Die preussische Elementarschule im 19. Jahrhundert
Von Volkmar Wittmütz
Die preußische Elementarschule ist für die Revolution von 1848 ebenso verantwortlich gemacht worden wie für die Obrigkeitshörigkeit der preußischen Untertanen wie auch für die militärischen und wirtschaftlichen Erfolge des Staates. Angesichts dieser diametral unterschiedlichen, auch ideologisch beeinflussten Urteile über die Wirkung der Schule ist ihre wichtigste Leistung unumstritten: Der achtjährige Schulbesuch erreichte die nahezu vollständige Alphabetisierung und Disziplinierung der Gesellschaft. Am Beginn des Jahrhunderts war die Elementarschule noch weitgehend das Objekt kirchlicher und lokaler Gewalten. Mit der militärischen und politischen Katastrophe von 1806 rückte die Schule stärker ins Blickfeld etatistischer Reforminteressen. Die Bildungskonzeption des Neuhumanismus Humboldtscher Prägung wirkte sich auf sie kaum aus, allenfalls in der Lehrerbildung, für die der preußische Staat durchgängig konfessionelle Lehrerseminarien zur Professionalisierung des Lehrberufes einrichtete. Deren Ausbildungsprogramm regelte er jedoch erst nach der Revolution in konservativ-restaurativer Weise. Im Kulturkampf „verstaatlichte“ die Regierung auch die Schulaufsicht und machte inhaltliche Vorgaben hinsichtlich der Schulfächer, die in der Elementarschule gelehrt werden sollten, dazu des Unterrichts und seiner vielfältigen Bedingungen. Damit wurde der Prozess der „Verstaatung“ der Elementarschule, die inzwischen etliche Sonderformen wie „Bürger-, Mittel- und Stadtschule“ gebildet hatte, abgeschlossen.
L’école élémentaire prussienne a été rendue responsable de la Révolution de 1848, de la propension des sujets prussiens à se soumettre à l’autorité tout autant que des succès militaires et économiques de l’État. Face à ces jugements diamétralement opposés et idéologiquement marqués sur l’effet de l’école, son action la plus importante reste incontestée : huit ans d’enseignement obligatoire ont mené à l’alphabétisation et la soumission quasi complètes de la société. Au début du siècle, l’école élémentaire était encore largement l’objet des pouvoirs cléricaux et locaux. Après la catastrophe militaire et politique de 1806, l’école devenait un enjeu central des réformes entreprises par l’État. Le concept d’instruction néo-humaniste inspiré par Humboldt n’y jouait quasiment aucun rôle. La seule exception en était la formation des instituteurs pour lesquels l’État prussien mit en place des séminaires confessionnels afin de professionnaliser le métier d’enseignant, séminaires dont le programme de formation ne fut néanmoins réglé qu’après la Révolution, de manière conservatrice et restauratrice. À l’époque du Kulturkampf, le gouvernement plaça également l’inspection scolaire sous son autorité et formula des instructions concernant les matières à enseigner à l’école élémentaire ainsi que l’enseignement lui-même dans toutes ses dimensions. Ainsi fut achevé l’emprise de l’État sur l’école élémentaire sous toutes ses formes, générale ou spécialisée (Bürger-, Mittel- et Stadtschulen).
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„All das Elend, das im verflossenen Jahr (1848) über Preußen hereingebrochen, ist Ihre, einzig Ihre Schuld, die Schuld der Afterbildung, der irreligiösen Menschenweisheit, die Sie als echte Weisheit verbreiten, mit der Sie den Glauben und die Treue in dem Gemüthe meiner Unterthanen ausgerottet und deren Herzen von Mir abgewandt haben. Diese pfauenhaft aufgestutzte Scheinbildung habe Ich schon als Kronprinz aus innerster Seele gehaßt und als Regent Alles aufgeboten, um sie zu unterdrücken.“[1] Und er fuhr fort: „Ich werde auf dem betretenen Wege fortgehen, ohne Mich irren zu lassen; keine Macht der Erde soll Mich davon abwendig machen. Zunächst müssen die Seminarien sämmtlich aus den großen Städten nach kleinen Orten verlegt werden, um den unheilvollen Einflüssen eines verpesteten Zeitgeistes entzogen zu werden. Sodann muß das ganze Treiben in diesen Anstalten unter die strengste Aufsicht kommen. Nicht den Pöbel fürchte Ich, aber die unheilvollen Lehren einer modernen frivolen Weltweisheit vergiften und untergraben Mir Meine Bureaukratie [...].“
Diesen Vorwurf machte der preußische König Friedrich Wilhelm IV. im Februar 1849 einer Gruppe von 13 Lehrern, die an den damals insgesamt 37 preußischen Seminaren in der Ausbildung von Lehrern tätig waren. Die Gruppe war von dem Geheimrat Ferdinand Stiehl (1812-1878)[2] zusammengerufen worden, um ein Unterrichtsgesetz in Folge der Schulartikel der im Dezember 1848 vom König oktroyierten preußischen Verfassung vorzubereiten und darin auch die Ausbildung der Lehrer an Elementarschulen neu zu regeln.[3] Etwas später urteilte die Spenersche Zeitung in Berlin ähnlich, und sie machte speziell Adolph Diesterweg, dem wohl prominentesten Seminarlehrer Preußens und wegen seiner liberalen Auffassungen schon 1847 von seinem Posten als Leiter des Berliner Stadtschul-Seminars Entlassenen[4] den Vorwurf, er habe „durch seine Lehren über die Emanzipation der Schule [...] unermeßlichen Schaden gestiftet und wesentlich dazu beigetragen, daß im Jahre 1848 unter den Lehrern Ansichten und Bestrebungen hervortraten, die einmütig verworfen werden mußten.“[5]
Die Auffassung, dass die Elementarschule mit ihren Lehrern, aber auch mit ihren Schülern an der Vorbereitung und am Ausbruch der Revolution 1848 einen gehörigen Anteil Schuld trage, war nach 1848 in konservativen Kreisen verbreitet. Sie kontrastiert reizvoll mit der an anderer Stelle anzutreffenden Überzeugung, die eben diese Elementarschule für wichtige Erfolge Preußens in Anspruch nimmt, etwa für den militärischen Erfolg in Königgrätz[6] und den wirtschaftlichen Aufschwung Preußens im 19. Jahrhundert. Und in einer dritten Urteilsvariante wird die preußische Elementarschule sogar als „Schule der Untertanen“[7] zwar gleichfalls wieder an den Pranger gestellt, doch jetzt nicht für die Revolution, sondern im Gegenteil für quietistischen Untertanengeist, Unterwerfung, Kadavergehorsam, also für ein Zuwenig an Aufbegehren verantwortlich gemacht.
