Les Cabinets Formen der Politik im interkulturellen deutsch-französischen Vergleich

Für die Ministerialkabinette des französischen Regierungssystems gibt es auf deutscher Seite kein Äquivalent. Der Aufsatz untersucht die Ausbildung der persönlichen Beratungs- und Kontrollstäbe der französischen Minister seit dem 19. Jahrhundert. Die Kabinette werden als spezifische Institutionen der politischen Kultur Frankreichs in der Moderne gedeutet, als Folge des doppelten Gegensatzpaares von Zentralismus und lokalen Honoratiorengruppen, von Administration und Regierung. In den letzten Jahren hat sich das französische Regierungssystem den medial vermittelten westeuropäischen Verhandlungsdemokratien angenähert. Dementsprechend haben die Kabinette an Bedeutung verloren. Überraschenderweise erweisen sie sich jedoch auf europäischer Ebene, im System der europäischen „Mehrebenendemokratie“, als höchst funktional.[...]

Les cabinets. Formen der Politik im interkulturellen deutsch-französischen Vergleich

Von Armin Heinen

Für die Ministerialkabinette des französischen Regierungssystems gibt es auf deutscher Seite kein Äquivalent. Der Aufsatz untersucht die Ausbildung der persönlichen Bera­tungs- und Kontrollstäbe der französischen Minister seit dem 19. Jahrhundert. Die Kabi­nette werden als spezifische Institutionen der politischen Kultur Frankreichs in der Moderne gedeutet, als Folge des doppelten Gegensatzpaares von Zentralismus und lokalen Honoratiorengruppen, von Administration und Regierung. In den letzten Jahren hat sich das französische Regierungssystem den medial vermittelten westeuropäischen Verhandlungsdemokratien angenähert. Dementsprechend haben die Kabinette an Bedeu­tung verloren. Überraschenderweise erweisen sie sich jedoch auf europäischer Ebene, im System der europäischen „Mehrebenendemokratie“, als höchst funktional.

Il n’existe pas d’équivalent allemand aux cabinets ministériels français. Ceux-ci font l’objet de la présente contribution. L’auteur, qui suit leur constitution depuis la fin du 19ème siècle, voit dans ces équipes de conseillers et collaborateurs réunis autour des ministres une institution spécifique de la culture politique française à l’époque moderne, conséquence de la double opposition entre centralisme et notables locaux d’une part, entre administration et gouvernement de l’autre. Au cours des dernières années, le système gouvernemental français s’est rapproché du mode de fonctionnement des démocraties de négociation ouest-européennes caractérisées par le rôle central qu’y joue la communication. En conséquence, les cabinets ont perdu de leur importance. Il est néanmoins surprenant de constater qu’au niveau européen, dans le cadre de la démocratie à plusieurs échelons, ils s’avèrent, en revanche, extrêmement efficaces.

***

Es gibt Begriffe, die lassen sich nicht aus dem Französischen ins Deutsche über­setzen. Der Begriff cabinet ministériel gehört dazu. Cabinet ministériel in der Wortbedeutung von „Regierung“ bereitet kaum Schwierigkeiten, aber cabinet ministériel im Sinne von Stabsstelle, persönlichem Büro oder Gruppe der per­sönlichen Mitarbeiter eines Ministers bleibt im Deutschen ohne wirkliche Ent­sprechung. Mit dem Minister oder dem Staatssekretär kommen in Frankreich sein Kabinettsdirektor, sein Kabinettschef, seine conseillers techniques, sein atta­ché de presse, sein attaché parlementaire und einige andere an die Regierung. Sie besetzen die luxuriösen Räume in der Nähe des Ministerbüros und haben weit mehr Einfluss als Mitglieder gewöhnlicher Beratergremien. Als institution cou­tumière gelten die cabinets ministériels in der einschlägigen Literatur zur fran­zösischen Verwaltungslehre als Ausdruck der exceptionnalité française.[1] Von „nos curieux cabinets ministériels[2] ist die Rede, „si typique de l’administra­tion française“.[3] Dabei gibt es Kabinette durchaus auch in Italien oder Belgien, aber eben nicht in dieser Form wie wir sie in Frankreich finden. „Ils y exercent une prépondérance sans équivalent à l’étranger“, hat Jean Louis Quermonne den Sach­verhalt beschrieben.[4]

Sieht man einmal von einer maschinenschriftlichen Habilitationsschrift aus den sechziger Jahren ab[5], so sind die französischen Ministerialkabinette in Deutsch­land kaum thematisiert worden.[6] Im englischsprachigen Raum sieht es etwas besser aus[7], doch selbst für Frankreich hat jüngst Christian Bigaut[8] sein einschlägiges Handbuch mit der Beobachtung eingeleitet, dass die cabinets ministériels bislang selten systematisch untersucht worden seien. Dafür gibt es gute Gründe:

