E_Worschech_Conclusio
Conclusio: Der Mehrwert der Ambivalenz[1]
Von Susanne Worschech
Als im Jahr 1679 die Pest in Wien wütete und innerhalb weniger Monate tausende Opfer forderte, schwor der habsburgische Monarch Kaiser Leopold I. während seiner Flucht aus der Stadt, eine Gnadensäule in Wien zu errichten, sobald die Epidemie beendet sein würde. Unmittelbar nach dem Abklingen der Epidemie wurde zunächst eine hölzerne, später eine marmorne Pest- bzw. Dreifaltigkeitssäule errichtet. Bis heute symbolisiert die Wiener Pestsäule – und viele weitere, die in den Folgejahren in zahlreichen Städten des österreich-ungarischen Großreiches entstanden – nicht nur die öffentliche Bezeugung von Dankbarkeit für das Überstehen der Epidemie, sondern auch die strategische und offensichtlich widerspruchsfreie Verschränkung zweier Weltordnungen: Die Säule zeigt einträchtig die christliche Dreipersönlichkeit Gottes sowie die Struktur Menschheit – Engel – Gott und zugleich die drei Teilreiche der Habsburgermonarchie. Sie steht aber auch für die unmittelbare Wiedererrichtung der politischen, gesellschaftlichen und religiös-sozialen Ordnung nach einer großen Krise und damit für ein zyklisches Zeit- und Weltverständnis, das Krisen als Störungen in einem sonst immerwährenden Kreislauf wahrnimmt.
Als diese Zeilen geschrieben werden, sind die Analogien der Covid-19-Pandemie des Jahres 2020 zu den zahlreichen Wellen der Pestepidemien, vor allem zu jenen der frühen Neuzeit, ein allgegenwärtiges Diskussionsthema. Die Pandemie gilt als eine der größten Krisen des 21. Jahrhunderts, die nicht nur global stattfindet, sondern weltweit auch alle gesellschaftlichen Teilbereiche – Wirtschaft, Politik, soziale Strukturen – betrifft. Sie erschüttert Gesellschaften, die aufgrund der umfassenden funktionalen Ausdifferenzierung ihrer Institutionen und Prozesse als robust und widerstandsfähig galten, und verdeutlicht zugleich, dass nicht nur das zyklische Verständnis der Rückkehr zur alten Ordnung nach einer Krise, sondern auch das modern-lineare Verständnis des Fortschritts problematisch ist. Krisen sind mehr als Disruptionen in sonst störungsarmen Prozessen. Die Pandemie gilt bereits vor ihrem Ende als Wendepunkt, nicht nur als zu überwindende Episode. Zudem kann diese Krise als ein Brennglas betrachtet werden, das die Ambivalenzen moderner Gesellschaften in Europa und darüber hinaus verdichtet und offenbart. Ivan Krastev beschreibt in seinem im Juni 2020 erschienenen Essay „Ist heute schon morgen? Wie die Pandemie Europa verändert“[2] sieben Paradoxien, welche die Corona-Krise kennzeichnen. Jedes Paradoxon hänge unmittelbar mit der „Synchronisation der Welt“ zusammen und verdeutliche, wie durch Corona die Spannungsfelder in der globalisierten Welt und in modernen bzw. postmodernen Gesellschaften sichtbar werden. So würden beispielsweise die Gefahren der Pandemie durch die globale Verkettung von Akteuren, ihre Mobilität und Interaktionen stärker, zugleich wirke „Corona“ als „Globalisierung des Geistes“, da weltweit ein Thema die Diskussionen dominiert und die Menschen in ihren Lebenswelten verbinde. Und während der Trend zur Deglobalisierung und zu nationaler Abschottung nicht nur gedacht, sondern in den europäischen Grenzschließungen auch radikaler als je zuvor umgesetzt wurde, zeigten sich mit der Einsicht in globale Verflechtung und Interdependenz auch die Grenzen der Re-Nationalisierung. Auf europäisch-institutioneller Ebene wurde gerade in der anfänglichen Sprachlosigkeit der Europäischen Union (EU) die Notwendigkeit gemeinsamer europäischer Strategien ebenso offensichtlich wie die falsche Annahme der jahrelang gepredigten Alternativlosigkeit mancher Politiken. So beschloss der Europäische Rat im Juli 2020, dass die EU aufgrund der Pandemie erstmals in ihrer Geschichte eigene Schulden aufnehmen würde – ein bis dahin undenkbarer Schritt.[3] Die Pandemie unterstreicht damit eine Wahrnehmung von Krisen, die keine Störungen ansonsten linearer Prozesse sind, sondern Punkte, an denen bisherige Entwicklungen kulminieren, Widersprüche und Vielfalt offenlegen und sich Möglichkeitsfenster für Transformationsprozesse eröffnen. Nicht die Rückkehr zur bisherigen Ordnung oder das Überwinden einer Störung, sondern der neue Blick auf Komplexität und Verflechtung kennzeichnen diese Krise.
