Der Arbeiter auf der Londoner Weltausstellung des Jahres 1851. Ein ethnografischer Blick aus liberaler Perspektive[1]
Von Steffen Sammler
Die theoretischen Vorstellungen des radikalen Liberalismus, der das Ideal der bürgerlichen Gesellschaft in der Verbindung von politischer und wirtschaftlicher Freiheit für alle männlichen Mitglieder gesehen hatte, gerieten im Verlauf der Industrialisierung in einen zunehmenden Konflikt zu den wirtschaftlichen Realitäten, die zu einer kulturellen Trennung des Unternehmers von den von ihm beschäftigten Arbeitern geführt hatte. Diese Trennung wurde von den Vertretern eines radikalen politischen und wirtschaftlichen Liberalismus aus den Reihen der ersten Generation der historischen Schule der Nationalökonomie in Deutschland und des französischen „libéralisme bleu“ als Gefahr für die bürgerliche Gesellschaft angesehen, da sie diese zwischen den Extremen einer kommunistischen Gleichmacherei und einer neuen „Aristokratie der Industrie“ zu zerreiben drohte. Das englische Modell der trade unions stieß in gleichem Maße wie die staatliche Beschäftigungsgarantie, welche die französische Revolutionsregierung im Frühjahr 1848 durch die Nationalwerkstätten zu verwirklichen suchte, auf den Widerspruch der liberalen Nationalökonomen, die sich gleichermaßen gegen staatliche Eingriffe in die Organisation des Unternehmens wie gegen regelmäßige Unterbrechungen des Produktionsprozesses durch die Konfrontation sich feindlich gegenüberstehender Koalitionen der Unternehmer und der Arbeiter ausgesprochen hatten.
Die erste Weltausstellung, die 1851 in London stattfand, wurde deshalb von vielen Zeitgenossen als eine Zäsur interpretiert, mit der der Fokus von den politischen Auseinandersetzungen der Revolution auf das einigende Band der materiellen Interessen gerichtet werden sollte. Auf der Grundlage eines scheinbar grenzenlosen Wachstums der industriellen Produktion sollte der verhängnisvolle Kreislauf durchbrochen werden, der in Gestalt des Krisenzyklus in regelmäßigen Abständen zu einer Vernichtung der erzeugten Produktion und der Entlassung der produzierenden Arbeitskräfte geführt hatte.
Nachdem bereits auf den nationalen Ausstellungen der 1840er Jahre in Berlin, Brüssel und Paris intensiv über den Anteil des Arbeiters an der Produktion des gesellschaftlichen Reichtums diskutiert worden war und der Arbeiter auf den nationalen Industrieausstellungen in Frankreich und Belgien eine entsprechende materielle und symbolische Würdigung gefunden hatte, bot die Weltausstellung des Jahres 1851 einen idealen Rahmen für eine vergleichende Betrachtung der unterschiedlichen Formen der Organisation der Arbeit, die für den Erfolg oder Misserfolg der industriellen Produktion in den verschiedenen Ländern verantwortlich gemacht wurden. Unter den zahlreichen Intellektuellen, die sich von der Atmosphäre der ersten Weltausstellung inspirieren ließen, befand sich auch der französische Nationalökonom Jérôme-Adolphe Blanqui (1798-1854), der für die Leser der Zeitung La Presse aus London berichtete.[2]
Blanqui wurde in der Familie eines Gymnasiallehrers für Philosophie in Nizza geboren und studierte Medizin und Nationalökonomie in Paris. Unter dem Einfluss seines Lehrers Jean-Baptiste Say konzentrierte er sich später auf das Feld der Nationalökonomie. Er stand den Ideen Henri de Saint-Simons aufgeschlossen gegenüber und beteiligte sich an der Redaktion der Zeitschrift „Le producteur“. 1833 übernahm er von seinem Lehrer den Lehrstuhl für politische Ökonomie am Pariser Conservatoire des arts et métiers und wurde fünf Jahre später zum Mitglied der Académie des sciences morales et politiques gewählt. Die Lehrtätigkeit am Conservatoire des arts et métiers konfrontierte ihn mit der Notwendigkeit, die abstrakten Lehrsätze der schottischen Klassiker Adam Smith und David Ricardo den Erfordernissen der von ihm unterrichteten industriellen Unternehmer und Gewerbetreibenden anzupassen. Gleichzeitig versuchte er die Ursachen für das Ausbleiben des materiellen Erfolges des von ihm vertretenen wirtschaftlichen und politischen Modells für große Teile der französischen Bevölkerung mit Hilfe sozialwissenschaftlicher und ethnografischer Methoden systematisch zu erforschen. Dazu entwickelte er die Methode der englischen Parlamentsenqueten weiter und versuchte