1. der geringe Grad formaler Reglementierung: kein Kabinett gleicht dem ande­ren;2. die Bedeutung mündlicher Verhandlungen: der wichtigste Teil der Arbeit be­steht aus Diskussionen, Sitzungen, Unterredungen, Telefonaten, die in der Regel unzulänglich dokumentiert sind;3. die bis in die siebziger Jahre hinein reichende Praxis, wonach Kabinettsunterla­gen dem Minister gehörten oder seinen Mitarbeitern und des­halb in den staatlichen Archiven nur selten zu finden waren.Dennoch wäre es falsch, von einer terra incognita zu sprechen. Es gibt eine durchaus ansehnliche Literatur aus soziologischer und verwaltungswissenschaftli­cher Sicht. Dabei stehen zwei Fragen im Mittelpunkt, zum einen die für Frank­reich so typische Form der Elitenrekrutierung, zum anderen die Funktion der Kabinette im politischen Entscheidungsprozess. Der formal auf Chancengleichheit abhebende concours für die grandes écoles und die faktische soziale Erblich­keit administrativer Führungspositionen, die Kooptation junger Führungskräfte in den ministeriellen Mitarbeiterstab, ihre politische Sozialisation in den Kabinetten, die Karrieresprünge, die sie erwarten können, all dies machen die Kabinette zu bevorzugten Untersuchungsfeldern für die Eliteforschung. Dabei interessiert vor allem, inwieweit Regimewechsel das Muster der Elitenrekrutierung änderten. Wie die Studien von René Rémond[9], Monique Dagnaud und Dominique Mehl[10] sowie von Pierre Mathiot und Frédéric Sawicki[11] gezeigt haben, blieben die Auswirkun­gen auf die Elitenzirkulation gering.

Aus verwaltungswissenschaftlicher Sicht steht die Funktion der Kabinette inner­halb des politischen Systems im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Positiv hervorgehoben werden die Abschottung der Verwaltung gegenüber politischen Einflüssen von außen, die Koordinierungsfunktion, die Kontrolle der Administra­tion durch das Kabinett und der Schutz des Ministers durch unabhängige Bewer­tung politischer Vorgänge seitens Vertrauter. Als negativ gelten der Vorrang kurzfristiger vor langfristigen Entscheidungsgesichtspunkten, die Demotivation der Verwaltung, weil ihr Verantwortung genommen wird und sie keinen direkten Zugang zum Minister hat, das Umgehen normaler Verwaltungswege, die man­gelnde Transparenz und die fehlende Legitimation des Handelns der Kabinetts­mitglieder.[12]

Die Kabinette stehen in der Kritik, sei es, weil sie die sozialen Verhärtungen der französischen Gesellschaft spiegeln und reproduzieren, sei es, weil sie als Zei­chen illegitimer Einflüsse auf den politischen Entscheidungsprozess gelten. Jacques Chirac, selbst ENA-Absolvente und 1962 chargé de mission im cabinet Pompidou (damals Premierminister), hat im Wahlkampf 1995 die Kritik an den Kabinetten scharf artikuliert: „Si les Français parlent avec dérision des hommes politiques, c’est parce qu’ils ont l’impression qu’ils n’exercent pas la réalité du pouvoir“. Die Macht befinde sich „dans un réseau de hauts fonctionnaires qui appartiennent généralement à des cabinets ministériels, qui prennent ensemble les décisions et sont allergiques à toutes réformes“.[13]

Die Entwicklung der französischen Ministerialkabinette aus bewusst deut­scher Sicht zu schildern, bietet die Chance, einfache Fragen zu stellen, schließt indes zugleich die Gefahr ein, kulturellen Missverständnissen zu unterliegen. Im Folgenden soll eine erste Bestandsaufnahme gewagt werden durch Blick in die einschlägige Literatur und Auswertung sozialwissenschaftlicher Forschungen der letzten Jahre. Es wird eher ein tastender Versuch, eine für deutsche Verhältnisse fremdartige Institution zu verstehen angestrebt, als eine handfeste Darstellung zu den französischen Ministerialkabinetten.[14] Zunächst werde ich den Strukturwandel der Kabinette seit der Restauration aufzeigen, dann die Aufgaben der Ministerial­kabinette in der V. Republik beleuchten. Es sollen Hypothesen formuliert werden, warum sich Kabinette in Frankreich herausgebildet haben, nicht aber in Deutsch­land oder England. Danach werde ich die Inszenierung der Macht durch die Kabi­nette betrachten, einen Aspekt, der in den bisherigen Studien vielleicht zu kurz kommt. Ein Blick auf die Kabinette in der Europäischen Kommission soll ergän­zend die Anpassungsfähigkeit des Kabinettssystems aufzeigen und die gegenwär­tige Krise der Kabinette herausarbeiten. Es wird zu zeigen sein, dass die cabinets ministériels in den letzten Jahren ihre spécificité française verloren haben. Sie sind eingebunden in ein mehrdimensionales politisches Verhandlungssystem, das ähnlich in Deutschland oder auf europäischer Ebene anzutreffen ist.