Offensichtlich sind die Urteile über die historische Leistung der preußischen Elementar- oder Volksschule im 19. Jahrhundert nicht nur kontrovers, sondern manchmal sogar diametral entgegengesetzt. Einig ist man sich nur darin, dass diese Schule für den preußischen Staat und seine Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur eine wichtige Funktion erfüllte, ihr also damals eine hohe Bedeutung zukam und immer noch zukommt. Schon die Zeitgenossen haben das erkannt. 1880 etwa schrieb Friedrich Paulsen, der Historiograf des „gelehrten Unterrichts“ in Deutschland
[8], an seinen ehemaligen Schüler und Freund, den Soziologen Ferdinand Tönnies: „Eine Darstellung der Geschichte des Unterrichtswesens wird, wenn gut gemacht, mehr beitragen können zur Aufhellung aller Dinge, die uns angehen, als irgend etwas, was ich sonst machen kann: philosophische, kirchliche, politische, soziale Entwicklung, alles läuft zusammen in diesem Punkt.“
[9]Auf den ersten Blick ist das 19. Jahrhundert in der Geschichte der preußischen Schule – und nicht allein dieser – eine Epoche wachsender, schließlich sogar weitgehender „Verstaatung“ der Schule, eines seit ihrer institutionellen Etablierung im späten Mittelalter, vor allem aber in der Zeit von Reformation und katholischen Reform kirchlichen Instituts. Denn mit der Umwandlung des christlichen Glaubens in Lehrsätze, Dogmen und Katechismen – zur Unterscheidung von jeweils anderen Konfessionen – und der Ausbildung einer konfessionellen Dogmatik brauchten die Kirchen die Schule, um über ihren Gottesdienst hinaus wichtige Glaubensinhalte zu vermitteln. Die Schule blieb auch in den folgenden Jahrhunderten des Ancien Régime von der Kirche bestimmt, der absolutistische Fürst und Staat bemühte sich nur, durch unterschiedliche Regelungen, meist als Ausfluss seiner „Polizey“, also seiner Sorge um das Wohl seiner Untertanen, den Schulbesuch für die Jugend seines Territoriums verpflichtend zu machen, allerdings meist vergeblich. Der preußische König Friedrich Wilhelm I. etwa befahl am 28. September 1717, dass an den Orten, wo Schulen existierten, die Eltern gehalten sein sollten, ihre Kinder in diese zu schicken.[10] Allerdings galt dieser Befehl nur für die Mark Brandenburg, nicht für die übrigen preußischen Territorien, und nur auf den Domänen befolgte man ihn, und auch das nur mit großer Nachlässigkeit. Für Bayern lässt sich eine entsprechende Verordnung sogar schon 1659 nachweisen.[11] Die absolutistischen Fürsten wussten wohl, dass in der Schule ihre jungen Untertanen nicht nur konfessionell getrimmt, sondern auch politisch beeinflusst und diszipliniert wurden, und zwar mit mehr Druck und wohl auch Erfolg als im damals schon aus vielerlei Gründen defizitären Elternhaus.[12] Das preußische Allgemeine Landrecht (1794) verpflichtete alle Kinder generell zum achtjährigen Schulbesuch, ebenso wie zuvor das General-Landschulen-Reglement von 1763. Allerdings gab es Ausnahmen, etwa für diejenigen Kinder, „welche wegen häuslicher Geschäfte die ordinairen Schulstunden, zu gewissen nothwendiger Arbeit gewidmeten Jahreszeiten, nicht mehr ununterbrochen besuchen können.“[13] Für sie sollte am Sonntag, in den Pausen zwischen der Arbeit und zu anderen „schicklichen“ Zeiten besonderer Unterricht erteilt werden. Die achtjährige Schulpflicht in Preußen war also zunächst mehr Zielvorstellung als Realität, sie wurde in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts immer wieder „den besonderen Verhältnissen in Fabrik-Gegenden“ geopfert.[14] Was die Einführung der Schulpflicht betraf, so zog etwa Bayern mit einer Verordnung vom 23. Dezember 1802 nach, doch machte es den Schulbesuch nur vom 6. bis zum 12. Lebensjahr verpflichtend.[15] In Mecklenburg und Hannover dagegen kam es erst in der Mitte des 19. Jahrhunderts zu ähnlichen Gesetzen.[16]
Zwar findet sich im ALR der berühmte Satz, Schulen seien „Veranstaltungen des Staates“, aber in der Realität blieben sie doch vor allem im Einflussbereich der Kirchen. Der preußische Staat verzichtete auf eine inhaltliche Füllung und Normierung seiner „Veranstaltung“ und überließ weiterhin den Kirchen dieses Terrain. In den übrigen deutschen Staaten war es nicht anders. Mit dieser Abstinenz schien es um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert vorbei zu sein. Angesichts einer langfristigen, vor allem durch die stürmische demografische Entwicklung verursachten sozialökonomischen Krise[17], angesichts auch der Erschütterung des herkömmlichen politischen Systems durch die Revolution in Frankreich und weiterer Krisenphänomene rückte die Schule stärker in das Zentrum jener Interessen, die Reformen zur Bewältigung und Überwindung dieser Krisen erörterten und erwogen. Schon während der Regierungszeit Friedrichs II. hatte – sehr dosiert – die Aufklärung Einzug in einige Schulen Brandenburgs gehalten. An erster Stelle ist hier die Schule Friedrich Eberhard von Rochows (1734–1805) in Reckahn bei Brandenburg zu nennen. Von Rochow erkannte frühzeitig den Zusammenhang zwischen der Rationalisierung und Steigerung der landwirtschaftlichen Produktion auf seinen Gütern und einer Verbesserung der Bildung der Landbevölkerung. 1773 gründete er deshalb eine Musterschule und berief den Lehrer Heinrich Julius Bruns (1746–1794), der die aufklärerischen Gedanken von Rochows in die Tat umsetzte. Wenn schon die Bauern sich jeder „Weiterbildung“ verweigerten, so sollten doch ihre Kinder durch „wohlbedachte Fragen“ zum Nachdenken veranlasst, ihre Beobachtungs- und Sprachfähigkeit gefördert, ihr Intellekt entwickelt werden.[18]
Reckahn entwickelte sich zu einer europaweit bekannten Musterschule mit über 1.000 Besuchern während der 20jährigen Wirksamkeit ihres Lehrers. Die führenden Vertreter des Philanthropismus wie Basedow, Salzmann, Campe, Trapp, aber auch Lehrer, Geistliche und hohe preußische Beamte waren Gast in Reckahn. Dieser pädagogische Ansatz der Aufklärung wurde gegen Ende des Jahrhunderts ausgebaut und politisch organisiert. In der Kabinettsordre Friedrich Wilhelms III. vom 3. Juli 1798 zur Einleitung einer Bildungsreform, die der Minister Julius von Massow entworfen hatte, findet sich das Programm der Reform: „Unterricht und Erziehung bilden den Menschen und den Bürger, so daß ihr Einfluß auf die Wohlfahrt des Staates von höchster Wichtigkeit ist“.
[19] Von Massow versuchte in den ersten Jahren der Herrschaft Friedrich Wilhelms III., die preußischen Untertanen innerhalb der gegebenen ständischen Ordnung durch Bildung und Schule zu einer optimalen Entfaltung ihrer Kräfte zu bringen, sie zu brauchbaren, königstreuen und möglichst auch glücklichen Untertanen zu machen. Sein Ziel war letztlich die Verbesserung des ökonomischen Zustandes des preußischen Gemeinwesens und die Stabilisierung seiner gesellschaftlichen Ordnung mittels einer genauen Dosierung aufklärerischen pädagogischen Gedankengutes, gewissermaßen eine „Staatspädagogik“.
[20] Bei ihm ebenso wie bei von Rochow war aber von einer Weiterentwicklung, vielleicht sogar einer Überwindung eben dieser ständischen Ordnung nie die Rede.
Die militärische Niederlage Preußens 1806 und die daran anknüpfende Reparationspflicht des amputierten Königreiches schufen eine neue Lage. Die desolate Verfassung des Staates ebenso wie die Fülle seiner Verpflichtungen, aber auch die Erfahrungen einer gewalttätigen Revolution stellten eine Legitimitätskrise des herkömmlichen absolutistischen Systems in Preußen dar und brachten radikalere Reformansätze zur Entfaltung, nämlich jene, die strenge ständische Ordnung Preußens insgesamt zu überwinden, die Kräfte der Untertanen von allen feudalen Schranken zu befreien, ihren Status als demütige Untertanen aufzuheben und sie zu loyalen Staatsbürgern zu machen, die „Gemeingeist“ entwickeln und sich für ihr Gemeinwesen verantwortlich fühlen sollten. Das bedeutete auch, sie zu bürgerlichem Erwerb und zur Vermehrung ihres Wohlstandes zu ermutigen, nicht zuletzt im Interesse eben dieses Gemeinwesens, das an dem Wohlstand seiner Bürger teilhaben werde.
Die Fülle von Aufsätzen, Denkschriften und Plänen nach 1806
[21] zeigt, dass die Lage Preußens damals auch eine Herausforderung für die Pädagogik darstellte. Die Bildungskonzeption des Neuhumanismus, die durch Wilhelm von Humboldt (1767–1835) in jenen Jahren in preußische Politik umgesetzt wurde, bestand in einer „allgemeinen Menschenbildung“, ohne Rücksicht auf Stand, zukünftigen Beruf oder Vermögen. In Abkehr von einer nach Ständen dosierten Bildung und Aufklärung des Volkes und in scharfer Trennung zwischen allgemeiner und beruflicher Bildung entwickelte Humboldt mit seinen Mitarbeitern eine bildungspolitische Position, die eine freie, „proportionierliche“ Entwicklung und Entfaltung aller Kräfte der Menschen erstrebte.
[22] Dabei sollte der Elementarunterricht die unterste Stufe in einem dreistufigen System bilden und zum Schulunterricht hinführen, auf den dann die Universität folgte. Für diesen Elementarunterricht war eine eigene, alle Schüler umfassende Institution vorgesehen, die ebenso wie die weiterführenden Stufen dieses Systems die durch die ständische Ordnung vorbezeichneten Lebens- und Berufswege von Menschen überwinden sollte.In engem Zusammenhang mit dem humanistischen Bildungsideal standen weitere Pläne, die Schule zur führenden Institution einer deutschen „Nationalerziehung“ auszubauen
[23], wie es in vergleichbarer Form schon den Männern der Französischen Revolution vorgeschwebt hatte.
