Intellektuelle Konstruktionen (West-)Europas 1950

Die Dramatik des Kalten Krieges in seiner heißesten Phase um 1950 kann man sich überhaupt nicht krass genug ausmalen. Demoskopisch immer wieder ermittelt, erwartete die Mehrheit der Westdeutschen den Ausbruch eines dritten und mit atomaren Waffen ausgetragenen Weltkriegs in naher Zukunft. Man wähnte sich lediglich in einer kurzen historischen Atempause zwischen zwei planetarischen Waffengängen. Der ferne Korea-Krieg, der am Anfang eines beispiellosen Exportbooms stand, führte in der Bundesrepublik zu angsterfüllten Hamsterkäufen. Das Wohnen in Hochhäusern wurde von manchen Experten abgelehnt, weil jene leichte Ziele für feindliche Flieger böten. Dem Kalten Krieg korrespondierte eine in allen westlichen Ländern dominierende culture of fear. [...]

Intellektuelle Konstruktionen (West-)Europas 1950[1]

Von Axel Schildt

Die Dramatik des Kalten Krieges in seiner heißesten Phase um 1950 kann man sich überhaupt nicht krass genug ausmalen. Demoskopisch immer wieder ermittelt, erwartete die Mehrheit der Westdeutschen den Ausbruch eines dritten und mit atomaren Waffen ausgetragenen Weltkriegs in naher Zukunft. Man wähnte sich lediglich in einer kurzen historischen Atempause zwischen zwei planetarischen Waffengängen. Der ferne Korea-Krieg, der am Anfang eines beispiellosen Exportbooms stand, führte in der Bundesrepublik zu angsterfüllten Hamsterkäufen. Das Wohnen in Hochhäusern wurde von manchen Experten abgelehnt, weil jene leichte Ziele für feindliche Flieger böten. Dem Kalten Krieg korrespondierte eine in allen westlichen Ländern dominierende culture of fear, die allerdings in der Bundesrepublik als Frontstaat des westlichen Bündnisses besonders virulent war und angesichts der nicht weit zurückliegenden nationalistischen Hybris des „Großdeutschen Reiches“ einige eigentümliche Züge besaß[2], die auch in zeitgenössischen ideologischen Konstruktionen zum Ausdruck kam.

Dazu zählte die ausgeprägte Europa-Euphorie vor allem großer Teile der bürgerlichen Jugend und der jüngeren intellektuellen Szene. Deutschland sollte nicht mehr die Welt beherrschen, sondern als Partner im Einklang mit den Mächten des Westens den Wiederaufstieg aus der Not organisieren und einen Schutzschild gegen den „Osten“ schmieden. Der rege westdeutsche Europa-Diskurs, wie er sich vor allem in einschlägigen politisch-kulturellen Zeitschriften gehobener Publizistik und prominenten Buchveröffentlichungen niederschlug, folgte allerdings ungeachtet aller Rhetorik des gänzlich Neuen weitgehend ideengeschichtlichen Mustern, die in der Kontinuität der Zwischenkriegszeit standen[3], wie insgesamt die Selbstverständigung der gerade rekonstruierten bürgerlichen Gesellschaft im westdeutschen Wiederaufbau in starkem Maße von den konzeptionellen Angeboten der Zwischenkriegszeit geprägt wurde.

Es wäre unzutreffend, von einer schlichten Transformation des hybriden großdeutschen Nationalismus in supranationales Europa-Gedankengut auszugehen, denn in der Zwischenkriegszeit, auch im "Dritten Reich", war das Denken in geopolitischen Räumen, von denen Europa welthistorisch die entscheidende Rolle zukommen sollte[4], zu keinem Zeitpunkt unterbrochen, sondern in charakteristischer Weise – wie bereits vor und im Ersten Weltkrieg – radikalisiert worden. Kontinentaleuropa unter deutscher Führung, angegliedert der Osten Europas als wirtschaftlicher Ergänzungsraum – diese Vorstellung eines "Europa unter dem Hakenkreuz" schien in der ersten Hälfte des Zweiten Weltkriegs sogar zur dauerhaften Realität werden zu können. Dass in der nationalsozialistischen Propaganda immer wieder die kulturelle Vielfalt Europas als zu schützender Wert hervorgehoben wurde[5], verdient Erwähnung, um publizistische Tendenzen nach dem Zweiten Weltkrieg angemessen einordnen zu können. Allerdings fanden sich Anklänge an eine europäische Ideologie auch auf der Seite der Hitler-Gegner, bei prominenten Frondeuren des 20. Juli 1944[6], was die Rezeptionsbreite nach dem Krieg beträchtlich erweiterte.