Kabinette im modernen Sinne bildeten sich in Frankreich in der Phase der Restauration aus, die nicht nur Rückschritt brachte, sondern auch Ansätze moder­ner parlamentarischer Staatlichkeit. Die Vielfalt der Verpflichtungen gegenüber Presse, Parlament und den lokalen Einflüssen zwang die Minister zu einem pro­fessionellen Management. Da die Administration weitgehend durch das napoleo­nische System geprägt war, indes nur eine partielle Säuberung erfolgen konnte, bedurfte es klarer Anleitung und Kontrolle von oben. Eine kleine Gruppe junger ambitionierter Vertrauter der Minister, zum Teil Funktionäre, zum Teil nicht, sollte politische Leitung, Beratung, Kontakte mit dem Parlament und Überwa­chung der Verwaltung sicherstellen.

Politische Ausdifferenzierung, die relative Distanz der Regierung zu den anderen politischen Institutionen und das Gegen­über von Administration und Politik standen also am Beginn der Ministerialkabi­nette, deren Mitglieder offiziell im Almanach royal genannt wurden.[15] Im Zweiten Kaiserreich wurden die Kabinette zu wirklichen Machtzentren. Wenige, aber aus­gewiesene Verwaltungsfachleute hielten die Administration in Trab, wirkten in geheimer Mission, überwachten die Personalpolitik und steuerten die Verbindun­gen zur Presse und zum Parlament.[16] Unter autoritären Vorzeichen schwand die Distanz zwischen Regierung und Administration und wurden die Kabinette zu Schaltzentralen politischen Handelns. In moderner Terminologie könnte man von der herausragenden Rolle der Kabinette für den Output des politischen Systems sprechen, während Inputfunktionen deutlich zu kurz kamen.

Das änderte sich unter der Dritten Republik, denn erneut standen sich Politik und Administration, politische Klasse (Advokaten, Professoren) und Verwal­tungsspitze (großbürgerliche Eliten) gegenüber. Die Ausweitung der Staatstätig­keit und die Ausdifferenzierung des politischen Systems verlangte nach Koordi­nation, welche die klassisch hierarchisch organisierte Administration nicht leisten konnte und sollte. Abermals kontrollierten die Kabinettsmitglieder die Verwal­tung, verfolgten das Parlamentsleben, kümmerten sich um die Wahlinteressen der Minister und wirkten hinter den Kulissen. Die Zahl der Kabinettsmitglieder nahm zu.[17] Ganz offen diente das Kabinett der politischen Sozialisation und der Rekrutie­rung verlässlichen Personals, wurde es zum Sprungbrett erfolgreicher Karrieren in Administration und Politik. Kein Wunder, dass um 1900 Kritik an dem Kabinettssystem laut wurde, an der großen Zahl der Mitarbeiter und an deren Privilegien.[18] Das Finanzgesetz vom 14. Juli 1911 sowie das Ausführungsdekret vom 13. Februar 1912 sollten den immer größeren Umfang der Kabinette und deren Macht brechen.[19] Letztlich blieben die Regelungen ohne Erfolg. Das System erhielt sich auch unter der IV. Republik, nur dass hier die Kabinette stärker denn zuvor als Clearingstellen zwischen Administration und Politik wirkten, weil fast nur noch hohe Funktionäre in die Kabinette berufen wurden. Häufige Regierungs­umbildungen, der Einfluss der Parteien auf die Rekrutierung der Mitglieder der Ministerialkabinette, das starke Parlament schmälerten die Machtstellung der Kabinette, die nur wenige, zentrale Themen bearbeiten konnten.2[20]

Erst die frühe V. Republik gestaltete das Kabinettssystem in einer Weise aus, wie wir es heute kennen. Die politische Klasse verlor ihren Einfluss auf die Exekutive und wurde auf das Parlament abgedrängt. Regierung und Administration lagen in den Hän­den einer hohen Funktionärsschicht, die Modernisierung durch Staatsintervention anstrebte. Die Kabinette wurden zu Schaltzentren der Macht.2[1] Ein Kabinettsmit­glied der V. Republik beschrieb deren gegenseitige Verzahnung und Bedeutung für die Entscheidungsfindung: „L’Elysée fait le travail de Matignon, Matignon fait le travail des ministres, les cabinets des ministres font celui des directeurs.“2[2]

