragenden Blick an den Weltgeist richten, warum er unserm deutschen Boden Ingredienzien beigemischt, die ihre Produktionskraft in der Hervorrufung solcher motivlosen Servilität an den Tag legen. [S. 222-223]


[1] Spazier, Richard Otto, Ost und West. Reisen in Polen und Frankreich, Stuttgart 1835, S. 21, 110, 135-136, 159-160, 218, 222-223.


Für das Themenportal verfasst von

Bernhard Struck

( 2007 )
Zitation
Bernhard Struck, Vom historisch-klimatischen Raum zum politischen Raum. Europas mentale Geografien um 1800, in: Themenportal Europäische Geschichte, 2007, <www.europa.clio-online.de/essay/id/fdae-1387>.
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