Die Eröffnung des ersten McDonald’s in Moskau[1]
Von Luise Althanns
Am 31. Januar 1990 wurde in Moskau der erste McDonald’s eröffnet. Dieses Ereignis kann als Synonym für die Konsumrevolution gelten, welche die ehemals sozialistischen Länder im Zuge des Übergangs zur Marktwirtschaft erlebten. Die sich wesentlich im Konsum niederschlagende Teilung in ein östliches und westliches Europa nahm damit ein Ende.
Im März 1990 erschien auf der Titelseite der führenden sowjetischen Satire-Zeitschrift Krokodil eine Karikatur, welche die Eröffnung des ersten McDonald’s in Moskau auf der Gorkij- (später: Tverskaja-) Straße gegenüber der Puškin-Statue kommentierte. Das in der Karikatur gezeichnete Stadtbild entspricht mit der Coca-Cola-Leuchtreklame zur linken – die Werbung gab es an dieser Stelle seit November 1989 –, den Häusern, den McDonald’s-Emblemen und der Kontur der Statue weitgehend den realen Gegebenheiten des Ortes. Vor dem neuen Schnellimbiss drängen sich Menschenmassen, von den Seiten laufen weitere Menschen hinzu. Auch dies entspricht den damaligen Zuständen.
Der Gründung dieses Restaurants gingen jahrelange Verhandlungen voraus. Beginnend mit einer Initiative von kanadischer Seite gegenüber Vertretern der russischen Delegation bei den Olympischen Spielen in Montreal 1976, kam es im April 1988 schließlich zu einem Vertrag über die Bildung eines Joint Ventures zwischen McDonald’s Kanada und der Moskauer Stadtverwaltung. Die Öffnung der Sowjetunion im Zuge der Gorbacëvschen Perestrojka ab 1985 zeigte darin deutliche Folgen. Beliefert wurde das Restaurant von einer neu errichteten Lebensmittelfabrik bei Moskau. Am Tag der Eröffnung besuchten 30.000 Personen das Restaurant und warteten dabei bis zu fünf Stunden auf die Bedienung mit Fast Food. Eine so große Anzahl an Besuchern hatte man bis dahin noch bei keiner Eröffnung einer Filiale dieses Gastronomiebetriebes in irgendeinem Land gezählt.
Im Moskauer McDonald’s konnte man von Anfang an nur mit Rubeln zahlen, was auch explizit auf einem Schild im Restaurant vermerkt wurde. Diese Praxis übernahmen nicht alle westlichen Geschäfte, die in den nächsten Monaten in den sowjetischen Markt eintraten. Die Hamburger von McDonald’s wurden also als westliches Konsumgut positioniert, das auch dem gewöhnlichen Konsumenten zugänglich sein sollte. Bis dahin waren westliche Konsumgüter vorrangig erhältlich über das System der staatlichen Devisenläden, über die Verteilung an die Konsumenten über ihre Arbeitsstätten und durch Mitbringsel aus dem Ausland. Daher war der Konsum dieser Waren auf privilegierte Kreise beschränkt. Nichtsdestotrotz waren die sowjetischen Verbraucher nicht ahnungslos bezüglich westlicher Marken, da jene in ausländischen und einheimischen Filmen zitiert und teilweise auch real konsumiert wurden. Schließlich gab es in der Sowjetunion vereinzelt auch Lizenzproduktionen westlicher Marken wie z.B. Pepsi oder Adidas.
Die Neuheit von McDonald’s in Moskau bestand nun darin, dass ein dezidiert westliches Produkt den Konsumenten als Massenkonsumgut und nicht als Luxusgut für elitäre Verbrauchergruppen mit Devisenbesitz präsentiert wurde. Der Erfolg dieser Konsuminnovation bei den sowjetischen Konsumenten zeigte sich in den enormen Verkaufs- und Besucherzahlen. Die Eröffnung der ersten McDonald’s-Filiale in Moskau war also eines der wichtigsten Daten auf dem Weg hin zu einer Kultur des Massenkonsums nach westlichen Maßstäben. Sie erfolgte zwei Jahre vor Auflösung der Sowjetunion und der allgemeinen Freigabe der Preise.