Ein erstes Fazit führt zu der Beobachtung, dass das Kabinettssystem über zwei Jahrhunderte das politische System Frankreichs geprägt hat, weil es

1. sich flexibel den äußeren Rahmenbedingungen anpasste, 2. die Komplexität des politischen Prozesses abbildete wie kaum eine andere Institution, 3. die Position der Minister stärkte, deren Machtbasis nicht aus parteipolitischer Verankerung, sondern aus einem kompliziertem Netzwerk persönlicher Be­ziehungen resultierte,4. die Mitarbeit im Kabinett für die sozialen Eliten höchst attraktiv war.Damit ist die Frage aufgeworfen, warum sich in Frankreich das Kabinettssys­tem ausgebildet hat, nicht jedoch in England und Deutschland. Viele Gründe waren dafür verantwortlich:1.Der Zentralismus machte die Herausbildung gesonderter Instanzen zur politi­schen Bewertung notwendig, die in stärker gegliederten Systemen aus dem Gegen- und Miteinander konkurrierender Machtträger erfolgt.2.Die strukturelle Legitimationsschwäche der Pariser Zentrale konnte durch autorisierte und kompetente Stellvertretung jenseits bürokratischer Strukturen aufgefangen werden. Kabinettsmitglieder symbolisierten und symbolisieren bei ihren Reisen die Präsenz des Ministers vor Ort.3.Generell ist Politik in Frankreich vergleichsweise personenorientiert. So mochte die Herausbildung eines festen Mitarbeiterstabs vollkommen natürlich scheinen.

4.Louis Fougère hat darauf hingewiesen, dass die französische politische Kultur Partizipation, das fachübergreifende Arbeiten im Team und die freie Kommu­nikation vergleichsweise wenig honoriere. Das französische Verwaltungssys­tem ist tatsächlich stark hierarchisch strukturiert und zudem vielfach in sich gegliedert. Die Aufspaltung der höheren Beamtenschaft in mehr als hundert verschiedene, deutlich voneinander abgeschottete Funktionärs-Corps ver­deutlicht die Problematik.2[3] Das politische System bedarf so spezifischer organisatorischer Arrangements, welche fachübergreifende Zusammenarbeit sicherstellen. Die Kabinette sind aus dieser Sicht als notwendiger institutio­neller Ausgleich der spezifischen politischen Kultur Frankreichs zu deuten.

5.Zahlreiche Regimewechsel zwangen immer wieder zur Kooperation mit einer Administration, von der politische Loyalität nur bedingt eingefordert werden konnte und sollte. Es waren die Kabinette mit ihren Fachkenntnissen, die unter diesen Umständen den Vorrang der Politik sicherstellten.2[4]

Der Vergleich mit England verweist auf die dort viel ausgeprägtere Kontinu­ität des politischen Systems, die bewusste politische Neutralität des Beamtenappa­rats und den vergleichsweise starken Einfluss der Parteien. Für Deutschland stand die Loyalität der Beamtenschaft nie in Frage. Die Ernennung politischer Beamter sicherte unmittelbaren Zugriff auf den Verwaltungsapparat. Elitehochschulen wie in Frankreich blieben dem deutschen Bildungsideal fremd. Eine Mitarbeiter­gruppe junger, kaum vierzigjähriger Technokraten und Vertrauter hätte sich gegenüber dem Beamtenapparat schwerlich durchsetzen können. Die relativ starke Stellung des Kanzlers und die tragende Rolle der Volksparteien für den Entscheidungsprozess nach 1949 erschwerten zudem die Ausbildung von Institu­tionen, die in irgendeiner Weise den französischen Ministerialkabinetten ähnlich gewesen wären. Ella Ritchie hat ergänzend darauf verwiesen, dass die deutschen Minister in der Regel mehr technischen Sachverstand einbrächten als in Frank­reich, wo das Politische überwiege.2[5]