Es wirkt angesichts der Kontinuität des Europagedankens durch das Dritte Reich hindurch nur auf den ersten Blick überraschend, dass der supranational-europäische Diskurs, abgesehen von einer schmalen geistigen Gegenelite unter der Ägide der alliierten Besatzungsmächte, zu der einige Remigranten zählten, nach dem Zweiten Weltkrieg weitgehend von Publizisten getragen wurde, die auch zuvor in Deutschland über dieses Thema geschrieben hatten. Anders als nach dem Ersten Weltkrieg gab es für sie aber keine Möglichkeiten, von Revanche zu träumen[7]. Man sah sich vielmehr am Ende der Revolutionen, geworfen in eine Welt, die von den globalen Mächten der Moderne, ob nun in sowjetischen oder amerikanischen Formen, beherrscht wurde. Ein elegischer Ton dominierte, statt deutschem Machtstaat sollte europäischer Geist, aber auch die militärische Einheit Westeuropas, als rettender Halt fungieren.

Die Kriegsniederlage war zugleich die Stunde der Beschwörung von Europa als einer „Dritten Kraft“[8], die zunächst wesentlich geistig und spirituell und nur in vagen staatlichen und außenpolitischen Kategorien gedacht wurde. Vom Linkskatholizismus der „Frankfurter Hefte“ um Walter Dirks und Eugen Kogon bis zu protestantisch-nationalkonservativen Kreisen in der Evangelischen Kirche Deutschlands (EKD), vom „Ruf“ Hans Werner Richters und sozialdemokratischen Theoretikern wie Richard Löwenthal bis hin zu neoliberalen Publizisten wie Wilhelm Röpke und Parteiführern der CDU wie Jakob Kaiser wurde in den ersten Nachkriegsjahren der Gedanke einer europäischen Dritten Kraft als Abwendung einer globalen Konfrontation der beiden größten alliierten Mächte propagiert, die nach ihrem von Hitler erzwungenen Zweckbündnis schon bald sichtbar auf Konfrontationskurs gingen.

Das Denken in den Mustern von Europa als Dritter Kraft, ebenfalls ein Produkt der Zwischenkriegszeit, war der Nukleus dreier allerdings nur idealtypisch zu unterscheidender ideologischer Strömungen, die sich im beginnenden Kalten Krieg ausformten und diesen begleiteten. Die erste dieser Strömungen lässt sich als selbstbewusstes Festhalten der Vorstellung von einem politisch eigenständigen Europa als Dritter Kraft trotz der weltpolitischen Entwicklung verstehen[9], die immer mehr auf eine Entscheidung zugunsten eines west-östlichen Blockdenkens drängte. Und in dieser Perspektive verbanden sich Konzeptionen einer Dritten Kraft zunehmend mit „nationalneutralistischen Positionen“, die mindestens einen Vorrang der Wiedergewinnung deutscher Einheit vor der westlichen Integration behaupteten[10].