Bei der Begeisterung der russischen Konsumenten über McDonald’s muss man sich bewusst machen, dass die westlichen Produkte in einen Markt des Mangels gelangten: Die Versorgung der staatlichen Geschäfte mit Lebensmitteln hatte sich zum Jahreswechsel 1989/90 extrem verschlechtert. Im Mai 1990 wurde in Moskau ein Gesetz erlassen, nach dem sich Kunden beim Einkaufen als Moskauer ausweisen mussten. Damit versuchte man den Einkaufstourismus von Bürgern aus der Provinz in Moskau zu verhindern, was bis dahin eine sehr gebräuchliche Praxis dargestellt hatte. Schon zuvor wurden wieder Rationierungsscheine für bestimmte Konsumgüter in Moskau wie in der ganzen Sowjetunion eingeführt. Der Erfolg von McDonald’s in Moskau in der Anfangszeit war folglich auch durch den Mangel an einheimischen Produkten und nicht nur in einer bedingungslosen Akzeptanz von allem Westlichen durch die Verbraucher begründet.
Unbestritten aber ist, dass McDonald’s als Marke für Massenkonsum nach amerikanischem Vorbild steht. Die Eröffnung des ersten McDonald’s in Moskau lässt sich daher unter das Phänomen der Verwestlichung des Konsums fassen, wie es sich im Zuge der Öffnung des sowjetischen Marktes und des Aufkommens westlicher und insbesondere amerikanischer Marken und Werbung in Moskau und später auch im Rest der Sowjetunion beobachten ließ. Die in der Karikatur zitierte Coca-Cola-Werbung ist ein Beispiel für dieses Phänomen. Im Russland der 1990er Jahre wurde dies als „Snickerisierung“ bezeichnet, da Snickers und andere Schokoladenriegel aufgrund ihrer hohen Konsumfrequenz zu einem Symbol für die Verwestlichung des Konsums in dieser Zeit wurden. Mit dem Satz „Hast du dich an Snickers überessen?“ unterstellte man in den 1990er Jahren, dass jemand zu sehr auf westliche Produkte aus war.
Die Szene wird in der Karikatur aus dem Blickwinkel der Puškin-Statue dargestellt und mit einem Zitat des Dichters gedeutet: „Moskau... wie viel kommt in diesem Klang für das russische Herz zusammen!“ Diese Verse entstammen Aleksander Puškins Poem „Evgenij Onegin” von 1833. Dieses Versepos gilt als sein Hauptwerk und beschreibt einen Ausschnitt aus dem Leben eines jungen Mannes aus Petersburg, der einen Freund im Duell tötet und sich schließlich chancenlos in eine Frau verliebt, deren Liebe er zuvor abgewiesen hat. Der Textausschnitt entstammt dem siebten Kapitel, in dem Evgenij Onegin nach Moskau reist. Moskau wird dabei als prächtig, imposant und geschichtsreich beschrieben. Im Angesicht der Stadt wird der Betrachter sich seines Russentums bewusst. In der Folge wird auf den Brand der Stadt während des Angriffs von Napoleons Heer hingewiesen, was als heroische Abwehr des machtgierigen Feindes bezeichnet wird. Durch den Blickwinkel der Statue und das genannte Zitat erhält der dargestellte Erfolg des amerikanischen Schnellimbisses McDonald’s in Moskau in der Karikatur eine weitere Bedeutung. Die Perspektive der Puškin-Statue auf das Restaurant entspricht zwar den örtlichen Gegebenheiten, ist aber vom Karikaturisten bewusst gewählt. Als Bildunterschrift wird der emotionale Ausruf des in Moskau ankommenden Evgenij Onegin zitiert, für den Moskau russische Großartigkeit symbolisiert. Moskau wird durch die Bezugnahme auf Puškin vorrangig zu einem Kulminationspunkt russischer Kultur, Tradition und Geschichte. Die Eröffnung des ersten McDonald’s in Moskau wird folglich in ironischer Weise als Ereignis der russischen Kulturgeschichte dargestellt. Konsum nach westlichem Vorbild wird der russischen Kultur gegenübergestellt. Vor dem Hintergrund des Textumfeldes des Puškin-Zitates lässt sich die Eröffnung eines westlichen Schnellimbisses in Moskau als ein Eroberungsversuch nach Art von Napoleon deuten, dessen Angriff jedoch scheiterte. Der jahrhundertealte Gegensatz zwischen dem Westen und Russland, der politisch und geistesgeschichtlich begründet war, wird in dieser Karikatur für die Verwestlichung des Konsums im Zuge des Übergangs zur Marktwirtschaft bemüht.