Statistiken ermöglichen Einblick in sonst verhüllte Zusammenhänge und ver­decken doch zugleich vielfach zentrale Sachverhalte. Monique Dagnaud und Dominique Mehl haben in ihrer Studie zu den Kabinetten der sozialistischen Regierungen nach 1981 zusammenfassendes Zahlenmaterial veröffentlicht. Dem­nach waren 60 Prozent der Kabinettsmitglieder jünger als 40 Jahre, rekrutierten sich 65 Prozent aus der Verwaltung, waren 48 Prozent Absolventen der ENA oder einer der anderen grandes écoles, stammten 50 Prozent aus Familien, die ein­deutig der sozialen Elite Frankreichs zuzurechnen sind.2[6] Tatsächlich ist das Rek­rutierungsmuster für die Kabinette komplizierter als die reinen Zahlenwerte aus­weisen. Familienbindungen spielen eine Rolle, Kabinettsmitglieder werden vom Staatspräsidenten oder dem Premierminister in die Kabinette der Minister dele­giert, Parteiaffinität wird erwartet, Kontakte zu Gewerkschaften oder anderen Interessenverbänden, aber natürlich auch technischer Sachverstand und Kompe­tenz. Loyalität gegenüber dem Minister ist erforderlich, doch auch eine gewisse Unabhängigkeit. Letztlich spiegeln Kabinette die Komplexität moderner Gesell­schaften durch Verzahnung persönlicher Beziehungen mit notwendiger politischer Abstimmung innerhalb der Regierung, Kontakt zum politischen Umfeld und er­forderlichem Sachverstand. Erst hierdurch können Kabinette ihre Aufgaben der Koordination2[7], Kontrolle der Verwaltung, politischen Bewertung, Innovation, vertraulichen Behandlung von Problemen und Darstellung der Politik gegenüber der Außenwelt erfüllen. Kabinette mit lediglich fünf Mitarbeitern gibt es seit Lan­gem nicht mehr. Unter Pierre Bérégovoy arbeiteten 1992 in den Ministerial­kabi­netten mehr als 700 Personen, 428 officiels, 272 von den jeweiligen Ministe­rien abgeordnete Mitarbeiter (officieux) und dazu noch die sogenannten „clan­destins“.2[8]

Richtig verstehen kann man die Struktur des französischen Kabinettsystems erst, wenn man die Inszenierung der Macht in die Analyse einbezieht. Dazu ge­hört das Privileg des direkten Zugangs zum Minister, der Zugriff auf geheime Konten, die Benutzung des Fuhrparks des Ministers und die Arbeit in einer luxu­riösen Umgebung. Manches davon gilt auch für den persönlichen Referenten, den Pressesprecher oder den Leiter des Grundsatzreferats eines deutschen Ministers, und doch entwickelt das französische Kabinettssystem eine Aura herausgehobener Bedeutung, für die es im Deutschen kein Äquivalent gibt. Die Ausstattung eines französischen Ministerbüros übertrifft das nüchterne Fluidum eines deutschen Ministeriums um Längen. Die tatsächliche Machtfülle wird durch konkurrierende Mittel- oder Kommunalinstanzen kaum gebrochen. Wichtiger freilich ist das Fluidum einer als positiv wahrgenommenen Staatsmacht von zivilreligiöser Aus­strahlung, der in Deutschland die nüchterne Symbolik rationaler Verwaltung und hemdsärmeliger Bürgernähe entspricht. Jene, die in der Nähe des Ministers arbei­ten, haben Anteil am Ritus der Machtausübung. Indem der Minister sich mit einer Schar von Eliteabsolventen umgibt, sichert er sich nicht allein Sachkompetenz, sondern zugleich symbolisches Kapital, das die Legitimität seines Handelns nach außen steigert. Die vermeintliche Chancengleichheit der concours, die effektive soziale Selektivität, der Anspruch auf eine umfassende Prägung der Schüler machen die grandes écoles zu Institutionen der Tradierung von Charisma, das sich in zweifelsfreier Kompetenz, Umgangsstil, Rhetorik sowie kultivierter, normgerechter Sprache äußert.2[9] Die Kabinette als Sprungbretter sicherer Karrie­remuster werden zu Orten der Faszination der Macht, indem sie nach innen den jungen Mitarbeitern Gestaltungsmöglichkeiten eröffnen und sie auf Führungs­positionen vorbereiten und indem sie nach außen den Einfluss persönlichen Han­delns bezeugen.

Wenn die Diagnose einer soziostrukturell aufgeladenen Elitekultur der Macht richtig ist, dann wird man nach den Folgen des Kabinettssystems für die deutsch-französischen Beziehungen fragen müssen. Insgesamt fehlt bislang eine Kulturge­schichte der politischen Unterredungen zwischen Paris und Bonn. Was indes der beschriebene Sachverhalt zu bedeuten vermag, wurde bei meinen Untersuchungen zur Saargeschichte nach 1945 deutlich. Die mangelnde Durchsetzungsfähigkeit saarländischer Politik gegenüber Paris hing auch mit der Inkompatibilität der Rekrutierungsmuster der verantwortlichen Regierungsvertreter zusammen: hier – also auf saarländischer Seite – der erfahrene preußische Offizier mit Juristenaus­bildung, dort – also auf französischer Seite – die jungen Schüler der grandes écoles. Darauf wird noch zurückzukommen sein.3[0]