[24] Allerdings blieben viele der Pläne, Gedanken und Überlegungen jener Jahre speziell zur Elementarschule Programmatik. Gymnasium und Universität kamen stärker in den Genuss von tatsächlichen Reformmaßnahmen, offensichtlich waren sie dankbarere Objekte für eine Reform, vor allem, da sie nur ein geringes Segment der gesamten Bildungsinstitutionen ausmachten. Die Schulwirklichkeit in den noch unverbundenen Teilen des preußischen Königreiches blieb von den zahlreichen schul- und bildungspädagogischen und -organisatorischen Erörterungen in der Hauptstadt weitgehend unberührt. Sie kann hier nur knapp umrissen werden. Die Elementarschulen waren noch den traditionalen Strukturen verhaftet, also in der Regel Hilfsinstitute der kirchlichen Gemeinden. Damit waren sie abhängig von dem Wohlwollen eines kirchlichen Patrons, eines aufsichtführenden Pfarrers oder eines die Gemeinde leitenden Gremiums wie einem Presbyterium. Die preußischen Schulen waren unterschiedlich dicht über das Land gestreut, mit einem deutlichen Gefälle von West – die größte Schuldichte gab es in der preußischen Provinz Sachsen – nach Ost, wenn man die Schulbesuchsquoten zugrundelegt.
[25] Diese wird für den Beginn des 19. Jahrhunderts auf 60 Prozent geschätzt, von 2,2 Millionen nach dem Gesetz schulpflichtigen Kindern besuchten nicht mehr als 1,3 Millionen eine Schule. Die Heranziehung der Kinder zu Arbeiten in Hof und Werkstatt, auch in Manufakturen und Fabriken, dazu die Erfordernis, Schulgeld zu zahlen, stand dem Schulbesuch im Wege. Vielfach ist auch nur ein saisonaler Schulbesuch überliefert, dann meist nur im Winter, wobei noch die Probleme weiter Schulwege und schlechter Ausrüstung dazukamen. In den westfälischen und rheinischen Territorien war die Schulsituation nicht ganz so desolat, vor allem in den protestantischen Gebieten.
Die weitaus meisten Lehrer waren noch nicht seminaristisch gebildet und besaßen oft kaum pädagogische Qualifikationen, geschweige denn Fachkenntnisse. Sie übten ihren Beruf unter materiell erbärmlichen Umständen (Wandeltisch!) und folglich ohne Engagement aus.[26] Häufig war das Unterrichten in der Schule nur eine Nebentätigkeit, der Lehrer war dazu noch Küster oder Kantor seiner Kirchengemeinde. Auch viele Handwerker, vor allem Schneider und Schuhmacher, sind als Lehrer nachweisbar. Dazu fehlten Bücher und anderes Lehrmaterial, die Schulräume – wenn denn überhaupt ein eigenes Schulzimmer oder -gebäude vorhanden war – waren für die Anzahl der Kinder viel zu klein. Die einklassige Schule mit manchmal über 100 Kindern ohne altersgemäße Differenzierung war vor allem auf dem Lande die Regel. Meist wurde „Schule gehalten“, ein mühseliges Buchstabieren, ein Memorieren von Bibelversen, ohne sie verstanden zu haben, von Liedern aus dem Gesangbuch und von Merksprüchen aller Art war das Kennzeichen dieser Schule.[27] Der eigens zu bezahlende Rechenunterricht kostete zumeist extra, an ihm nahmen deshalb wesentlich weniger Kinder teil.[28] Das unterrichtliche Element, die Bildungsfunktion dieser Schule war oft ihrer Sozialisierungsfunktion im Sinne einer „Sozialdisziplinierung“ untergeordnet, und dann beherrschten Stock und Prügel des Lehrers die gesamte Institution – nicht unbedingt als Ergebnis einer übergeordneten staatlichen Absicht, sondern „aus lokalem Impuls“.[29]
Die Elementarschule in Preußen war also am Beginn des 19. Jahrhunderts noch ganz den traditionalen Strukturen verhaftet; sie war, weil schulgeldabhängig bzw. aus mageren kirchlichen Fonds unterhalten, dürftig finanziert, hatte schlecht ausgebildete Lehrer, wurde nur mangelhaft besucht, war kaum flächendeckend verbreitet – kurz, sie war ein Abbild der nachrangigen Bedeutung, die Bildung und Schule in einer Welt besaßen, die noch weitgehend von herkömmlichen, oft jahrhundertealten Anschauungen und Praktiken bestimmt war. Der vom Neuhumanismus beeinflusste, aber ihn doch auch abwandelnde „Entwurf eines allgemeinen Gesetzes über die Verfassung des Schulwesens im preußischen Staate“ (1817–1819)[30], von Humboldts Mitarbeiter Johann Wilhelm Süvern (1775–1829) entworfen, war kaum in der Lage, die zuvor beschriebene materielle Situation der Schule rasch zu ändern. Er befasste sich neben dem organisatorischen Aufbau des Schulsystems vor allem mit dessen pädagogisch-sozialer Verfassung. Das preußische Schulwesen sollte danach aus drei jeweils aufeinander aufbauenden Stufen bestehen, aber jede Stufe zugleich einen eigenen Schulabschluss ermöglichen. Jede Schulstufe, die Elementarschule wie die allgemeine Stadtschule wie schließlich das Gymnasium sollte sich der „Bildung des Denk- und Erkenntnisvermögens, des Gemütes, der Sinne und der Kräfte des Körpers an und für sich“ widmen, also im humanistischen Sinne den ganzen Menschen umfassen und alle seine Kräfte formen und bilden, ohne Ansehen seines Standes oder seiner Klasse. Die Elementarschule wurde als Institut zur „ersten methodischen Entwicklung der menschlichen Anlagen und Hervorbringung der inmittelst derselben zu gewinnenden Einsichten, Kenntnisse und Fertigkeiten“ beschrieben, dies ganz im Sinne Wilhelm von Humboldts. Gleichzeitig sah Süvern diese Schule aber auch für die „Bildungsbedürfnisse der unteren Volksklassen“ vor, verortete sie also auch gesellschaftlich und veränderte den neuhumanistischen Ansatz Humboldts an diesem wichtigen Punkt.
Süverns Entwurf geriet bereits in das rauhere politische Klima der Restauration, er erlangte keine Gesetzeskraft mehr. Kennzeichnend für die negativen Urteile über den Entwurf ist die Stellungnahme des Ministerialrates im Kultusministerium Ludolph von Beckedorff (1778–1858).
[31] Dieser schrieb, dass eine „möglichst allgemeine menschliche Ausbildung der Jugend [...] am Ende notwendig [...] zu einer durch die bürgerliche Gesellschaft herzustellenden allgemeinen Gleichheit aller Menschen“ führen müsse. Doch „Geschlecht, Alter, Kräfte, Neigungen, Talente und vor allen Dingen der einmal ungleich ausgeteilte Besitz [begründet] eine natürliche Verschiedenheit“. Wenn man statt dessen Gleichheit durchsetzen wolle, sei das ein Auflehnen gegen die Ordnung der Natur. Zudem werde nichts anderes als „Neid, Eifersucht, Feindschaft, Hader und ewiger Kampf zwischen Gewalt und List in die Gemeinschaft der Menschen eingeführt und folglich die geselligen Verhältnisse [...] in eine unaufhörliche Quelle von Mißtrauen und wahrem inneren Kriege verwandelt werden müssen“. Mit anderen Worten: Der natürlichen Ungleichheit der Menschen müsse auch die Schule Rechnung tragen, denn sie – die Ungleichheit – sei das eigentliche Band der Gesellschaft, weil aus ihr das Gefühl von Hilfsbedürftigkeit erwachse und folglich „der Trieb nach geselligem Leben“. Der Staat bestehe nicht dadurch, dass seine Bürger gleiche Rechte und Ansprüche besäßen, sondern dadurch, dass sie in verschiedenen Beschäftigungen und Gewerben lebten und nach diesen in ganz eigentümliche Klassen und Stände abgeteilt seien, so Beckedorff.