Während die Protagonisten dieser Strömung rasch als fellow traveller des Ostens stigmatisiert und isoliert wurden, konkurrierten – idealtypisch konstruiert – zwei „Lager“ um die politische Meinungsführerschaft, die sich hinsichtlich der Radikalität im Kampf gegen den Kommunismus jeweils nicht übertreffen lassen wollten, aber hinsichtlich der Akzeptanz liberaler westlicher Ideen und damit hinsichtlich der jeweiligen Konstruktion des Westens gegenüber dem Osten beträchtliche Unterschiede aufwiesen. Auf der einen Seite standen die Anhänger einer politisch-kulturellen Einheit des christlichen Abendlandes, die zwar – dies wurde durchaus betont – auf den militärischen Schutz der USA angewiesen, aber doch in Distanz zu liberalen westlichen Ideen konzipiert war. Einen organisatorischen Kern bildeten die Zeitschrift „Neues Abendland“ (1946-1958), die Anfang der 50er Jahre existierende Abendländische Aktion und die 1952 gegründete Abendländische Akademie als jährliche Zusammenkunft von vornehmlich katholischen Intellektuellen, Publizisten, Kirchenführern und Politikern.[11] Auf der anderen Seite stand ein intellektuelles Netzwerk vornehmlich liberaler und sozialdemokratischer, aber auch einiger konservativer und sehr vieler ehemaliger kommunistischer Politiker und Publizisten, als dessen organisierender Kern der in etlichen westeuropäischen Ländern wirkende „Kongreß für kulturelle Freiheit“ fungierte, der seine erste und vielbeachtete internationale Tagung 1950 in West-Berlin ausrichtete[12]. Zentrales publizistisches Organ dieses Zusammenschlusses in Westdeutschland war die Zeitschrift „Der Monat“ (1948-1971).[13] In schärfstem Gegensatz zum östlichen Stalinismus befindlich, kritisierten die Intellektuellen der Kongreß-Bewegung bald zunehmend illiberale Tendenzen in westlichen Ländern, etwa die McCarthy-Hysterie in den USA, obwohl die verdeckte finanzielle Förderung von dort kam.

Wenn von idealtypisch konstruierten „Lagern“ die Rede war, ist damit gemeint, dass die grundsätzlich unterschiedlichen Positionen um 1950 nicht leicht zu unterscheiden waren, weil die gemeinsame antikommunistische Gegnerschaft im Vordergrund stand, eine aufeinander bezogene Polemik nicht bzw. kaum stattfand und es sogar vorkommen konnte, dass Autoren der Zeitschrift „Neues Abendland“ auch im „Monat“ publizierten.[14] Allerdings stehen die Verfasser der beiden hier auszugsweise wiedergegebenen programmatischen Schriften auch für die biographische Kluft, die jeweils den Hauptteil der Intellektuellen beider „Lager“, selbst wenn sie zur gleichen Generation zählten, voneinander trennte. Emil Franzel (1901-1976), der von der Sozialdemokratie 1937 zur faschistischen deutschen Henlein-Bewegung in der Tschechoslowakei übertrat und nach 1945 engen Anschluss an die CSU suchte, wurde einer der Schlüsselfiguren der rechtskatholischen und Vertriebenen-Publizistik[15]; Arthur Koestler (1905-1983), ungarischer Zionist in den 20er Jahren, aktiver Kommunist und Antifaschist im spanischen Bürgerkrieg in den 30er Jahren, nach seiner Flucht nach England dort 1948 eingebürgert, machte sich einen Namen als Verfasser von Romanen und anderen Büchern, die um die Vernichtung und Selbstbehauptung des Individuums angesichts totalitärer Bedrohungen kreisten[16].

Der Bezug auf das christliche Abendland stellte auf der konservativen Seite um 1950 die hegemoniale Integrationsideologie dar. In seiner ersten Regierungserklärung 1949 – und bei vielen anderen Anlässen – nahm der erste Bundeskanzler Konrad Adenauer eine charakteristische Trennung zwischen Westeuropa und den USA vor: "Es besteht für uns kein Zweifel, dass wir nach unserer Herkunft und nach unserer Gesinnung zur westeuropäischen Welt gehören." Damit wurde betont, dass der Westen nicht nur eine geographische Größe, sondern darüber hinausgehend ein Wertbegriff sei. Als solcher aber blieb der "Westen" auf Westeuropa beschränkt. Der Rolle der USA gedachte der Kanzler in dieser Erklärung mit "besonderem Dank", aber er betonte zugleich: "Unsere ganze Arbeit wird getragen sein von dem Geist christlich-abendländischer Kultur."[17]

Nachdem die „deutsche Katastrophe“ (Friedrich Meinecke) eindrücklich gezeigt habe, dass die Säkularisierung in ihren verschiedenen Ausdrucksformen von technisch-rationalem Denken, Vermassung und zivilisatorischem Fortschritt die gesamte abendländische Welt zu einem geistigen Vakuum und dann als äußerste Konsequenz – aber nur quasi zufällig und stellvertretend in Deutschland – zu einer nihilistisch-totalitären Diktatur geführt habe, musste ganz Europa in dieser Sicht zwingend zur Umkehr im Sinne einer christlichen renovatio bewegt werden. Im Medium einer geschichtsphilosophisch-metaphysischen Schulddiskussion, wie sie in zahlreichen politisch-kulturellen Periodika ausgetragen wurde, erneuerte sich die geistige Hegemonie eines nun christlich geprägten Konservatismus, der letztlich Aufklärung und Moderne erfolgreich auf die Anklagebank setzte.