Ein kurzer Blick auf die Geschichte der Kabinette bei der Hohen Behörde der EGKS und der Kommission der EWG und dann der EG und EU mag die Analyse vertiefen. Da das französische Verwaltungsmodell insgesamt als Vorbild für die europäischen Behörden diente, waren den Kommissaren auch Kabinette zugeord­net. Hallstein versuchte zwar nach deutschem Vorbild die Zahl der persönlichen Mitarbeiter auf zwei zu begrenzen. Durchsetzen konnte er sich mit seinem Anlie­gen letztlich nicht. Die Kabinette erfüllten die Funktion von Denkfabriken und Verbindungsstellen zur Verwaltung. Später, mit der vorrangigen Ernennung von Beratern derselben Nationalität wie die Kommissare, wurden die Kabinette zu Mittlern nationaler Interessen und standen im Gegensatz zu der sich ausdifferen­zierenden und zunehmend selbstbewussteren Administration.3[1] Es war bezeich­nenderweise Edith Cresson, die in Frankreich als Ministerpräsidentin bereits für eine bewusste Politisierung der Kabinette gesorgt hatte, die als Kommissarin die Krise des Brüsseler Kabinettssystems auslöste. Sie nutzte den ihr zur Verfügung stehenden persönlichen Apparat zu Gefälligkeiten gegenüber Bekannten. Der Vorwurf an die Kommission Santer lautete, dass die politische Spitze die Kon­trolle über ihre Beamten verloren habe und zum Teil in Vetternwirtschaft abge­glitten sei.3[2]

Unter Prodi sollten Reformen die Schlagkraft der Brüsseler Verwaltung stär­ken. Doch der Versuch, die Administration mit der Koordination der Politik zu betrauen, schlug fehl. Nach kurzer Zeit bereits mussten die sogenannten „Kungel­runden der Kabinettschefs“ wieder für die notwendige Abstimmung unter den Kommissaren und das Ausfiltern wichtiger und unwichtiger Fragen sorgen.3[3] Demgegenüber könnte sich jene Bestimmung als tragfähig erweisen, wonach mindesten drei Nationalitäten in den Kabinetten vertreten sein müssen. EU-Politik als Politik eines nicht-staatlichen, korporativen Akteurs erhält ihre Steuerungsfä­higkeit entscheidend durch die Einbindung in Netzwerke.3[4] Welche andere Institu­tion als die Kabinette wären auf Seiten der Kommission geeignet, Gesprächspart­ner aus unterschiedlichen sozialen Bereichen und verschiedenen nationalen Kon­texten zusammenzuführen und einen europäischen Dialog zu moderieren? Damit hätte sich erneut die spezifische Anpassungsfähigkeit des Systems der Ministeri­alkabinette an veränderte Umweltbedingungen erwiesen. Klare Laufbahnregelun­gen und scharfe Grenzen bei der Auswahl persönlicher Mitarbeiter sollen notwen­digen Sachverstand sicherstellen und nach außen Kompetenz vermitteln. Freilich wird auch dann noch den EU-Kabinetten der für Frankreich so typische Mythos der Macht fehlen.

Allerdings hat sich in Frankreich selbst seit 1981 die Stellung der Kabinette deutlich verändert. Der Machtantritt der Sozialisten beschleunigte den Prozess, kann allerdings nicht als alleinige Ursache gelten. Gewiss setzte eine Politisierung der Kabinette ein, ein Ausgreifen des Parteienstaates, das auch unter den gaullisti­schen Regierungen anhielt.3[5] Die Hochzeit der ENA-Mitarbeiter in den Kabinetten unter der Präsidentschaft Giscard d’Estaings ist lange vorbei. Doch die gesell­schaftlichen Veränderungsprozesse bewirkten einen ebenso raschen Wandel. Die Krise des Staates seit 1973/74, die offensichtlichen Grenzen der Macht, die Dominanz des Marktes raubten den Kabinetten ihre Faszination. Berufliche An­stellung außerhalb der Administration und Politik wurden für die Elitekader zu­nehmend attraktiv. Das symbolische Kapital der Kabinettsmitarbeit war aufge­zehrt und die Politisierung der Kabinette erleichterte eine Kritik, die den meri­tokratischen Anspruch in Frage stellte. Die Emanzipation der Bürger gegenüber dem Staat erzeugte Distanz gegenüber der Republik der Funktionäre und gegen­über der Herrschaft der Parteieliten. Insofern galt die kritische Aufmerksamkeit den Kabinetten als Hort der Selbstrekrutierung sozialer Eliten und gleichzeitig dem Spielfeld persönlicher Begünstigung durch Politiker. Wenn 1981 als Ein­schnitt in der Entwicklung des Systems der Ministerialkabinette gelten kann, dann lässt sich dies auch als Abschluss des spezifischen Weges Frankreichs in die Moderne deuten, in der sich entweder der Staat gegenüber der Gesellschaft ver­selbständigte oder Politik und Administration einander gegenüber standen. Die Kabinette haben an Faszination eingebüßt. Sie sind Elemente einer Verhand­lungsdemokratie geworden, die sich kaum von den Verhältnissen auf europäischer Ebene oder in Deutschland unterscheidet. Machtstrukturen, Elitenrekrutierung und die Inszenierung der Macht haben sich einander angenähert. Freilich folgt daraus noch nicht, dass der deutsch-französische Dialog auf politischer Ebene leichter geworden wäre. Kulturelle Differenzen erfordern immer noch besondere Ver­ständigungsanstrengungen.