Die von Krastev festgestellten Paradoxien der Pandemie fügen sich damit in jenen Befund ein, der als Ausgangsthese dieses Bandes von Clara Frysztacka formuliert wurde: Europäisierungsprozesse können sowohl als Produkte wie auch als Produzenten von Krisen, Konflikten, Kontingenz und multiplen Entwicklungsrichtungen gelten. Und auch die zweite These, der zufolge Vielfalt und Komplexität der Europäisierung gerade im Imperativ der Eindeutigkeit – wie wir ihn von der linear gedachten Moderne kennen – zu Ambivalenz werden, spiegelt sich in Krastevs Einschätzung: Die Art und Weise, wie sich nationale Regierungen auf ihre je eigenen Gesundheitssysteme und den restriktiven Schutz der eigenen BürgerInnen fokussierten, machten die Abwesenheit oder mindestens das Verschwinden der Idee eines gemeinsam handelnden Europa geradezu schmerzlich bewusst. Wodurch aber wird der Befund der Ambivalenz, die sich aus dem Spannungsfeld zwischen dem „Imperativ der Eindeutigkeit“ und der empirischen Vielfalt und Komplexität von Europäisierungsprozessen ergibt, zu einer analytischen Perspektive der kritischen Europaforschung?
Nach Zygmunt Bauman, der den Begriff der Ambivalenz für die Sozialwissenschaften ausgearbeitet und anschlussfähig gemacht hat, ist Ambivalenz die Möglichkeit, „einen Gegenstand oder ein Ereignis mehr als nur einer Kategorie zuzuordnen“.[4] Ambivalenz ist ein „Nebenprodukt der Arbeit der Klassifikation, und sie verlangt nach immer mehr Bemühung um Klassifikation“.[5] Als permanenter Begleiter einer jeden Suche nach Ordnung ist Ambivalenz auch eine Negation von Ordnung wie Unordnung. Die Unbestimmbarkeit wird in der Bauman’schen Perspektive zum zentralen Merkmal, aber auch zur zentralen Bedrohung moderner und postmoderner Gesellschaften.
In Europa ist die Suche nach Ordnung, Kategorisierung und Eindeutigkeit seit jeher ein zentrales Thema: Hinter der viel beschworenen Idee des gemeinsamen Europa, gar des von Gorbatschow beschriebenen gemeinsamen Hauses Europa steht implizit die Suche nach Ordnung und der Versuch der Herstellung von Eindeutigkeit. Ambivalenz und Uneindeutigkeit im politischen und gesellschaftlichen Europa, in der europäischen Idee und den Raumkonstruktionen Europas stehen konträr zu jedem Ordnungsversuch und können somit auf einer ersten Ebene nur als destruktiv, problematisch und potenziell bedrohlich wahrgenommen werden. Die in dem vorliegenden Band diskutierten Fälle zeigen aber gerade die empirische Vielfalt, die sich einer Kategorisierung und damit dichotomisierenden Ordnung systematisch entzieht. Der von Paweł Lewicki in diesem Band vorgeschlagene Begriff der Polyvalenz unterstreicht diese Vielfalt, die sich erst im Spiegel der angestrebten Eindeutigkeit zeigt. In dieser Offenlegung, so eine der zentralen Thesen der HerausgeberInnen dieses Bandes, besteht die wichtigste analytische Qualität des Ambivalenz-Konzepts. Unordnung ist damit nicht mehr, wie Bauman argumentierte, eine Bedrohung der Moderne, sondern die Grundlage der Anerkennung von Komplexität. Das Konzept der Ambivalenzen ermöglicht ein Verständnis der Europäisierung als eine parallele Struktur von divergierenden Ideen, Räumen und Praktiken. In den folgenden Abschnitten werden daher einige weiterführende Konzepte vorgeschlagen, mittels derer die Ambivalenz-Perspektive operationalisierbar und damit analytisch anwendbar gemacht werden kann.