Deutsche Politik – zunächst auch deutsche Innenpolitik - war nur im Rahmen des jeweiligen globalen Machtblocks noch möglich, war auf die Beachtung der Fronten des Kalten Krieges und damit auch auf die Pläne einer wirtschaftlichen, politischen und militärischen Integration Westeuropas in einem transatlantischen Bündnis verwiesen. Es gab zwar zunächst nur wenige Propagandisten, die ganz offen davon ausgingen, dass die Westintegration auf lange Sicht die deutsche Spaltung herbeiführen würde, wie etwa Wilhelm Röpke, der in die Schweiz emigrierte Theoretiker des Neoliberalismus. Er hatte schon im Frühjahr 1945 dafür plädiert, einen westdeutschen Staat im Rahmen eines freihändlerischen Westblocks zu schaffen mit einer „vollkommene(n) Scheidung der moralischen, politischen, sozialen und wirtschaftlichen Grundsätze“ entlang der Elbe-Linie.[18] Aber solche Gedanken wurden, und selbst dort häufig verklausuliert, allein in föderalistischen Richtungsorganen wie dem Rheinischen Merkur vertreten, der schon in der unmittelbaren Nachkriegszeit für eine Schwerpunktverlagerung Deutschlands auf die kulturellen Kernländer des Westens plädierte. Hier verbanden sich dann auch neoliberale und katholisch-konservative Ideologen in gegenseitiger Wertschätzung. In der offiziösen politischen Sprache und vorzugsweise in den Sonntagsreden, in denen in den 50er Jahren die Wiedervereinigung beschworen wurde, dominierte eine andere Argumentationsfigur, nämlich die – übrigens auch von Röpke schon früh formulierte – Magnettheorie, der zufolge die westliche Integration so attraktiv sein würde, dass sie die Sowjetunion isolieren und den östlichen Block zum Einsturz bringen würde. Die Regierung Adenauer hatte dies bekanntlich in die Formel einer „Politik der Stärke“ gekleidet.

Der abendländische Kern Kontinentaleuropas als politischer und kultureller Garant „antibolschewistischer“ Verteidigung war – dies galt als unzweifelhafter Konsens – die Achse Paris-Bonn. In dem von Franzel in der Quelle genannten Orchester gehörten daneben an erster Stelle die anderen kontinentaleuropäischen Länder, darunter immer wieder demonstrativ genannt Spanien und Portugal. Die Glorifizierung der rechtsdiktatorischen Regime der iberischen Halbinsel als verlässliche Stützen abendländischen Denkens nahm in der rechtskatholischen Publizistik der 50er Jahre mitunter bizarre Formen an. Gerade die publizistischen Bemühungen um die Einbeziehung Francos und Salazars in die Verteidigung gegen den Bolschewismus zeigten, dass der Kampf gegen den totalitären „Dämon“ nicht im Zeichen liberaler Freiheitsrechte, sondern als christlicher Feldzug gegen den „Anti-Messias“ geführt werden sollte – der Liberalismus galt demgegenüber als lediglich mildere Variante oder Vorstufe des drohenden Bolschewismus, mindestens aber unterminierte er die geistige Geschlossenheit der abendländischen Verteidigung[19]. In diese Sicht mischten sich mitunter spezifisch katholische Gedanken über das oströmische Schisma; demnach verlief die Grenze Europas nicht entlang rassistischer Kriterien, sondern religiös-kultureller Traditionen. Dass die slawischen Völker zwischen Russland und Europa, von der Sowjetunion in Knechtschaft gehalten, ein Aktivposten für die abendländische Welt im kommenden Krieg mit der Sowjetunion sein würden, hatte des Öfteren Otto von Habsburg, ein nimmermüder Streiter in paneuropäischen und abendländischen Zirkeln, mit Genugtuung festgestellt. Nach seiner Rechnung standen 231 Millionen Kontinentaleuropäer 230 Millionen Russen gegenüber, während 100 Millionen versklavte Osteuropäer sich auf die Seite des Abendlandes schlagen würden. Europa werde demzufolge „bis an die echten Grenzen Rußlands“ heranrücken.[20]