[1] Quermonne, Jean-Louis, La ‚mise en examen‘ des cabinets ministériels, in: Pouvoirs 68 (1994), S. 62.

[2] Fougère, Louis, Introduction, in: Antoine, Michael (Hg.), Origines et histoire des cabinets des ministres en France, Genf 1975, S. 2.

[3] Burdeau, François, Histoire de l’administration française. Du 18ème au 20ème siècle, 2. Aufl., Paris 1994, S. 258.

[4] Quermonne (Anm. 1), S. 258; vgl. auch Siedentopf, Heinrich, Regierungsführung und Ressort­führung in Frankreich. Zur Organisation und Funktion der Cabinets ministériels, Habi­litationsschrift masch., Speyer 1970, S. 20ff.

[5] Siedentopf (Anm. 4).

[6] Frisch, Alfred, Techniker der Macht. Ministerkabinette – Instrumente der Cohabitation, in: Dokumente 42 (1986), S. 305–308.

[7] Searls, Ella, The fragmented French executive. Ministerial cabinets in the Fifth Republic, in: West European Politics 1 (1978), S. 161ff.; Dies., Ministerial ‚cabinets‘ and elite theory, in: Jahr, Jolyon (Hg.), Elites in France. Origins, reproduction and power, London 1981, S. 162ff.; Mény, Yves; Knapp, Andrew, Government and politics in Western Europe. Britain, France, Italy, Germany, Oxford 1990.

[8] Bigaut, Christian, Les cabinets ministériels, Paris 1997, S. 11; vgl. Schrameck, Olivier, Les cabinets ministériels, Paris 1995, S. 2.

[9] Rémond, René u.a., Quarante ans de cabinets ministériels. De Léon Blum à Georges Pompi­dou, Paris 1982, S. 234.

[10] Dagnaud, Monique; Mehl, Dominique, L’élite rose, 2. Aufl., Paris 1988, S. 10ff.

[11] Mathiot, Pierre; Sawicki, Frédéric, Les membres des cabinets ministériels socialistes en France, 1981–1993. Recrutement et reconversion, in: Revue française de science politique 49 (1999), S. 3–29, 231–264.

[12] Quermonne (Anm. 1); Bigaut (Anm. 8); Thuillier, Guy, Les cabinet ministériels, Paris 1982.

[13] Jacques Chirac in einer Rede am 9. Januar 1995, zit. in Bigaut (Anm. 8), S. 18.

[14] Stefan Fisch sieht im Begriff der „Verwaltungskultur“ die Chance, differierende Traditionen in Analogie zur politischen Kultur angemessen zu erfassen. Fisch, Stefan, Verwaltungskultu­ren – geronnene Geschichte?, in: Die Verwaltung 33 (2000), S. 303–323.

[15] Thuillier, Guy; Tulard, Jean, Histoire de l’administration française, Paris 1984, S. 31; Burdeau (Anm. 3), S. 258f.; Bigaut (Anm. 8), S. 44; Vidalence, Jean, Les cabinets et entourages minis­tériels sous la Restauration, in: Antoine (Anm. 2), S. 35; Tudesq, André-Jean, Les chefs de cabinet sous la Monarchie de Juillet. L’exemple d’Alphonse Génie, ebd. S. 49.

[16] Burdeau (Anm. 3), S. 258f., Bigaut (Anm. 8), S. 46f.; Guiral, Pierre, Les cabinets ministériels sous le second empire, in: Antoine (Anm. 2), S. 55ff.

[17] Birnbaum, Pierre, Les sommets de l’État. Essai sur l’élite du pouvoir en France, Paris 1994, S. 45ff.; Burdeau (Anm. 3), S. 259; Thuillier; Tulard (Anm. 15), S. 64; Bigaut (Anm. 8), S. 48–50.