die Felder der politischen Kultur, der wirtschaftlichen Organisation mit der Beobachtung des Alltags zu verbinden. Als Mitglied der Académie des sciences morales et politiques führte er eine Reihe von Enqueten über den Verlauf der Industrialisierung auf dem Balkan, in Algerien, Belgien, England und Spanien durch, welche die Grundlage für die von ihm entwickelte Typologie des industriellen Arbeiters bildeten, die er im siebzehnten seiner „Briefe über die Weltausstellung“ vorstellte. Weiterhin verfasste Blanqui eine Enquete über die institutionellen und kulturellen Bedingungen des blockierten Industrialisierungsprozesses in der Türkei. Für diese Studien bereiste Blanqui die Länder und fertigte ausführliche, deskriptiv angelegte Reiseberichte an, in denen er seine Eindrücke nicht weiter methodisch hinterfragte. Im Hinterkopf hatte Blanqui jedoch immer die Saint-Simonistische These der Gemeinschaft selbständiger Kleinproduzenten. Andererseits trat er für weltweiten Freihandel und die Ausnutzung regionaler, (kultur-)spezifischer, komparativer Kostenvorteile ein.
In seiner Enquete über „die Arbeiterklassen Frankreichs im Jahr 1848“ stellte er den Fabrikarbeiter der nordfranzösischen Industriegebiete dem selbständig tätigen Meister der Lyoner Seidenweberei gegenüber, der im Zentrum des von ihm favorisierten Modells der bürgerlichen Gesellschaft stand. Die Kritik an der Organisation der Arbeit in den industriellen Ballungsgebieten Nordfrankreichs und an den daraus resultierenden Folgen für die Gesundheit und Moral der Arbeiterinnen und Arbeiter führte Blanqui in eine Konfrontation mit den industriellen Unternehmern Nordfrankreichs, die seine wirtschaftspolitischen Überzeugungen und seine Stellung als Hochschullehrer in zunehmendem Maße in Frage stellten.
Die Auseinandersetzung um die wirtschaftliche Entwicklungsperspektive der bürgerlichen Gesellschaft hatte Jerôme-Adolphe Blanqui nicht zuletzt in der eigenen Familie gegen seinen jüngeren Bruder, den Berufsrevolutionär Louis-Auguste Blanqui (1805-1881) zu führen. Er setzte sich deshalb das Ziel, den französischen Arbeiter davon zu überzeugen, dass der von seinem Bruder praktizierte politische Aktionismus ebenso wie der Appell an die Staatshilfe keine Erfolg versprechenden Mittel zur Verbesserung der materiellen Lage darstellten. Die Arbeiter sollten sich vielmehr von der Leistungsfähigkeit ihrer kontinentaleuropäischen Gewerbsgenossen überzeugen und deren Eigenschaften und Organisationsformen übernehmen und weiterentwickeln.
Die Überlegungen, die Blanqui auf der Weltausstellung über den Arbeiter angestellt hatte, erschienen zeitgleich in einer englischen und deutschen Übersetzung und erfuhren ein breites Echo in der internationalen Presse, da sie sich durch ihren systematisch vorgenommenen Vergleich und durch die radikale Zukunftsperspektive der Industriegesellschaft von der Mehrheit der anderen Berichte über die Weltausstellung unterschieden. Blanqui stellte den Arbeiter in einer Zeit, in der dem britischen Central Working Classes Committee die Teilnahme an der königlichen Ausstellungskommission verweigert worden war, nicht länger als ein bedauernswertes und Furcht einflößendes Wesen dar, das sich durch seine Lebensweise von der bürgerlichen Gesellschaft absondern und diese durch sein zahlenmäßiges Wachstum in ihrer Existenz bedrohen würde. Er präsentierte ihn vielmehr als Produzenten der auf der Ausstellung gezeigten Erzeugnisse. Gleichzeitig zeichnete er die Vision einer liberalen Weltgesellschaft, die nicht auf Europa und die Vereinigten Staaten von Nordamerika beschränkt bleiben müsse, sondern durch die Bewohner aller Regionen verstärkt werden sollte, die durch die Übernahme der liberalen Institutionen die Voraussetzungen für eine erfolgreiche wirtschaftliche Entwicklung geschaffen hätten und sich auf der Grundlage des Prinzips der komparativen Kostenvorteile an der arbeitsteiligen Produktion beteiligen könnten. Dabei wies er dem indischen Arbeiter nicht die Rolle eines Rohstofflieferanten für die europäische Industrie zu, sondern betrachtete dessen handwerkliche und künstlerische Fähigkeiten auf der gleichen Ebene wie die seiner europäischen Kollegen. Allerdings sollte die indische Gesellschaft die institutionellen Voraussetzungen der europäischen Gesellschaften übernehmen.