Ambivalenzen der Idee Europa
In den Beiträgen, welche die Ambivalenz Europas als Idee und Europäisierung zum Teil als normatives Konstrukt betrachten, zeigen sich vor allem jene Widersprüche, die sich aus der transnationalen Zusammenführung national konnotierter politischer Konzepte ergeben können. Insbesondere das von Schlimm, Becker und Wyrwa beschriebene Scheitern der Herstellung paneuropäischer Organisationen, deren verbindendes Element konservativ-nationale oder exkludierende Vorstellungen waren, verdeutlicht das Spannungsfeld, das sich in der transnationalen Kooperation nationaler Akteure öffnet. Um deren im nationalen Diskurs entstandene Ideen im transnationalen europäischen Kontext anschlussfähig und mobilisierbar zu machen, bedarf es einer aktiven Rahmung durch diese Akteure. Ein solches Framing – wie es unter anderem aus der Analyse von sozialen Bewegungen und Protesten bekannt ist – gilt als Schlüssel zur Herstellung von Deutungsmustern, die über ihren Entstehungskontext hinaus akzeptiert werden.[6] Für die gezielte Ausweitung von Frames oder auch die Verbindung unterschiedlicher Deutungsmuster sind Akteure notwendig, die in der Lage sind, die Analogien ähnlicher Deutungsmuster für andere Akteure hervorzuheben und Differenzen zugleich in den Hintergrund zu stellen. In den beschriebenen Fällen besteht die Ambivalenz gerade in der letztendlichen Dominanz des Partikularen gegenüber den eigentlich verbindenden Elementen.
Die Texte von Gosewinkel und Gardner-Gill hingegen verdeutlichen das Spannungsfeld, das sich aus der Projektion politischer Zielsetzungen der nationalen Ebene auf den europäischen Kontext ergibt: Europa wird in beiden Fällen als ein Idealbild einer entweder imperialistischen oder demokratischen Herrschaftsform betrachtet, aber letztlich nur als transnationale Rahmung bzw. Absicherung dieser Ideen auf nationaler Ebene genutzt. Die jeweiligen Ideen zur Gestaltung Europas ziehen hier keine entsprechende politische Praktik nach sich, sondern finden Resonanz im nationalen politischen Kontext der jeweiligen Akteure.
Damit wird deutlich, dass das europäische Moment in diesen Beispielen gerade nicht die Vereinheitlichung ist, sondern lediglich der verbindende Rahmen, der es ermöglicht, Konzepte und Ideen zueinander in Bezug zu setzen. Die Herstellung eines solchen Rahmens, der divergierende Interessen und Interpretationen zumindest zu kategorisieren vermag, ohne nach Zusammenführung zu streben, ist aus der Konfliktsoziologie als rationaler Dissens bekannt.[7] Die Herstellung eines rationalen Dissenses ermöglicht es Akteuren, unterschiedliche und strittige Positionen gemeinsam zu identifizieren. Es ist eine diskursive Logik, soziale Konflikte und Differenz kategorial und prozessual, aber nicht zwingend inhaltlich ‚auf einen Nenner zu bringen‘. Mehrdeutigkeit und Ambivalenz bleiben somit bestehen, werden aber verhandelbar. Europäisierung besteht in diesem Verständnis also gerade darin, die empirische Ambivalenz bestehender Europa-Ideen anzuerkennen, und zugleich einen diskursiven Rahmen für deren Verhandlung zu etablieren.