Staat und Gesellschaft bedürften also nicht „allgemeiner Elementarschulen, allgemeiner Stadtschulen und Gymnasien“, sondern „verschiedenartiger Berufs- und Standesschulen“, um die Kinder auf ihre künftige Bestimmung vorzubereiten. Beckedorff empfahl Landschulen für die bäuerliche Bevölkerung, schulgeldfreie Armenschulen für die niederen städtischen Bevölkerungsschichten und gehobene Bürgerschulen für die Handwerker und Kaufleute. Nur die „Bildung der Religiosität“ und die Erziehung zu Sittlichkeit und Disziplin sei allen Schulen gemeinsam. Da dies aber auch die Aufgabe der Kirchen sei, gelte ihnen die „nächste und dringendste Aufforderung zur Anlegung von Schulen“, wobei sie – viel besser noch als der Staat – die Eltern dazu bewegen könnten, ihnen die Kinder zum Besuch der Schulen zu überlassen. Der Staat könne die Kirchen bei deren Bemühen, die Jugend zu bilden „und zu veredeln“, nur unterstützen, aber nicht selbständig auf diesem Felde Aufgaben übernehmen. Die Schulentwicklung im Vormärz war eher auf der Seite Beckedorffs als Süverns. Der preußische Staat überließ die Elementarschule fast vollständig lokalen Gewalten. In den Kommunen übernahmen Schulkommissionen oder Schulvorstände die Verantwortung für die Schulen. Besetzt waren sie mit Vertretern der Geistlichkeit und des Gemeinderates, und sie fällten Entscheidungen über den Inhalt des Unterrichts genauso wie über die Anstellung von Lehrern oder die Errichtung und Unterhaltung der Schulen. Auf dem Lande wirkten die Guts- und Großgrundbesitzer – oft noch als kirchliche Patrone – in ähnlicher Weise, nur vermutlich noch konservativer.
Unabhängig von der ideologischen Ausrichtung dieser Schule muss zunächst und vor allem der allmähliche Erfolg bei der Durchsetzung der Schulpflicht erwähnt werden. Wird man um 1800 von einer Schulbesuchsquote von 50 Prozent, 1816 von einer solchen von 60 Prozent auszugehen haben[32], so betrug der durchschnittliche Schulbesuch in Preußen 1846 schon etwa 86 Prozent, und ein 100prozentiger Schulbesuch wurde in den 1880er Jahren erreicht. Natürlich gab es im gesamten Königreich provinziale Besonderheiten. Für das Rheinland etwa lässt sich ein stärkerer Schulbesuch in den vorwiegend protestantischen Regionen feststellen[33], obwohl dies nicht so ausgeprägt ist wie oft vermutet. Allerdings fand der Schulbesuch in „Fabrikgegenden“ auch in schulischen Kümmerformen statt, also etwa in einer städtischen Abendschule, einer Fabrikschule oder einer Sonntagsschule.[34] Der Schulbesuch stand der Arbeit der Kinder entgegen und war deshalb in frühindustriell geprägten Städten wie Aachen oder Elberfeld oft ähnlich gering wie auf dem Lande, wo die Kinder seit je zu leichten Arbeiten herangezogen worden waren. Der Elberfelder Oberbürgermeister Brüning etwa musste seinem Landrat am 30. September 1830 mitteilen, dass von den „4.166 schulpflichtigen Kindern, welche die Stadt überhaupt hat, 1.443 gar keine Schule besuchen.“[35] Der Besuch einer Schule ist also nicht unbedingt mit einer erfolgreichen Alphabetisierung gleichzusetzen. Gleichwohl entfaltete auch ein „unvollständiger“ Schulbesuch eine Wirkung, vor allem hinsichtlich einer Erziehung der Schüler zu Pünktlichkeit, Sauberkeit und Ordnung, die der Lehrer – notfalls mit dem Stock – den Schülern beibrachte.[36]
Die Schulentwicklung in Preußen ist weiter gekennzeichnet durch große Unterschiede zwischen Schulen in den Städten und auf dem Lande. Ein wesentlicher Bestandteil der preußischen Reformen war die Steinsche Städteordnung und die Gewerbeordnung Hardenbergs, beide mit dem Ziel, die Untertanen zu Staatsbürgern zu machen und sie zu bürgerlicher Arbeit zu ermutigen, die sich im Sinne des Smithschen Liberalismus sowohl individuell als auch für das Gemeinwesen positiv auswirken sollte. Die preußischen Städte, die für die Schulentwicklung verantwortlich waren, entwickelten zumeist unterschiedliche, aber aufeinander abgestimmte Schultypen im Sinne eines lokal begrenzten „Schulsystems“. Dabei entstanden, vereinfachend gesagt, eine niedere, kostenfreie Volksschule für die Armen, eine mittlere, reguläre Schule, deren Besuch bezahlt werden musste, und eine höhere, auch teurere Elementarschule, die vor allem auf weiterführende Schulen vorbereitete. Diese Schulen blieben voneinander getrennt, es gab nur wenig Mobilität zwischen den unterschiedlichen Schultypen. Die Schulen einer Stadt waren somit ein Abbild der gesellschaftlichen Struktur in dieser Stadt, und das war vom Schulträger auch durchaus beabsichtigt. Die Lehrer an den Elementarschulen dagegen kritisierten diese Entwicklung häufig und forderten, oft in Fortführung der Bildungstheorie des Neuhumanismus, aufeinander aufbauende statt voneinander getrennte Schultypen.
[37] Mit der Forderung nach einer für alle Schüler zugänglichen „Mittelschule“ wollten sie die Mobilität und Durchlässigkeit der preußischen Bildungsreform aus der Zeit Humboldts retten. Aber dies war vergeblich, die städtischen Schulen glichen eher nebeneinander stehenden Säulen als aufeinander aufbauenden Stufen. Dazu kam die höhere Schule, die für das handel- und gewerbetreibende städtische Bürgertum am besten geeignet war. Als Bürger- oder Realschule erhielt sie 1832 vom preußischen Kultusministerium die – wenn auch nur vorläufige – Erlaubnis, vorgeschriebene „Entlassungsprüfungen“ abzuhalten. Damit wurde sie in das Berechtigungssystem eingebaut; in diesem Fall etwa wurde die Entlassungsprüfung mit dem Privileg der nur einjährigen Militärpflicht verbunden, damit wurde sie strukturell erheblich „verfestigt“. Für Öffnungen und Experimente in der Schule und um sie herum war jetzt kein Platz mehr. Die Bürger- oder Realschule wurde in den folgenden Jahren eine im Bürgertum sehr beliebte Schule.
[38]Es waren die Städte und Kommunen, die in Preußen die Last ihrer Schulen trugen, aber auch in ihren Mauern unterschiedliche „Schullandschaften“ entwickelten. Natürlich zahlten letztlich die Bürger der Stadt auch für ihr Schulwesen, und oft taten sie dies nur mit viel Widerwillen.
[39] Der preußische Staat oder gar der König gaben nur wenig dazu, letzterer etwa ein paar Freistellen, und das meist nur an einer höheren Schule. Beide machten aber auch kaum Vorschriften, sie ließen ihren Provinzen, Landkreisen und Kommunen viel Spielraum für regionale Besonderheiten. Preußen verzichtete auf eine streng zentralistische Schulpolitik im Elementarschulbereich. Diese Politik war vor allem auch im Sinne der konservativen Politiker, auch Kulturpolitiker des Vormärz wie von Beckedorff und Eichhorn. Beckedorff vertrat in seiner Antwort auf den Schulgesetz-Entwurf Süverns die Meinung, der Staat dürfe gar nicht eine von ihm beabsichtigte Erziehungsweise als Gesetz und damit zwangsweise der gesamten Nation aufdrängen – ein deutlicher Hinweis auf das Misstrauen, das konservative Kreise dem Normieren und Nivellieren einer zentralistischen Bürokratie gegenüber empfanden, die im Falle Preußens auch noch von zumeist liberal gesonnenen Beamten besetzt war. Also gab es weder für die Elementarschule noch für die Lehrerseminare zentrale verbindliche Lehrpläne, Stundenpläne oder Lehrbücher, sondern nur einzelne Verfügungen, auch Empfehlungen oder Warnungen. Um auf das eingangs zitierte Urteil über die Elementarschule und ihre Lehrer noch einmal zurückzukommen: War die Elementarschule eine Vorbereitung für die Revolution 1848? Zunächst ist festzustellen, dass keine Korrelation zwischen der revolutionären Leidenschaft, etwa in einer Stadt oder einer Region, und dem Umfang der dort genossenen Bildung nachweisbar ist. Es ist auch nicht zu vermuten, dass die Schule revolutionäre Inhalte vermittelte, darüber wachten schon die städtischen Oberen.Andererseits haben sich die Lehrer, gerade auch die Lehrer an Elementarschulen, in hoher Zahl an der Revolution, an Demonstrationen und Diskussionen beteiligt. Bei ihnen hatte sich im Vormärz wohl so etwas wie eine „revolutionäre Disposition“ entwickelt. Sie waren Angehörige eines neuen Berufes und arbeiteten in einer Institution, die sie für wichtig hielten, die aber in der Gesellschaft noch nicht die Anerkennung erfuhr, die ihr eigentlich gebührte. Ihre berufliche Position war zudem unsicher, sie verdienten wenig und standen im gesellschaftlichen Ansehen unter dem Feldwebel oder dem Gendarmen. Dabei hatten sie immer häufiger eine seminaristische Ausbildung absolviert, pflegten geistig-kulturelle Interessen und verstanden, sich besser als die meisten ihrer Mitmenschen auszudrücken. In ihrer Arbeit waren sie vereinzelt, abhängig von Geistlichen und anderen lokalen Gewalten, die als Außenstehende von der Schule weniger als sie, die Fachleute, verstanden. Die Lehrer suchten deshalb den Kontakt untereinander, in Vereinen oder auch Zusammenkünften, die der eigenen Fortbildung und damit der Professionalisierung dienten, aber auch der Selbstverständigung und nicht zuletzt der Geselligkeit. Gelegentlich veranstalteten sie sogar große, öffentliche „Lehrerfeste“ und versuchten, dadurch auch überregional auf sich aufmerksam zu machen.