Die Vision eines Kulturverfalls als Folge ausländischer Konsumgüter ist keine Besonderheit dieses Kontextes. Auch im Frankreich der 1950er Jahre war das Aufkommen amerikanischer Elemente im Konsum als Ausdruck eines Kulturverfalls durch die „amerikanische Versuchung“ interpretiert worden. Die hier dargestellte Konsumkritik ist jedoch nicht explizit gegen Amerika gerichtet, sondern gegen den Westen schlechthin, was sich auf eine andere geschichtlich geprägte Selbstpositionierung Russlands zurückführen lässt. Seit dem 19. Jahrhundert wurde die Abgrenzung Russlands von Europa in prominenter Weise von den so genannten Slawophilen gefordert, was Auseinandersetzungen mit den Westlern, die sich für eine Zugehörigkeit Russlands zu Europa aussprachen, provozierte. In einer weiten Interpretation lässt sich in dieser Karikatur somit die Fortschreibung dieses alten slawophilen Standpunktes anlässlich der Eröffnung des ersten McDonald’s in Moskau begreifen. Allerdings erfolgt nun die Abgrenzung nicht mehr von Europa, sondern von einem Westen, der auch Amerika einschließt.
Die Funktion Moskaus als sowjetische Hauptstadt tritt hingegen in den Hintergrund. Die Karikatur spart ein wichtiges Detail des McDonald’s-Emblems auf der Hauswand aus. Fotos aus dieser Zeit zeigen nämlich, dass sich damals unter dem mittleren Bogen des „M“ eine sowjetische Flagge mit Hammer-und-Sichel-Symbol befand, was den rechtlichen Charakter des Restaurants als kanadisch-sowjetisches Joint Venture widerspiegelte. Die Karikatur enthält weder diese noch andere Anspielungen auf den sowjetischen Hintergrund. Die Ankunft von McDonald’s in Moskau wird also nicht als Ankunft in der Sowjetunion, sondern in Russland gedeutet. Das Phänomen der Verwestlichung des Konsums in Form von McDonald’s wird also dem russischen kulturellen Erbe und nicht dem sowjetischen Konsummodell gegenübergestellt. Dies ist umso bemerkenswerter, als andere Karikaturen aus dieser Zeit den Vergleich des sowjetischen mit dem amerikanischen Konsumniveau bemühen und dieser Vergleich seit den 1960er Jahren von höchster politischer Stelle provoziert war. Die Eröffnung des McDonald’s wird so nicht primär in den Kontext von Mangel und Überfluss, sondern von fremder und eigener Kultur und Tradition gestellt.
Die Karikatur spiegelt also sehr deutlich den konsumpolitischen wie auch kulturellen Stellenwert der Eröffnung des ersten McDonald’s in Moskau wieder. Sie deutet dieses Ereignis als ein Beispiel für die beginnende Verwestlichung des Konsums und somit auch der Kultur im Zuge der Veränderungen dieser Zeit.
[1] Essay zur Quelle: Uborevic-Borovskij, V.: „Moskva... kak mnogo v etom zvuke dlja serdca russkogo slilos’!”(„Moskau... wie viel kommt in diesem Klang für das russische Herz zusammen!“), in: Krokodil. Satiriceskij Zurnal 9/1990, S. 1.
Quelle
Literaturhinweise:
Caldwell, Melissa, Domesticating the French Fry. McDonald’s and Consumerism in Moscow, in: Journal of Consumer Culture Vol.1 (2004), S. 5-26.
Humphrey, Caroline, Creating a culture of Disillusionment. Consumption in Moscow - chronicle of changing times, in: Miller, Daniel (Hg.), Worlds Apart. Modernity through the Prism of the Local, London 1995, S. 43-68.
von Schelting, Alexander, Russland und der Westen im russischen Geschichtsdenken der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Berlin 1989.