Aktuell zeigt sich das Spannungsfeld zwischen der Projektion transnationalisierter politischer Ideen auf die europäische Ebene und dem Festhalten an nationalen oder regionalen Deutungsmustern nicht zuletzt in den institutionellen Arrangements europäischer Politik. In Politikfeldern, welche die transnationale Ebene ebenso stark betreffen wie die nationale und teils auch die lokale, herrscht trotz divergierender Präferenzen und oft auch regional unterschiedlicher Erfahrungen ein Einstimmigkeitsprinzip im Europäischen Rat. Dadurch sollen als sensibel wahrgenommene Politikbereiche – allen voran die Außen- und Sicherheitspolitik, aber auch Finanzpolitik und Harmonisierung der Sozialpolitik – gesondert und geschützt behandelt werden. Durch das Einstimmigkeitsprinzip in diesen Politikfeldern reproduziert die Institutionalisierung europäischer Politik eine Linearität und Vereinheitlichung des Politischen in Europa, die es real kaum gibt – der Heterogenität und Komplexität europäischer Positionen und Politiken wird so nicht Rechnung getragen. Dieses Spannungsfeld zwischen komplexen Politikfeldern und der Vorstellung einheitlicher Abstimmungen produziert Krisen, indem beispielsweise eine gemeinsame Währung nicht durch eine gemeinsame Finanzpolitik getragen wird. Insofern wird auch an aktuellen Europäisierungsprozessen und
-politiken – wie in den jüngsten Sitzungen des Europäischen Rates zu beobachten war – die erste der beiden Grundthesen des Bandes deutlich, nach der Europäisierung und Krisen, Konflikte bzw. Kontingenz sich wechselseitig bedingen. Die oftmals beklagte Handlungsunfähigkeit oder -verminderung der EU hingegen kann als Beispiel für die zweite These dienen, denn erst im Imperativ der Eindeutigkeit, den die Praxis der Einstimmigkeit im Rat versinnbildlicht, werden Dissonanz, Vielfalt und Komplexität als Kern des Europäischen und der Europäisierung deutlich.
Ambivalenzen des Raumes
In der Reflexion der Ambivalenzen, die sich in der räumlichen Konzeption Europas manifestieren, wird vor allem der sozial konstruierte Charakter von Räumen deutlich.[8] Der Prozess der Europäisierung ist ein Aushandlungsprozess über Raumvorstellungen des Europäischen, der die Idee staatlicher Souveränität mehrfach transformiert und letztlich von der territorialen Ordnung entkoppelt. War die Moderne gerade von der Vereinheitlichung von staatlicher Souveränität und Territorium geprägt, so löst sich diese Zuordnung im Prozess der Europäisierung auf und erzeugt Mehrdeutigkeit und multiple Zugehörigkeiten. Während Nationalstaaten einerseits Souveränität an die supranationale Ebene abgeben und Grenzregime sich ändern, bleibt ihre territoriale Verfasstheit unter veränderten Bedingungen bestehen. Damit einhergehend ändern sich sowohl die Wahrnehmung von Räumen als auch die sie konstituierenden Interaktionen grundlegend. Raum ist deshalb in dieser Perspektive zugleich das Produkt von Interpretation und Interaktion in Netzwerken und beeinflussender Faktor für soziale oder politische Prozesse. Der europäische Raum ist kein festgelegter Container, sondern unterliegt beständigen Aushandlungsprozessen, die seine Eigenschaften und die Möglichkeitsfenster, die er bietet, verändern.