[40] Eine ihrer wesentlichen Forderungen war die nach vermehrtem staatlichem, also zentralem Einfluss auf die Schule, um örtliche Unterschiede einzuebnen. Ihr unsicherer Status machte sie für die mit der Revolution einhergehende Politisierung, auch für weitergehende Forderungen, etwa für jene, sie aus Staatsmitteln
[41] und nicht aus lokalen Schulfonds oder kommunalen Budgets zu bezahlen, besonders anfällig.
[42] Schon durch ihren Beruf waren die Lehrer Vertreter des Neuen. Sie begegneten dem Hergebrachten mit Kritik und forderten auch ihre Schüler dazu auf. 1848 schien sich die Möglichkeit zu bieten, die Schule generell nach neuen, vernünftigen Grundsätzen zentral zu gestalten, mit einem Grundrecht auf Bildung für jeden Staatsbürger, mit Freiheit von enger kirchlicher oder lokaler Kontrolle und statt dessen mit Kontrollen durch andere Lehrer, also Kollegen, mit gesicherter Bezahlung und anerkanntem Status der Lehrer.
Die Gründungsversammlung des „Allgemeinen Deutschen Lehrervereins“, die vom 28. bis zum 30. September 1848 in Eisenach stattfand, forderte die gleichberechtigte Stellung der Volksschule mit anderen Staatsanstalten, ein besonderes „Ministerium der öffentlichen Volkserziehung“ zur Aufsicht über alle Schulen, die Schulgeldfreiheit für die allgemeinen Schulen, eine „gleichmäßige bürgerliche Stellung der Lehrer“ mit ausreichender Besoldung und Pensionsberechtigung und schließlich die Freiheit von Wissenschaft und Lehre.[43] Die deutsche Reichsverfassung, aber auch die preußische oktroyierte Verfassung gaben diesen Forderungen weitgehend nach. Aber Realität wurden sie deshalb nicht, auch deshalb, weil die Revolution so wenig erfolgreich war.
Die erste, inhaltlich verbindliche Regelung für die Elementarschule waren die sogenannten Stiehlschen Regulative, ausgearbeitet von dem Geheimrat Ferdinand Stiehl (1812–1878), der ursprünglich beauftragt worden war, das von der preußischen oktroyierten Verfassung angekündigte Unterrichtsgesetz zu entwerfen, das aber nie zustande kam, vor allem deshalb, weil es den Einfluss des Staates vergrößern sollte, wogegen die Kirchen Widerspruch einlegten. Der Gedanke, dem in den preußischen Provinzen bisher sehr unterschiedlich gewachsenen Elementarschulwesen, speziell der Ausbildung der Lehrer für diese Schulen, eine allgemein gültige Form und Norm zu geben, lag seit der Oktroyierung einer gesamtpreußischen Verfassung nahe. Stiehl verwirklichte ihn und machte seine drei Regulative über die Einrichtung des evangelischen Seminar-, Präparanden- und Elementarschulunterrichts[44] zum Instrument einer eindeutig konservativen, antirevolutionären Schul- und Erziehungspolitik.
Das erste Regulativ „Für den Unterricht in den evangelischen Schullehrerseminaren“ legte fest, dass die zukünftigen Lehrer zum „einfachen und fruchtbringenden Unterricht in der Religion, im Lesen und in der Muttersprache, im Schreiben, Rechnen, Singen, in der Vaterlands- und Naturkunde innerhalb der Grenzen der Elementarschule“ in der einklassigen Elementarschule befähigt werden sollten; jede wissenschaftliche Behandlung dieser Disziplinen würde diesem Ziel nur entgegenstehen, sie war also untersagt. Die Jugend sollte in „christlicher, vaterländischer Gesinnung und in häuslicher Tugend“, nicht zu unpraktischer Reflexion und erfolglosem Experimentieren, erzogen werden. Pädagogik, Methodik, Didaktik oder Lernpsychologie sollten in der Lehrerbildung fortan keine Rolle mehr spielen.
Dem Besuch des Lehrerseminars hatte eine Präparanden-Tätigkeit voranzugehen, ein Praktikum bei einem von der Schulverwaltung bezeichneten Lehrer oder Pfarrer, in dessen Verlauf der Präparand sich auf die Aufnahmeprüfung in das Seminar vorbereiten konnte. Dafür wurde ein bestimmtes Pensum an Wissen vorausgesetzt, in dem wichtigsten Fach Religion etwa der lutherische oder Heidelberger Katechismus, zahlreiche Bibelsprüche und 50 Kirchenlieder, die vorgegeben waren. Das dritte Regulativ „Grundzüge betreffend Einrichtung und Unterricht der evangelischen einklassigen Elementarschule“ machte eben diese Schulform mit 80 Schülern zur Norm und gab die pädagogische Überzeugung seines Verfassers am deutlichsten wieder: „Der Gedanke einer allgemein-menschlichen Bildung durch formelle Entwicklung der Geistesvermögen an abstraktem Inhalt hat sich durch die Erfahrung als wirkungslos oder schädlich erwiesen. Das Leben des Volkes verlangt seine Neugestaltung auf Grundlage und dem Ausbau seiner ursprünglich gegebenen und ewigen Realitäten und auf dem Fundament des Christentums, welches Familie, Berufskreis, Gemeinde und Staat in seiner kirchlich berechtigten Gestaltung durchdringen, ausbilden und stützen soll.“
Stiehl lieferte die richtigen Inhalte für diese Schule gleich mit: 26 Wochenstunden für Religion, Lesen, Schreiben, Rechnen und Gesang, dessen Unterricht vor allem die für den jeweiligen Sonntagsgottesdienst vorgesehenen Kirchenlieder einüben sollte. Der Lehrplan in Religion schrieb unter anderem vor, dass 30 Kirchenlieder mit allen Strophen gelernt werden sollten. Später wurde diese Anzahl reduziert. Auch die Inhalte der übrigen Fächer wurden festgelegt, die Realien spielten weiterhin kaum eine Rolle. Bildend wirkte, nach Stiehl, der richtige Lerninhalt; die formale Bildung, die der Neuhumanismus noch propagiert hatte, weil es ihm nicht auf Inhalte, sondern auf die Ausbildung menschlicher Fähigkeiten und Fertigkeiten ankam, wurde abgelehnt.[45]
Die Regulative sind ein eindrucksvolles Instrument einer politischen Auffassung, die nicht nur gegen die Revolution Stellung bezog, sondern die auch ihre Wurzeln, Aufklärung und Liberalismus, ablehnte und die unter dem Einfluss orthodox-christlicher, auch erwecklicher Vorstellungen von menschlicher Erbsünde und Heilsnotwendigkeit aus göttlicher Gnade den pädagogischen Bemühungen um eine Besserung des Menschen große Skepsis entgegenbrachte. Die Regulative gestalteten aber auch den engen Zusammenhang zwischen Pädagogik und Politik, zwischen Staat bzw. Gesellschaft und Schule, der im Vormärz zwar schon erkannt, aber noch offen gelassen worden war. Hier und jetzt manifestierte sich politisches Wollen in pädagogischen Verordnungen.