[18] Bigaut (Anm. 8), S. 15. Zur Geschichte der Ministerialkabinette s.a. Siedentopf (Anm. 4), S. 389ff.

[19] Bigaut (Anm. 8), S. 198ff., Siedentopf (Anm. 4), S. 400ff.

[20] 20 Birnbaum (Anm. 17), S. 48ff.; Thuillier (Anm. 12), S. 13; Frichement, Marie-José, Le fonction­nement, in: Rémond (Anm. 9), S. 161.

[1] 21 Thuillier (Anm. 12), S. 13ff.; Birnbaum (Anm. 17), S. 77, 94ff.; Bigaut (Anm. 8), S. 13, 31; Berstein, Serge, La France de l’expansion, Bd. 1: La République gaullienne, 1958–1969, Paris 1989, S. 14, 88f.

[2] 2 Azéma, Jean-Pierre, Le poids du politique, in: Rémond (Anm. 9), S. 232.

[3] 23 Fougère (Anm. 2), S. 2f.; Schröter, Eckhart; Wollmann, Hellmut, Verwaltung – Öffentlicher Dienst, in: Picht, Robert (Hg.), Fremde – Freunde. Deutsche und Franzosen vor dem 21. Jahrhundert, München 1997, S. 183.

[4] 24 Mény; Knapp (Anm. 7), S. 244; Thuillier (Anm. 12), S. 17.

[5] 25 Ritchie, Ella, The model of French ministerial cabinets in the early European Commission, in: Jahrbuch für europäische Verwaltungsgeschichte 4 (1992) S. 97.

[6] 26 Dagnaud; Mehl (Anm. 10), S. 356.

[7] 27 Allein Kabinettsmitglieder dürfen bei interministeriellen Sitzungen im Hôtel Matignon ihre Minister vertreten und sie tragen so die Hauptverantwortung für den Ausgleich unterschiedli­cher politischer Zielsetzungen. Bigaut (Anm. 8), S. 58.

[8] 28 Bigaut (Anm. 8), S. 113ff. Die wirkliche Zahl der Kabinettsmitglieder eines Ministers lässt sich kaum exakt bestimmen. Siedentopf nennt das Beispiel eines Kabinetts im Finanzministe­rium, für das im Journal Officiel 19 Personen genannt waren, im Bulletin des Ministeriums indes 31. Der Deputierte Archidice behauptete 1946 über das Kabinett des Industrieministers Marcel Paul, dass dort heimlich 200 Personen beschäftigt seien. Siedentopf (Anm. 4), S. 447, 453. Olivier Schrameck vermutet Durchschnittszahlen von zwanzig bis dreißig Personen für einen Minister und von zehn bis zwanzig für einen Staatssekretär. Schrameck (Anm. 8), S. 27.

[9] 29 Vgl. hierzu Bourdieu, Pierre, La noblesse d’État. Grandes écoles et esprit de corps, Paris 1989.

[0] 30 Heinen, Armin, Saarjahre. Politik und Wirtschaft im Saarland 1945–1955, Stuttgart 1996, S. 521f.

[1] 31 Ritchie (Anm. 25); Cassese, Sabino; Cananea, Giacinto della, The Commission of the Euro­pean Economic Community. The administrative ramifications of its political development, 1957–1967, in: Jahrbuch für europäische Verwaltungsgeschichte 4 (1992), S. 75ff.; Dietz, Wolfgang A.; Fabian, Barbara, Das Räderwerk der Europäischen Kommission, 3. Aufl., Bonn 1999, S. 53ff.

[2] 32 Handelsblatt, 26.01.2000.

[3] 3 Ebd., 27.01.2000.

[4] 34 Jachtenfuchs, Markus; Kohler-Koch, Beate, Regieren im dynamischen Mehrebenensystem, in: Dies. (Hg.), Europäische Integration, Opladen 1996, S. 23f.

[5] 35 Dagnaud; Mehl (Anm. 10), S. 12, 419; Birnbaum (Anm. 17), S. 201ff.; Mathiot; Sawicki (Anm. 11), S. 261; Rouban, Luc, Les cabinets ministériels, 1984–1996, in: Revue administra­tive 50 (1997), S. 253–266, 373–387, 499–508.

Für das Themenportal verfasst von

Armin Heinen

( 2007 )
Zitation
Armin Heinen, Les Cabinets Formen der Politik im interkulturellen deutsch-französischen Vergleich, in: Themenportal Europäische Geschichte, 2007, <www.europa.clio-online.de/essay/id/fdae-1421>.
Navigation