Die Ambivalenz des europäischen Raumes besteht in seiner diskursiven und handlungsbasierten Herstellung sowie den realen Auswirkungen der räumlichen Konstitution auf Politik und Gesellschaft. Wie Kaya und Grandits in ihren Analysen verdeutlichen, werden die Eigenschaften eines spezifischen europäischen Raums durch Anpassung, Übernahme oder auch Neukonstituierung sozialer Praktiken und Zugehörigkeiten hergestellt. Zugleich ist der europäische Raum geprägt durch spezifische Interpretationen jenes sozialen Handelns, das ihn konstituiert: Spezifische Erinnerungsräume entstehen gerade durch die Verflechtung von Handlung, Netzwerken und Interpretation, wie Weber und Radonić zeigen: Ein so entstandener Raum ist schließlich seinerseits prägend für soziales Handeln und kontextualisiert dieses nachhaltig. Wie auch die rechtliche Konstitution von Räumen Lebensbedingungen beeinflusst und damit der konstruierte Raum selbst zum sozialen Faktor wird, zeigen Oltmer und Berlinghoff in ihren Beiträgen. Räume ermöglichen Schutz oder Zugehörigkeit entsprechend der Interpretation und Funktionalität der sie umgebenden Grenzen. Neben den steten Veränderungsprozessen der Grenzen selbst ist der Funktionswandel von Grenzen und der damit einhergehende veränderte sozial-räumliche Kontext eine Besonderheit des europäischen Raums. Die zentrale Ambivalenz räumlicher Europäisierung ist die gleichzeitige Be- und Entgrenzung Europas und damit der umfassende Funktionswandel von Grenzen: Während die nationalen Grenzen mancher EU-Mitgliedstaaten zugleich als EU-Außengrenzen supercodiert werden, entstehen durch die Entgrenzung im Inneren der EU transnationale regionale Räume, deren Fragilität allerdings in Krisenzeiten – wie zuletzt in der Covid-19-Pandemie – deutlich wird. Die Ambivalenz des (europäischen) Raumes bezieht sich auf dessen interpretativ-interaktiven Konstruktionscharakter und damit zusammenhängend auf die Dualismen der sich wandelnden Grenzen.
Wie die räumliche Verfasstheit Europas Verhandlungsprozessen unterliegt und damit selbst Ambivalenz erzeugt, lässt sich aktuell insbesondere in der europäischen Peripherie beobachten. Während die Auswärtige Politik der EU regionale Zugehörigkeit in der Europäischen Nachbarschaftspolitik klar kategorisiert, bildet sich beispielsweise mit dem Lubliner Dreieck eine polnisch-litauisch-ukrainische regionale Allianz heraus, die eine neue Raumkonzeption und damit einen Handlungsraum entwirft.[9] Der fortschreitende Demokratisierungsprozess in der Ukraine, aber auch die heftigen prodemokratischen Proteste nach der Präsidentschaftswahl 2020 in Belarus stellen Zugehörigkeiten und Abgrenzungen der EU-europäischen Raumverfasstheit infrage. Zugleich entwickeln sich ebenfalls in Mittel- und Osteuropa regionale Bündnisse nationalistischer und rechtsextremer Akteure und Gruppen, die beispielsweise mit dem politischen Konzept des Intermarium einen expliziten Gegenentwurf zum liberal konnotierten europäischen Raum entwerfen.[10] Im Imperativ vor allem der EU-europäischen Einheitlichkeit und ihrer räumlichen Einfassung spiegeln sich die Ambivalenz und Vielfalt europäischer Raumkonzepte und Raum konstituierender Praktiken in Europa.