Die Stiehlschen Regulative blieben bis 1872 in Kraft. Dann zerbrach im Kulturkampf die enge Zusammenarbeit von Kirche und Staat, jedenfalls für die katholische Kirche. Der Staat warf gewissermaßen die Kirche aus der Schule heraus. Der Grund dafür war die Entwicklung innerhalb der katholischen Kirche – im Juli 1870 war das Unfehlbarkeitsdogma auf dem Vatikanischen Konzil verkündet worden. Die preußische Regierung hatte sich zunächst strikt neutral verhalten, doch die innerkatholische Spaltung berührte zunehmend auch die Interessen des Staates, vor allem, da der preußische Kultusminister von Mühler weiterhin auch katholische Geistliche, darunter ebenfalls Befürworter des neuen Dogmas, in führende Schulämter berief.[46]
Bismarck war damit nicht einverstanden. Als er darauf aufmerksam gemacht wurde, dass in den polnischsprachigen Gebieten Preußens die katholischen Pfarrer und Schulräte Polnisch als Unterrichtssprache förderten, als dann noch ein Konflikt um die Schulaufsicht im neuen Reichsland Elsass-Lothringen hinzukam, drängte der Reichskanzler darauf, die Interessen des Staates bei der Schulaufsicht zu wahren, notfalls auch gegen die Kirche. Ein „Schulaufsichtsgesetz“ wurde im November 1871 beraten. Es hatte nur zwei Artikel: Die Aufsicht über alle öffentlichen und Privat-Unterrichts- und Erziehungsanstalten stehe dem Staat zu und die Ernennung der Schulinspektoren sei ebenfalls ausschließlich seine Aufgabe. Das Gesetz wurde Anfang 1872 von beiden Kammern des preußischen Parlaments gebilligt. Fast gleichzeitig demissionierte der bisher für die Schulen verantwortliche Minister. Sein Nachfolger wurde, von Bismarck vorgeschlagen, der liberale Jurist Adalbert Falk.
Das Schulaufsichtsgesetz wurde von der preußischen Regierung vor allem als Mittel in ihrem Kampf gegen ultramontane und nationalpolnische Bestrebungen betrachtet. Es ging Bismarck nicht um die Erfüllung der von den betroffenen Volksschullehrern vorgebrachten Forderung nach einer Befreiung der Schule aus der Bevormundung der Kirche. Ob das Schulaufsichtsgesetz der Schule und den Lehrern dienlich war, wurde zu keiner Zeit erörtert. Es ging ausschließlich um etatistische Interessen. Diese durchzusetzen war dem preußischen Ministerpräsidenten jedes „Schlachtfeld“ recht, eben auch die Schule. Die Liberalen unterstützten ihn, wenn auch nicht immer mit vollem Herzen, denn das Gesetz bedeutete eine Ausweitung staatlicher Aufsicht und Kontrolle, und damit war eben auch eine Einschränkung individueller Gestaltungsmöglichkeiten in der Schule verbunden.
Das Schulaufsichtsgesetz trat im März 1872 in Kraft. Es wurde vor allem in den preußischen Ostprovinzen und im Rheinland angewendet, wo in den folgenden Jahren hauptamtliche Kreisschulinspektoren – anstatt der bisher im Nebenamt tätigen Geistlichen – eingestellt wurden. Aber es wurden durchaus nicht alle Geistlichen aus diesem Amt entlassen, 1875 amtierten zum Beispiel immer noch 700 evangelische und 135 katholische Geistliche als Kreisschulinspektoren im Nebenamt, und auf der lokalen Ebene waren diese Zahlen noch wesentlich höher.
[47] Mit anderen Worten: Das neue Schulaufsichtsgesetz wurde durchaus nicht durchgängig verwirklicht, es unterstützte und bestärkte vor allem die Entwicklung zur Verstaatung der Schule, ohne einen schulpädagogischen Begründungszusammenhang zu entwickeln. Ob es dagegen seinem von seinen Initiatoren beabsichtigten Ziel, der Bekämpfung nationalpolnischer und ultramontaner Bestrebungen, nahekam, muss bezweifelt werden. Diese wurden zwar aus der Schule verbannt, konnten sich aber außerhalb der Schule noch wirksamer entfalten.
Wichtiger als dieses Gesetz wurden die sogenannten „Allgemeinen Bestimmungen betreffend das Volksschul-, Präparanden- und Seminarwesen“, die der neue Kultusminister im Oktober 1872 dekretierte.[48] Sie sollten die Grundlage für eine innere Verbesserung der Elementarschule schaffen, und das taten sie, wenn auch in bescheidenem Rahmen. Sie hoben die Stiehlschen Regulative auf. Vorbereitet worden waren sie durch eine Konferenz von Persönlichkeiten aus der Schulpolitik, der Schule und Lehrerbildung, insgesamt 28 Teilnehmer[49], deren Einfluss auf die neue Verordnung allerdings gering blieb, vielleicht, weil sie untereinander vor allem hinsichtlich des konfessionellen Charakters der preußischen Schule zerstritten waren. Erarbeitet wurden die „Allgemeinen Bestimmungen“ von dem Nachfolger Stiehls, dem Direktor des Berliner Stadtschulseminars Karl Schneider, einem Freund des Ministers.
Die „Allgemeinen Bestimmungen“ vom 15. Oktober 1872 enthielten fünf Teile, eine Verfügung über Einrichtung, Aufgabe und Ziel der Volksschule, einen Lehrplan für die entstehende Mittelschule, Vorschriften für die Aufnahmeprüfung an den Lehrerseminaren, einen Lehrplan und Prüfungsordnungen für diese Seminare. Sie orientierten sich nicht mehr an der einklassigen preußischen Elementarschule, obwohl die überwiegende Zahl dieser Schulen immer noch einklassig war. Die Klassenfrequenz sollte 80 nicht übersteigen, bei über 80 Schülern sollte eine weitere Klasse eingerichtet werden, bei mehr als 120 Schülern eine dritte Klasse, notfalls auch eine Halbtagsschule. Hinzu kamen Verfügungen über „Einrichtung und Ausstattung des Schulzimmers“ und über Lehrmittel. Das Schulzimmer musste mindestens so groß sein, dass auf jedes Schulkind ein „Flächenmaß von 0,6 qm kommt; auch ist dafür zu sorgen, dass es hell und luftig sei [...] und Schutz gegen die Witterung gewähre [...].“ Schultafel mit Kreide und Schwamm, Katheder und Schrank vervollständigten den Inhalt des Raumes. Dazu waren zahlreiche Lehrmittel vorgeschrieben, die damals den pädagogischen Fortschritt markierten, etwa Wandkarten und Globus, eine Geige, Lineal und Zirkel, ein Exemplar der in der Schule eingeführten Lehrbücher und weitere Abbildungen. Allerdings sollten noch Jahre vergehen, bis man diese Lehrmittel in den Schulzimmern wirklich antraf und sie als allgemein vorhanden bezeichnen konnte.[50]
Die Bestimmungen enthielten weiter Stundentafeln für einklassige wie für mehrklassige Volksschulen; sie schrieben die Fächer Religion, Deutsch, Rechnen, Zeichnen, die Realien, Singen und Turnen vor, Handarbeit für die Mädchen war fakultativ. So war jetzt ein Unterricht in den Realien vorgeschrieben, er wurde breiter erörtert als alle übrigen Fächer, seine sechs Wochenstunden gingen zu Lasten des Faches Religion, das dadurch de facto eine Wochenstunde abgeben musste. Der Lehrplan für die neuen „Bürger-, Mittel-, Rector-, höheren Knaben- oder Stadtschulen“ – alles Schulen, die über den Status einer Elementarschule hinausgewachsen waren – sah eine Fremdsprache (Französisch) und einen noch stärkeren Umfang der Realien als in den Elementarschulen vor. Der Minister begrüßte die Schaffung dieser größeren, meist sechsklassigen Schulen, die in den Städten die Elementarschulen ersetzen – nicht etwa ihnen folgen – sollten.[51] Die Kirchen waren bei der Festlegung dieser Vorschriften, speziell auch der Vorschriften zum Religionsunterricht, nicht gefragt worden. Als der Minister deshalb im preußischen Abgeordnetenhaus und außerhalb vor allem von der evangelischen Kirche kritisiert wurde, entgegnete er, dass der Religionsunterricht ein Teil des Schulunterrichts sei, und die Schule sei gewissermaßen staatliches Hoheitsgebiet. Außerdem müsse man die Kinder auch im Fache Religion „produktiv“ unterrichten, also mit Verständnis, so dass sie befähigt würden, im Sinne einer Teilhabe am Gottesdienst in der Gemeinde mitzuwirken.