Im Unterschied zu den skizzierten Strömungen, in denen Europa als Dritte Kraft in umfassender Äquidistanz zu den neuen globalen Supermächten USA und Sowjetunion verharrte, ließ die Abendland-Ideologie keinen Zweifel an der unabdingbaren Notwendigkeit eines transatlantischen Verteidigungsbündnisses, und die militärische und wirtschaftliche Stärke der USA wurden als Sicherheitsschirm dankbar geschätzt. Der stets betonte Zusammenhang von europäischer Eigenständigkeit und transatlantischem Bündnis ließ bekanntlich noch genug Interpretationsraum für politische Konzeptionen, wie sich in den Auseinandersetzungen um den „Gaullismus“ in der ersten Hälfte der 60er Jahre zeigen sollte. Aber offen amerikafeindliche Elemente wurden in der abendländischen Ideologie auf Randbereiche traditioneller hochkultureller Dünkel zurückgedrängt – konzentriert in der neuhumanistischen Analogie des antiken Griechenland (für Europa) und des Römischen Reiches (für die USA), und parallel dazu wurden immer wieder die abendländischen Wurzeln Amerikas in Erinnerung gerufen. Die politische Entwicklung in den USA während der 50er Jahre – vor allem nach dem Wahlsieg von Eisenhauer – hellte zudem das Amerika-Bild im konservativen deutschen Spektrum weiter auf. Die liberale Strömung des westdeutschen (und westeuropäischen) Europa-Diskurses lässt sich wie erwähnt erst im Rückblick deutlich als eigenständige Variante absetzen. Der Öffentlichkeit vermittelt wurde sie von Publizisten, die sich in der Schärfe ihrer antikommunistischen Stoßrichtung um 1950 ebenso wenig von den Abendland-Ideologen übertreffen lassen wollten wie in der Propaganda für eine westeuropäische Integration; auch findet man bei ihnen bisweilen Anleihen an die dortige Begriffswelt, die eine genaue Unterscheidung ebenso erschweren wie die schwierige einzelbiographische Zuordnung. Entscheidend aber war, dass diese dritte Strömung mit ihrer Option für ein atlantisches Bündnis und eine europäische Integration ein anderes Bild vom Westen verband, dass weitgehend frei war vom Antimodernismus und Antiliberalismus der Abendland-Ideologie.

Der ideengeschichtliche Clou der 50er Jahre, als im Wiederaufbau immer deutlicher neue, modernisierende Momente sichtbar wurden, war es, dass die Hegemonie konservativ-abendländischen Denkens eben nicht von der traditionellen Linken zerstört wurde, die in ihren nationalen Schranken verharrte, sondern von jenen demokratischen und liberalen Intellektuellen, die sich nach dem Krieg – quasi als Gegenelite unter der Ägide vor allem der amerikanischen Besatzungsmacht – zunächst in einer minoritären Position gesehen hatten. In ihren Reihen befanden sich etliche Hitler-Flüchtlinge, wie auch der Autor des in Auszügen wiedergegebenen Aufsatzes aus dem „Monat“. Durch ein langjähriges Tübinger Forschungsprojekt sind wir mittlerweile recht gut über den untergründig wirksamen Beitrag der intellektuellen Netzwerke für die ideelle Verwestlichung der politischen Kultur der Bundesrepublik informiert[21]. Neben dem „Monat“ und dem Kongreß für kulturelle Freiheit, auf dessen internationalen Tagungen sich prominente europäische Intellektuelle und Politiker, vornehmlich von den Rändern der Sozialdemokratie und aus linksliberalen Zusammenhängen, nicht selten auch enttäuschte ehemalige Kommunisten, trafen, ist auch auf die Europa-Konzeption führender Gewerkschaftsfunktionäre hinzuweisen, die als USA-Remigranten eine klare Westoption in sozialradikaler Terminologie verfolgten. Ludwig Rosenberg forderte in den Gewerkschaftlichen Monatsheften, heute müsse „die Idee der Sozialen Revolution zum Inhalt des neuen Europa werden.“[22] Mochte auf der ersten großen Tagung in West-Berlin 1950 noch die Betonung der antikommunistischen Abwehrfront gegen die totalitäre Bedrohung aus dem Osten im Vordergrund gestanden haben und der Unterschied zur abendländischen Ideologie unscharf gewesen sein, so wurde bald deutlich, dass durch die Kongreß-Bewegung Kräfte freigesetzt wurden, die auf die Liberalisierung der westlichen Länder Europas und der USA und selbstverständlich der Bundesrepublik drängten. Dies wurde nicht zuletzt damit begründet, dass der Westen nicht im Kampf mit dem Bolschewismus selbst totalitär werden dürfe. Nicht eine einheitliche Ideologie dürfe diesem entgegengestellt werden, wie es die konservativen Abendland-Protagonisten forderten, sondern pluralistische Gedankenfreiheit. Der Westen sollte dadurch attraktiv werden, dass er in diesem Sinne einfach moderner war als der Osten[23]. Dieses Denken erhielt seit der Mitte der 50er Jahre immer größere Resonanz und war nun längst nicht mehr nur auf den „Monat“ und verwandte Organe verwiesen.