Ambivalenzen der Praxis
Die letzten sechs Beiträge des Buches thematisieren jene ambivalenten Prozesse, die in der jüngeren sozialwissenschaftlichen Literatur als horizontale Europäisierung beschrieben werden. Nicht Ideen oder Institutionen stehen hier im Vordergrund, sondern die Verflechtung von Akteuren, Narrativen und Praktiken. Im Anschluss an die Konstituierung des europäischen Raums geht es hierbei um die Bildung der Netzwerke, die Akteure auf unterschiedlichen Ebenen durch interaktives oder kommunikatives Handeln miteinander verbinden. Diese relationale Europäisierung ist nie nur strukturell begründet, sondern bezieht stories[11] und interpretative Kontexte mit ein. Horizontale Europäisierung findet in sozialen Feldern statt, die durch die Akteure, ihre Interaktionen sowie eine feldspezifische illusio im Sinne eines gemeinsamen, im Feld gültigen Deutungsmusters gekennzeichnet sind.[12] Soziale Felder sind zudem hoch dynamische Strukturen, da die Akteure nach Positionsgewinnen im Feld streben und um Deutungshoheit konkurrieren. Dabei gelten Homogenisierung und Differenzierung als zentrale Mechanismen zur Positionierung: So können Akteure etwa als erfolgreich betrachtete Handlungsmuster anderer Akteure imitieren, um ihre eigene Position in einem sozialen Feld zu verändern, oder sie können durch Innovation oder das Besetzen strategischer Nischen im Feld selbst zu einem role model werden.[13] Die spezifische Ambivalenz der Europäisierung wird auch hier durch die Ausdifferenzierung und Vielfalt sozialer Felder als paralleler horizontaler gesellschaftlicher Struktur erzeugt.
Die ersten vier Beiträge dieser Sektion von Bernhard, Ackermann, Schindel und Kolářstehen vor allem für transnationale Homogenisierungsprozesse der (staatlichen) Transformation von Gewalt. Die Ambivalenz dieser Prozesse ergibt sich allerdings weniger aus der Homogenisierung selbst, sondern vielmehr vor dem normativen Hintergrund einer europäischen Gewalteinhegung, die als Ideal der beschriebenen Angleichung staatlicher Gewaltpraktiken gegenübersteht. Der Aspekt der Differenzierung als Mechanismus ambivalenter Europäisierung in der sozialen Interaktion beschreiben Lewicki und Karge anhand sehr unterschiedlicher Beispiele; in beiden wird jedoch der normative Bezug zu einer positiv konnotierten „Moderne“ deutlich. Die Frage „Was ist europäisch/wer ist europäisch?“ wird somit in Interaktionen und mit Referenz zu Modernität verhandelt – wobei die stattfindende Differenzierung bzw. Distinktion gerade die Interpretation von modern und in diesem Kontext auch europäisch zur Disposition stellt. Die Ambivalenz der Europäisierung in sozialen Praktiken liegt damit gerade in der angestrebten, aber trotzdem mangelnden Kongruenz von Interpretation und unmittelbarer sozialer Interaktion.
Prozesse der Homogenisierung und Differenzierung eignen sich vor allem dort als Indikatoren für ambivalente Europäisierung, wo – im Gegensatz zum bisher vertretenen Konzept der Ambivalenz – Vielfalt und Komplexität als Kennzeichen des Europäischen normativ erwünscht sind, ihre Herstellung aber zu Einheitlichkeit und Uniformität führen kann. So, wie der angestrebte Habitus des Pluralismus in Lewickis Betrag letztlich einen Dualismus zweier einheitlicher Konzepte (europäisch-nicht europäisch bzw. modern-nicht modern) fördert, können auch in anderen Bereichen unerwünschte oder zumindest fragwürdige Angleichungen stattfinden. Ein Beispiel dafür wäre die Angleichung von Handlungsrepertoires zivilgesellschaftlicher Akteure in Europa, um Fördermittel zu erhalten, die eigentlich Diversität ermöglichen sollen.[14] Auch die transnationale Angleichung von Biografien bestimmter hoher Berufsgruppen – sogenannter EU-Professionals – stellt ein Problem angesichts der normativ erwünschten Vielfalt in europäischen Institutionen und damit ein ambivalentes Phänomen dar.[15] Insofern ist der zweiten Grundthese dieses Bandes – dass sich Ambivalenz dort manifestiert, wo vor dem Imperativ der Einheitlichkeit Komplexität sichtbar wird – hinzuzufügen, dass die Ambivalenz der Europäisierung auch gerade im Imperativ der Vielfalt bestehen kann, der empirisch zu Konformität und Angleichung beitragen kann.