Blanqui knüpfte mit seinen Überlegungen über den Arbeiter an die Arbeiten seines Lehrers Jean-Baptiste Say an, der in seinen „Vorlesungen über die angewandte Volkswirtschaftslehre“ typische Formen der Organisation der Arbeit in Europa definierte und die Ursachen für ihre Entwicklung herausarbeitete.Say hatte in Gestalt der Arbeitsintensität des englischen Arbeiters und des Verantwortungsbewusstseins des zünftigen Handwerksmeisters in Deutschland bereits zwei Eigenschaften hervorgehoben, welche auch sein Schüler Blanqui als wichtige Voraussetzung für den Erfolg der modernen Industriegesellschaft ansah. Say stellte diese Eigenschaften in einen Gegensatz zur Mentalität des Tagelöhners, der in den katholischen Regionen Spaniens und Italiens in einem Teufelskreis von saisonalem Tagelohn und Bettelei gefangen sei, der durch die Institutionen der katholischen Sozialfürsorge zementiert werde.
Blanqui konstruierte drei Typen von Arbeitern, die im industriellen Wettbewerb miteinander konkurrierten und die er idealtypisch mit dem britischen Fabrikarbeiter, dem französischen künstlerisch-kreativen Arbeiter und dem traditionellen deutschen Handwerksmeister identifizierte. Die Überlegungen Says und seines Schülers Blanqui sollten allerdings nicht voreilig als Stereotypisierungen nationaler Arbeitskulturen kritisiert werden. Die Beobachter sahen deutlich, dass der in der Baumwollindustrie tätige Arbeiter im französischen Rouen oder sächsischen Chemnitz den gleichen Bedingungen unterworfen war wie der typische englische Maschinenspinner und folglich diesem Typ zuzuordnen sei. Es kam den französischen Beobachtern darauf an, auf der Grundlage eines systematischen Vergleichs unterschiedlicher Arbeitskulturen eine ideale Form der Organisation der Arbeit zu definieren, die in besonderen Maße geeignet schien, das Ideal der Vereinigung von wirtschaftlichem und politischem Liberalismus zu verwirklichen. Dazu sollten die positiven Merkmale der drei konstruierten Typen kombiniert werden. In einem zweiten Schritt sollten dann die typischen Industriezweige auf der regionalen Ebene verortet werden, die auf der Grundlage des Prinzips der komparativen Kostenvorteile die arbeitsteilige Weltgesellschaft konstituieren sollten. Der Arbeiter sollte in der Lage sein, sich nach einer gewissen Lehrzeit eine auf selbständige Arbeit gegründete Existenz zu schaffen, da der selbständige Unternehmer das höchste Maß an Verantwortungsbewusstsein und Stolz für das von ihm gefertigte Erzeugnis repräsentierte. Die selbständige Tätigkeit gestatte dem Arbeiter die Gründung einer Familie und die Teilhabe am politischen Leben, die eine Einheit bilden und in einem ausgewogenen zeitlichen Verhältnis zueinander stehen sollten.
Die Grundlage für die Erreichung dieses Ideals bildete allerdings die Fähigkeit zum konzentrierten und intensiven Arbeiten, die laut Blanqui vor allem den englischen Fabrikarbeiter auszeichnete. Die Arbeitsintensität des englischen Fabrikarbeiters stand in einem Gegensatz zur Praxis des französischen Arbeiters, der den Rhythmus von Arbeit und Freizeit selbst zu bestimmen suchte. Das willkürliche Fernbleiben von der Arbeit und die Erzwingung von Pausen, die dem Alkoholkonsum oder der Lektüre von Zeitungen mit anschließender politischer Debatte gewidmet wurden, stellte bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts ein verbreitetes Phänomen dar, das von den kontinentaleuropäischen Unternehmern immer wieder beklagt wurde.