Unabhängig von diesen gesetzlichen Vorgaben – obwohl es sich bei den „Allgemeinen Bestimmungen“ nicht um ein Gesetz im technischen Sinne handelte, ein solches kam erst nach dem Zweiten Weltkrieg zustande – erfolgte der weitere Ausbau der Elementarschule. 1864 etwa hatte jede städtische Volksschule in Preußen schon zwischen drei und vier Altersklassen, 1886 schon über sechs Klassen, 1911 fast zehn Klassen (für acht Jahrgänge). Die Schülerzahl pro Klasse war von 72 auf 64, schließlich auf 51 gesunken.[52] Die Unterschiede zwischen Stadt und Land wurden nur mühsam, meist noch gar nicht, eingeebnet. Doch sind auch auf diesem Feld Modernisierungstendenzen festzustellen: Überall wurden seminaristisch ausgebildete Lehrer die Regel und Norm. Diese Lehrer wurden allmählich besser honoriert, sie traten mit mehr Selbstbewusstsein auf, sie wurden – vor allem auf dem Land – zu den Honoratioren des Dorfes gezählt. Mit dem Ausbau von Elementarschulen wurden Lehrer seit dem Ende der 60er Jahre knapp, und zum Lehrermangel trug die Verlängerung der Lehrer-Ausbildung nicht unwesentlich bei: Dreijährige Präparandenanstalten wurden immer häufiger dem Besuch der Seminare vorgeschaltet. Damit schuf der Staat einen funktionalen Ausbildungsweg von der Volksschule über die Präparandenanstalt und das dreijährige Lehrerseminar bis zur Lehrerprüfung. Und gegen Ende des 19. Jahrhunderts beschritten auch zunehmend Frauen diesen Weg, der relativ anspruchsvoll war und der Frau, wenn sie nicht heiratete, eine anerkannte berufliche Stellung verschaffte.[53] Der Abstand zu den akademisch gebildeten Lehrern und zu anderen Akademikern blieb gleichwohl beträchtlich, aber von den Arbeitern und den abhängigen Handwerkern hatten sich die Lehrer an den Elementarschulen entfernt. Von der Umklammerung der Kirche hatten sich viele Lehrer inzwischen auch befreit, doch immer noch verrichteten etwa 19 Prozent unter ihnen Küster- oder Organistendienste.[54]
Die Form des Unterrichts in der Elementarschule änderte sich ebenfalls, eine Folge der besseren Ausbildung der Lehrer. Sie „hielten nicht mehr Schule“, sondern unterrichteten, strukturierten ihren Stoff, mühten sich um Anschauung und um Verstehen der Schüler. Die Lernprozesse, die sie organisierten, wurden zunehmend abstrakt, herausgelöst aus dem allgemeinen Lebenszusammenhang.[55] Zur wesentlichen Unterrichtsform, vor allem in den Realien, entwickelte sich immer stärker der Vortrag des Lehrers, der Frontalunterricht mit einer geregelten Sitzordnung in dem Klassenzimmer. Diese Form des Unterrichtens erforderte eine gewissermaßen curriculare Durchstrukturierung des Unterrichtsstoffes, war also anspruchsvoller als das vorherige Buchstabieren, Repetieren und Memorieren.
Neben Bildungsinhalten wurden weiterhin sittliche und politische Werte und Haltungen wie Demut, Bescheidenheit, Loyalität der Untertanen, Gehorsam und Akzeptanz der sozialen Unterschiede als gottgegeben vermittelt. Zunehmend wurden auch nationale Identifikationsmuster in der Schule angeboten, etwa bei den nationalen Festen und Feiern, den „vaterländischen Gedenktagen“, die nicht nur von den militärischen Siegen gegen Frankreich bestimmt waren, sondern auch von den Geburts- oder Sterbetagen der Monarchen oder anderer populärer „Helden“. Diese Feiern boten den Lehrern gleichzeitig die Gelegenheit, bei deren Gestaltung öffentlich hervorzutreten und auf sich aufmerksam zu machen, sie waren auch aus diesem Grund bei ihnen beliebt. Aber es greift zu kurz, diese Veranstaltungen nur unter der Rubrik „Untertanenerziehung“ oder „ideologische Rückständigkeit der Elementarschule“ zu verbuchen. Sicherlich waren sie dies auch, andererseits flossen in vielen Schulen viele andere als ausschließlich nationale Elemente in den Unterricht ein. Die preußische Elementarschule war in vielerlei Hinsicht liberaler als oft vermutet. Gerade auf den Lehrplan wirkte sich zum Beispiel die zentralstaatliche Verfügungspraxis kaum aus, und heimatkundliche, kulturelle und soziale Informationen und Kenntnisse, die streng genommen gar nicht vorgesehen waren, fanden Eingang in den Unterricht, wenn der Lehrer es nur wollte. Die Schule besaß zudem damals schon jene Eigendynamik, die sie bis heute kennzeichnet und die es schwierig macht, alles in ihr zu planen und „gradlinig auf ein Ziel auszurichten“.
So war die preußische Elementarschule keine ausschließlich obrigkeitlich orientierte Disziplinierungsanstalt, als die sie gelegentlich beschrieben wird. Natürlich disziplinierte sie auch, bändigte Aggressivität, führte manchmal einen fast militärischen Drill in das Schulleben ein, erzog zu Pünktlichkeit und Sauberkeit. Daneben sind andere, moderne Tendenzen in ihr festzustellen. Am wichtigsten war die praktisch schon in den 1880er Jahren vollständige Alphabetisierung der preußischen Jugend, dazu eine Wertschätzung von „Verstehen“ und „Begreifen“ im Unterricht, von selbsttätigem Denken und kritischem Urteilen der Schüler. Johannes Tews, ein liberaler Schulhistoriker des späten 19. Jahrhunderts, brachte diese neue Entwicklung bei breiten Bevölkerungsschichten, die inzwischen durch diese Schule gegangen waren, schon 1890 auf die Formel: heute maße sich jeder an, über die höchsten und letzten Fragen in Religion, Moral, Staat und Gesellschaft ein Urteil zu haben.[56] An dieser Entwicklung hatte die Elementarschule einen gehörigen Anteil. Ihr war damals wie heute eine fundamentale Ambivalenz, ja Polyvalenz zu eigen, die die Abwehr moderner Elemente – etwa in der Fixierung auf die von Gott eingesetzte Obrigkeit, der Gehorsam zu leisten war – ebenso wie die Aufnahme und Unterstützung moderner Elemente umfasste – etwa in der Durchsetzung der Schulpflicht, in der staatlichen Durchdringung und Reglementierung der Schule, der Vorgabe eines Lehrplans, der Entstehung des Lehrerberufs mit einer fest umrissenen Ausbildung und einer beruflichen Laufbahn. Die Elementarschule war ein Gemisch von Tradition und Innovation, und wie dieses Gemisch auf die Beteiligten wirkte, ist kaum messbar, entfaltete sich oft auch erst langfristig in Richtungen, die nicht immer kalkuliert, auch schwer zugänglich waren. Ob diese Schule also zu revolutionärem Aufbegehren anstachelte oder eher zu Demut und Gehorsam anleitete – ich kehre zum Anfang meiner Ausführungen zurück – das ist vermutlich ebenso eine Frage des Standpunktes und Urteilsvermögens ihrer Betrachter wie ihrer eigenen Strukturen.
[1] Zit. n. Michael, Berthold; Schepp, Heinz-Hermann, Die Schule in Staat und Gesellschaft. Dokumente zur deutschen Schulgeschichte im 19. und 20. Jahrhundert, Göttingen 1993, S. 167.
[2] Vgl. Krueger, Bernhard, Stiehl und seine Regulative, Weinheim 1970, S. 31, 122.
[3] Krueger (Anm. 2), S. 98, bezweifelt, dass der König diese Ansprache wirklich gehalten hat, und er verweist auf die offiziellen Akten dieser Konferenz; die erste Nachricht über diese königliche Ansprache findet sich in der Zweiten Beilage zum „Frankfurter Journal“ vom 13. Februar 1849, einer angeblich „preußenfeindlichen“ Publikation (so Otto Schulz in dem „Schulblatt für die Provinz Brandenburg“, 1849, S. 133).
[4] Vgl. Rupp, Horst F., Fr. A. W. Diesterweg. Pädagogik und Politik, Göttingen 1989, S. 88ff.
[5] Zit. n. Petrat, Gerhardt, „Eine Zeitschrift ist eine Zeitschrift“. Die „Rheinischen Blätter“ im Jubiläumsjahr 1851, in: Diesterweg, Adolph, Wissen im Aufbruch. Katalog zur Ausstellung zum 200. Geburtstag, Weinheim 1990, S. 270.