Fazit
Der Ursprung des vorliegenden Bandes war die Feststellung einer dem Prozess der Europäisierung inhärenten Idee von Linearität und Teleologie, die sowohl in den Geschichts- als auch den Sozialwissenschaften vielfach kritisiert wurde, aber dennoch nicht ganz überwunden scheint. „Europa“ wird noch immer als ein Konstrukt der Verflechtung wahrgenommen, die durch Krisen, die in immer schnellerer Abfolge auftreten und jeweils dramatischer werden, unterbrochen wird. In dieser Perspektive verwundert es nicht, dass nahezu jeder Prozess der Entflechtung, jede „gegenläufige“ Entwicklung nur als Krise interpretiert werden kann. Die multiplen Krisen Europas haben schließlich dazu beigetragen, das positiv konnotierte und als „fortschrittlich“ interpretierte Narrativ der Europäisierung zu erschüttern und die in teleologischem Denken begründete „narrative Selbsttäuschung der Europäisierung“ zu demaskieren, wie Clara Frysztacka in der Einleitung zu diesem Sammelband schreibt. Aufbauend auf diese Demaskierung haben wir in diesem Band versucht, die Perspektive der Krise in die Perspektive der Ambivalenz umzuwandeln.
Europäisierung findet demnach immer im Spannungsfeld einander gegenüberstehender Interpretationen, Interaktionen und Institutionalisierungen im transnationalen Rahmen statt. Es ist im Kern ein multidirektionaler, nicht-teleologischer Prozess der sozialen, politischen, ökonomischen und kulturellen Transformation in und zwischen europäischen Gesellschaften. Politische und gesellschaftliche Prozesse bestehen ihrerseits aus einer Reihe paralleler, widersprüchlicher, einander überlappender, einander konterkarierender Mechanismen sozialen Wandels von Institutionen, Interpretationen und Relationen.[16] Diese Sequenzierung, Kombination und Überlagerung sozialer Mechanismen produziert eine spezifische Ambivalenz, die ganz im Sinne Baumans als essenzielles Element der postmodernen europäischen Vergesellschaftung gelten kann. Um die Ambivalenz der Europäisierung sichtbar und damit empirisch fassbar zu machen, lassen sich anhand der vorgestellten Fälle und Beispiele drei analytische Kategorien bzw. Indikatoren von Ambivalenz feststellen: der rationale Dissens als diskursiver Rahmen komplexer oder widersprüchlicher Europa-Ideen; der sozial konstruierte Raum Europa als Produkt von und Möglichkeitsstruktur für Interaktion und Interpretation, sowie Homogenisierung und Differenzierung in transnationalen sozialen Feldern.
Mit diesen Indikatoren der Ambivalenz als analytische Perspektive kann es gelingen, Europäisierung jenseits linearer und normativ-teleologischer Konzepte als eine Aggregation vielfältiger transnationaler Prozesse und Mechanismen wahrzunehmen. Mit Blick auf die Krisen und konflikthaften Prozesse in Europa wird deutlich, dass selbst eine weltweit stattfindende Krise wie die Covid-19-Pandemie keinen Wendepunkt der Europäisierung darstellt, sondern eine Verdichtung komplexer Prozesse und Phänomene. So haben sich beispielsweise zivilgesellschaftliche Akteure während der strengen Ausgangssperren und Demonstrationsverbote in vielen europäischen Ländern digital viel intensiver vernetzt und engagiert, als dies zuvor geschehen ist – die Einschränkung der Möglichkeit physischer Treffen hat die Reichweite zivilgesellschaftlichen Engagements immens erhöht. Städte, die an innereuropäischen Grenzen gelegen sind, erlebten ihren „Doppelstadt-Charakter“ umso intensiver, als direkte Kooperation aufgrund der Re-Nationalisierung unmöglich wurde und die unmittelbaren Netzwerke zwischen Städten und ihren Akteuren unterbrochen waren. Die Erwartungen der EuropäerInnen an die Handlungsfähigkeit der EU stiegen in der Zeit national geprägter Strategien – Europa fehlte. Die Ambivalenzen, die sich aus diesen Widersprüchen und Spannungsfeldern ergeben, bilden den eigentlichen Kern der Europäisierung.