Im hohen Grad der Politisierung, die den französischen Arbeiter von einer kontinuierlichen Arbeit abhalten würde, sah Blanqui ebenfalls ein Hindernis für die erfolgreiche Entwicklung der französischen Industriegesellschaft. Die Organisation der Arbeit in den Zentren der englischen Fabrikindustrie hindere den Arbeiter an der Verwirklichung des Ziels der wirtschaftlichen Selbständigkeit und der Gründung einer Familie. Sie dränge ihn in politische Koalitionen, die ihn nicht nur in einen Gegensatz zu seinen Arbeitgeber stellen, sondern gleichzeitig von seiner Familie entfremden. Die enge Bindung an die Familie wurde von Blanqui als eine Stärke des deutschen Arbeiters gesehen, die es diesem leicht machte, der kommunistischen Agitation zu widerstehen, die in jüngster Zeit von Frankreich auf Deutschland übergegriffen habe.
Blanqui stellte dem abhängig beschäftigten Fabrikarbeiter noch einmal das Ideal eines selbständigen Unternehmers gegenüber, der die Kreativität des französischen Künstlers mit der Solidität des deutschen Handwerksmeisters vereinigen sollte. Er versprach sich von diesem Modell einen dauerhaften Wettbewerbsvorteil gegenüber der industriellen Massenproduktion. Er sah allerdings nicht voraus, dass vor allem die englischen Unternehmer auf der Weltausstellung von 1851 die Überlegenheit der französischen Konkurrenz in der Frage des Designs klar erkannten. Sie unternahmen nicht nur große Anstrengungen, durch die Gründung von Kunstgewerbemuseen und Designschulen diesen Rückstand aufzuholen, sondern es gelang ihnen, die von Blanqui hervorgehobenen Wettbewerbsvorteile des künstlerisch-kreativen französischen Arbeiters mit der industriellen Massenfabrikation zu verbinden und damit das Ideal einer demokratischen Gesellschaft selbständiger Kleinproduzenten endgültig in das Reich der Utopie zu verweisen.
Blanqui nahm mit seinem Vorschlag, bei Gelegenheit der Weltausstellung die Arbeiter aller beteiligten Nationen zu einem internationalen Kongress zu vereinigen, eine Entwicklung vorweg, die ein Jahrzehnt später am 28. September 1864 mit der Gründung der Internationalen Arbeiterassoziation in London verwirklicht werden sollte. Die Kongressbewegung der internationalen Arbeiterbewegung folgte allerdings nicht dem von den Vertretern des radikalen Liberalismus vorgezeichneten Weg, sondern vollzog die Trennung von der bürgerlichen Sozialreform, die sich ihrerseits seit den 1850er Jahren zu regelmäßigen Wohltätigkeitskongressen versammelte.
Die bürgerlichen Verteidiger eines Interessenausgleichs zwischen Unternehmern und Arbeitern in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts beschritten den Weg der katholischen Sozialreform, die vor allem mit dem Namen von Frédéric Le Play verbunden ist, der vier Jahre nach Blanqui auf der Weltausstellung von 1855 seine ethnografischen Studien über die „europäischen Arbeiter“ vorstellte. Diese bildeten die Grundlage für den paternalistischen Blick, mit dem die katholische Sozialreform im 19. und 20. Jahrhundert den inzwischen aus der bürgerlichen Gesellschaft ausgeschlossenen Arbeiter betrachten sollte.
[1] Essay zur Quelle: Jérôme-Adolphe Blanqui, Die europäische „Arbeiterfamilie“. Briefe über die Weltausstellung (Siebzehnter Brief, Paris 1851); [Übersetzung und Auszüge].
[2] Siehe Quelle: Jérôme-Adolphe Blanqui, Die europäische „Arbeiterfamilie“. Briefe über die Weltausstellung (Siebzehnter Brief, Paris 1851); [Übersetzung und Auszüge].
Literaturhinweise:
Blanqui, Jérôme-Adolphe, Lettres sur l’Exposition universelle de Londres, Paris 1851.
Demier, Francis, Adolphe Blanqui, un „Libéral critique“ à la chaire d’économie politique du Conservatoire des arts et métiers, in: Les Cahiers du Conservatoire National des Arts et Métiers 2 (1993), S. 59-86.
Haltern, Utz, Die Londoner Weltausstellung von 1851. Ein Beitrag zur Geschichte der bürgerlich-industriellen Gesellschaft im 19. Jahrhundert, Münster 1971.
Katznelson, Ira; Zolberg, Aristide R. (Hgg.), Working-class Formation: Nineteenth-century Patterns in Western Europe and the United States, Princeton, New Jersey 1986.
Langewiesche, Dieter (Hg.), Liberalismus im 19. Jahrhundert. Deutschland im europäischen Vergleich, Göttingen 1988.