[6] Vgl. Schnabel, Franz, Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert, Bd. II, S. 346; auch in der Taschenbuchausgabe von 1965, Bd. 6, S. 88ff.; vgl. auch Nipperdey, Thomas, Deutsche Geschichte 1800–1866. Bürgerwelt und starker Staat, München 1985, S. 469.
[7] So der Titel des Werkes von Folkert Meyer, Hamburg 1976.
[8] Vgl. Paulsen, Friedrich, Geschichte des gelehrten Unterrichts, 2 Bde, Berlin 1919, 1921.
[9] Zit. n. Berg, Christa, Die Okkupation der Schule, Heidelberg 1973, S. 7.
[10] Vgl. das Corpus Constitutionum Marchicarum, Teil I, Abt. I, Nr. XCVII, Sp. 527ff.; dazu auch Nipperdey (Anm. 6), S. 463ff.
[11] Vgl. Reble, Albert, Das bayerische Schulwesen, in: Spindler, Max (Hg.), Handbuch der Bayerischen Geschichte, Bd. IV, München 1975, S. 950ff.; diese Anordnung wurde 1682 und 1732 wiederholt.
[12] Vgl. Petrat, Gerhardt, Schulerziehung. Ihre Sozialgeschichte in Deutschland bis 1945, München 1987, S. 37ff.
[13] Vgl. Allgemeines Landrecht für die Preußischen Staaten, Zweiter Theil, Zwölfter Titel, § 45.
[14] Vgl. Kuhlemann, Frank-Michael, Modernisierung und Disziplinierung. Sozialgeschichte des preußischen Volksschulwesens 1794–1872, Göttingen 1992, S. 109.
[15] Vgl. Reble (Anm. 11), S. 951f.
[16] Vgl. Nipperdey (Anm. 6), S. 451ff.
[17] Dazu ausführlicher Kuhlemann (Anm. 14), S. 52ff.
[18] Vgl. Tosch, Frank (Hg.), „Er war ein Lehrer“. Heinrich Julius Bruns. Beiträge des Reckahner Kolloquiums anlässlich seines 200. Todestages, Potsdam 1995, S. 15.
[19] Zit. n. Kuhlemann (Anm. 14), S. 59.
[20] Vgl. Jeismann, Karl-Ernst, Das preußische Gymnasium in Staat und Gesellschaft, Stuttgart 1974, S. 172ff.
[21] Vgl. die Sammlung von Jeismann, Karl-Ernst, Staat und Erziehung in der preußischen Reform 1807–1819, Göttingen 1969.
[22] Vgl. etwa „Unmaßgebliche Gedanken über den Plan zur Einrichtung des Litauischen Stadtschulwesens“ von 1809, in Michael; Schepp (Anm. 1), S. 104–108.
[23] Vgl. dazu etwa Fichte, Johann Gottlieb, Reden an die deutsche Nation, Berlin 1808; zum Beispiel die 1. Rede; vgl. Jeismann (Anm. 21), S. 21f.
[24] Vgl. Julia, Dominique, L’institution du citoyen. Die Erziehung des Staatsbürgers, in: Zeitschrift für Pädagogik, 24. Beiheft 1989, S. 63–103.
[25] Vgl. Kuhlemann (Anm. 14), S. 102ff.
[26] Vgl. etwa den Bericht eines Schulinspektors aus Elberfeld bei Wittmütz, Volkmar, Die Elberfelder Schulen 1815, in: Geschichte im Wuppertal 2 (1993), S. 30–48.
[27] Vgl. dazu Dillmann, Erwin, Institution Schule und mental-kultureller Prozess, in: Jahrbuch für Historische Bildungsforschung, Bd. 1, Weinheim 1993, S. 13–40.
[28] Bei Kuhlemann (Anm. 14), S. 100f., finden sich Zahlen von zwischen 3 % und 4 % der Schüler, die Rechenunterricht bekamen.
[29] Vgl. Neugebauer, Wolfgang, Absolutistischer Staat und Schulwirklichkeit in Brandenburg-Preußen, Berlin 1985, S. 633f.
[30] Teilabdruck des Entwurfs bei Michael; Schepp (Anm. 1), S. 108–113.
[31] Vgl. ebd., S. 113–123.
[32] Vgl. Kuhlemann (Anm. 14), S. 107f.; d.h. 1816 besuchten von ca. 2,2 Millionen schulpflichtigen Kindern 1,3 Millionen eine öffentliche Schule.
[33] Vgl. Wittmütz, Volkmar, Als die Preußen ins Rheinland kamen, in: Goebel, Klaus (Hg.), Oberbergische Geschichte, Bd. 2, Wiehl 1998, S. 207ff.
[34] Vgl. Wittmütz, Volkmar, Zwischen Schule und Fabrik, in: Dietz, Burkhard; Lange, Ute; Wahle, Manfred (Hg.), Jugend zwischen Selbst- und Fremdbestimmung, Bochum 1996, S. 43–62.
[35] Vgl. Stadtarchiv Wuppertal, L I 195.
[36] Vgl. Petrat, Gerhardt, Schulerziehung. Ihre Sozialgeschichte in Deutschland bis 1945, München 1987, S. 87ff.
[37] So etwa Diesterweg; vgl. Kuhlemann (Anm. 14), S. 141f.; auch Wittmütz, Volkmar, Schule der Bürger. Die höhere Schule im Wuppertal 1800 bis 1850, Wuppertal 1981, S. 96ff.
[38] Vgl. Wittmütz (Anm. 37).
[39] Vgl. Wittmütz, Volkmar, Das kommunale Budget in Elberfeld und Barmen während des 19. Jahrhunderts, in: Beeck, Karl-Hermann (Hg.), Gründerzeit. Versuch einer Grenzbestimmung im Wuppertal, Köln 1984, S. 246–276.
[40] Vgl. Wittmütz, Volkmar, Politisch-pädagogisches Denken in der rheinischen Lehrerbewegung um 1800, in: Herrmann, Ulrich; Oelkers, Jürgen (Hg.), Französische Revolution und Pädagogik der Moderne, Weinheim 1990, S. 363–376.
[41] So etwa Diesterweg in dem Aufsatz „Was fordert die Zeit?“ (1848); jetzt in Michael; Schepp (Anm. 1) S. 145ff.
[42] Vgl. dazu Nipperdey, Thomas, Volksschule und Revolution im Vormärz, in: Ders. (Hg.), Gesellschaft, Kultur, Theorie, Göttingen 1976, S. 206–227.
[43] Vgl. Michael; Schepp (Anm. 1), S. 159ff.
[44] Der Wortlaut der Regulative mit den entsprechenden Entwürfen und dem Schriftwechsel bei Krueger (Anm. 2), S. 180ff.
[45] Zu den Regulativen vgl. ausführlich Jeismann, Karl-Ernst, Die „Stiehlschen Regulative“, in: Herrmann, Ulrich (Hg.), Schule und Gesellschaft im 19. Jahrhundert, Weinheim 1977, S. 137–161.
[46] Vgl. dazu Berg (Anm. 9), S. 20ff.
[47] Vgl. Berg (Anm. 9), S. 56; es handelt sich um 7.478 evangelische und 3.007 katholische Geistliche als Lokalschulinspektoren im Nebenamt.
[48] Der Text auszugsweise bei Michael; Schepp (Anm. 1), S. 179–198.
[49] Vgl. Berg (Anm. 9), S. 64ff.
[50] Vgl. Berg (Anm. 9), S. 72.
[51] Vgl. ebd., S. 77.
[52] Vgl. Kuhlemann (Anm. 14), S. 150ff.
[53] Vgl. Titze, Hartmut, Lehrerbildung und Professionalisierung, in: Berg, Christa (Hg.), Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte, Bd. IV: 1870–1918, München 1991, S. 358, 364; 1911 waren im preußischen Volksschulwesen etwa 20 % weibliche Lehrkräfte tätig, in den Mittelschulen sogar 48 %.
[54] Vgl. Kuhlemann, Frank-Michael, Tradition und Innovation. Zum Wandel des niederen Bildungssektors in Preußen 1790–1918, in: Jahrbuch für Historische Bildungsforschung, Bd. 1, Weinheim 1993, S. 64.
[55] Vgl. dazu Dillmann (Anm. 27), S. 13–40.
[56] Vgl. Wölk, Manfred, Der preußische Volksschulabsolvent als Reichstagswähler 1871–1912, Berlin 1980, S. 7, 444ff.