[1] Die Druckversion des Artikels findet sich in: Timm Beichelt / Clara Maddalena Frysztacka / Claudia Weber / Susann Worschech (Hrsg.): Ambivalenzen der Europäisierung, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2021, URL: <https://www.europa.clio-online.de/schriftenreihen/ambivalenzen> (20.10.2021).
[2] Krastev, Ivan, Sieben Corona-Paradoxien. Was das Virus mit uns gemacht hat, in: Neue Zürcher Zeitung, 15.06.2020, URL: <https://www.nzz.ch/meinung/sieben-corona-paradoxien-was-das-virus-mit-uns-gemacht-hat-ld.1557102> (12.08.2020).
[3] Europäischer Rat, Sondertagung des Europäischen Rates, 17.–21. Juli 2020, in: Rat der Europäischen Union, URL: <https://www.consilium.europa.eu/de/meetings/european-council/2020/07/17-21/> (12.08.2020).
[4] Bauman, Zygmunt, Moderne und Ambivalenz. Das Ende der Eindeutigkeit, Hamburg 2016, S. 11.
[5] Ebd., S. 14.
[6] Goffman, Erving, Frame Analysis. An Essay on the Organization of Experience, Cambridge 1976.
[7] Miller, Max, Rationaler Dissens. Zur gesellschaftlichen Funktion sozialer Konflikte, in: Giegel, Hans-Joachim (Hg.), Kommunikation und Konsens in modernen Gesellschaften, Frankfurt am Main 1992, S. 31–58.
[8] Löw, Martina, Raumsoziologie, Frankfurt am Main 2001; Löw, Martina, Raumdimensionen der Europaforschung. Skalierungen zwischen Welt, Staat und Stadt, in: Eigmüller, Monika; Mau, Steffen (Hgg.), Gesellschaftstheorie und Europapolitik. Sozialwissenschaftliche Ansätze zur Europaforschung, Wiesbaden 2010, S. 142–152.
[9] Lubliner Dreieck: Polen, Litauen und Ukraine wollen enger zusammenarbeiten, in: DIE ZEIT, 28.07.2020, URL: <https://www.zeit.de/politik/ausland/2020-07/lubliner-dreieck-polen-litauen-ukraine-engere-zusammenarbeit-eu-nato> (12.08.2020).
[10] Worschech, Susann, Nationalistic Europeanization? Conceptions of Europe and Transnational Network Structures of Nationalistic Movements in and around Ukraine. ASN World Convention. Columbia University. New York, 04.05.2019. URL: <https://www.asnconvention.com/panel-u6> (12.08.2020).
[11] White, Harrison C., Identity and Control. How Social Formations Emerge, Princeton 2008.
[12] Müller, Nils, Europäische Vergesellschaftung zwischen sozialen Feldern und sozialem Raum. Eine Systematisierung, URL: <http://www.horizontal-europeanization.eu/downloads/preprints/.2014> (12.08.2020).
[13] Fligstein, Neil; McAdam, Doug, Toward a General Theory of Strategic Action Fields, in: Sociological Theory 29 (2011), H. 1/4, S. 1–26.
[14] Büttner, Sebastian M.; Leopold, Lucia. M., A „New Spirit“ of Public Policy? The Project World of EU Funding, in: European Journal of Cultural and Political Sociology 3 (2016), H. 1/4, S. 41–71.; Worschech, Susann, Die Herstellung von Zivilgesellschaft. Strategien und Netzwerke der externen Demokratieförderung in der Ukraine, Wiesbaden 2018.
[15] Büttner, Sebastian M.; Leopold, Lucia; Mau, Steffen; Posvic, Matthias, Professionalization in EU Policy-Making? The Topology of the Transnational Field of EU Affairs, in: European Societies 17 (2015), H. 4/5, S. 569–592.
[16] In Anlehnung an Charles Tillys Political Process Modell, siehe Tilly, Charles, To Explain Political Processes, in: American Journal of Sociology 100 (1995), H. 6/6, S. 1594–1610; Tilly, Charles, Mechanisms in Political Processes, in: Annual Review of Political Science 4 (2001), H. 1/1, S. 21–41.