[1] Essay zur Quelle: Emil Franzel und Arthur Koestler, „Europa ist ein Patient in einer Eisernen Lunge.“ Intellektuelle Konstruktionen (West-) Europas (1950); [Auszüge].

[2] Vgl. für Hinweise auf die Forschung Schildt, Axel, „German Angst“. Überlegungen zur Mentalitätsgeschichte der Bundesrepublik, in: Münkel, Daniela; Schwarzkopf, Jutta (Hgg.), Geschichte als Experiment. Studien zu Politik, Kultur und Alltag im 19. und 20. Jahrhundert. Festschrift für Adelheid von Saldern, Frankfurt a.M. 2004, S. 87-97.

[3] Conze, Vanessa, Das Europa der Deutschen. Ideen von Europa in Deutschland zwischen Reichstradition und Westorientierung (1920-1070), München 2005; Schildt, Axel, Westlich, demokratisch. Deutschland und die westlichen Demokratien im 20. Jahrhundert, in: Doering-Manteuffel, Anselm (Hg. unter Mitarbeit von Elisabeth Müller-Luckner), Strukturmerkmale der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts, München 2006, S. 225-239.

[4] Besonders bekannt, aber nicht das einzige Projekt dieser Art war der Paneuropa-Zusammenhang des Grafen Coudenhove-Kalergi; vgl. als Überblick Loth, Wilfried, Der Weg nach Europa. Geschichte der europäischen Integration 1939-1957, Göttingen 1990.

[5] Neulen, Werner, Eurofaschismus und der Zweite Weltkrieg. Europas verratene Söhne, München 1980; Elvert, Jürgen, "Germanen" und "Imperialisten". Zwei Europakonzepte aus nationalsozialistischer Zeit, in: Historische Mitteilungen, Jg. 5 (1992), S. 161-184.

[6] Vgl. die Dokumentation von Lipgens, Walter (Hg.), Europa-Föderationspläne der Widerstandsbewegungen 1940-1945, München 1968.

[7] Niedhart, Gottfried; Riesenberger, Dieter (Hg.), Lernen aus dem Krieg? Deutsche Nachkriegszeiten 1918 und 1945: Beiträge zur historischen Friedensforschung, München 1992.

[8] Loth, Wilfried, Die Europa-Diskussion in den deutschen Besatzungszonen, in: ders. (Hg.), Die Anfänge der europäischen Integation 1945-1950, Bonn 1990, S. 103-128.

[9] Selbst das bizarre „Atlantropa“-Projekt zur Absenkung des Mittelmeeres und zur Bewässerung der Sahara unter europäischer Ägide erlebte Anfang der 50er Jahre eine Spätblüte (vgl. Gall, Alexander, Das Atlantropa-Projekt. Die Geschichte einer gescheiterten Vision. Hermann Sörgel und die Absenkung des Mittelmeeres, Frankfurt a.M. 1998).

[10] Gallus, Alexander, Die Neutralisten. Verfechter eines vereinten Deutschland zwischen Ost und West, 1945-1990, Düsseldorf 2001.

[11] Vgl. zum Folgenden und für detaillierte Hinweise zur Literatur Schildt, Axel, Zwischen Abendland und Amerika. Studien zur westdeutschen Ideenlandschaft der 50er Jahre, München 1999, S. 21 ff.

[12] Die Textauszüge von Arthur Koestler entstammen den Materialien des ersten dieser Kongresse in West-Berlin 1950; vgl. umfassend Hochgeschwender, Michael, Freiheit in der Offensive? Der Kongreß für kulturelle Freiheit und die Deutschen, München 1998.

[13] Vgl. als Übersicht über die breite Thematisierung von Europa in dieser Zeitschrift: Der Monat. Register der Hefte 1-150. Oktober 1948 bis März 1961 (Bd. I-XXV), Berlin 1962.

[14] Hinzuweisen ist hier etwa auf Franz Borkenau (1900-1957); vgl. Lange-Enzmann, Birgit, Frank Borkenau als politischer Denker, Berlin 1996; Kessler, Mario, Zwischen Kommunismus und Antikommunismus: Franz Borkenau (1900-1957), in: ders. (Hg.), Deutsche Historiker im Exil (1933-1945). Ausgewählte Studien, Berlin 2005, S. 169-196.

[15] Vgl. die Lebenserinnerungen; Franzel, Emil, Gegen den Wind der Zeit. Erinnerungen eines Unbequemen, München 1983.

[16] Vgl. zuletzt Buckard, Christian, Arthur Koestler. Ein extremes Leben 1905-1983, München 2004; Strelka, Joseph P., Arthur Koestler. Autor-Kämpfer-Visionär, Tübingen 2006.

[17] Zit. nach Behn, Hans-Ulrich, Die Regierungserklärungen der Bundesrepublik Deutschland, München 1971, S. 331-333.

[18] Zit. nach Loth (wie Anm. 7), S. 111.

[19] In diesem Sinne betonten etliche Abendland-Ideologen, dass der Bolschewismus auch als Degeneration der westlichen Säkularisierung verstanden werden müsse.

[20] von Habsburg, Otto, Entscheidung um Europa, Innsbruck 1953, S. 20 f.

[21] Vgl. als instruktive Skizze Doering-Manteuffel, Anselm, Wie westlich sind die Deutschen. Amerikanisierung und Westernisierung im 20. Jahrhundert, Göttingen 1999.

[22] Angster, Julia, Konsenskapitalismus und Sozialdemokratie. Die Westernisierung von SPD und DGB, München 2003.

[23] Schildt, Axel, Ende der Ideologien? Politisch-ideologische Strömungen in den 50er Jahren, in: ders./Sywottek, Arnold (Hgg.), Modernisierung im Wiederaufbau. Die westdeutsche Gesellschaft der 50er Jahre, Bonn 1993 (aktualisierte Studienausgabe 1998), S. 627-635.



Literaturhinweise

  • Conze, Vanessa, Das Europa der Deutschen. Ideen von Europa in Deutschland zwischen Reichstradition und Westorientierung (1920-1070), München 2005.
  • Doering-Manteuffel, Anselm, Wie westlich sind die Deutschen? Amerikanisierung und Westernisierung im 20. Jahrhundert, Göttingen 1999.
  • Hochgeschwender, Michael, Freiheit in der Offensive? Der Kongreß für kulturelle Freiheit und die Deutschen, München 1998.
  • Loth, Wilfried, Die Anfänge der europäischen Integration 1945-1950, Bonn 1990.
  • Schildt, Axel, Zwischen Abendland und Amerika. Studien zur westdeutschen Ideenlandschaft der 50er Jahre, München 1999.

Emil Franzel und Arthur Koestler, „Europa ist ein Patient in einer Eisernen Lunge.“ Intellektuelle Konstruktionen (West-) Europas (1950); [Auszüge]

Quelle 1

Emil Franzel: Frankreich und Deutschland als Träger des Abendlandes[1]

„In dem dramatischen Ringen des deutschen Geistes um seine neue abendländische Mission spielt anregend und herausfordernd der französische Geist wieder die Rolle, die er schon in der Gotik für Deutschland hatte. (...) Gewiß ist diese Zusammenfassung keine erschöpfende Wertung der abendländischen Völkersymphonie. Italiener, Spanier, Slawen, die Skandinavier wie die Portugiesen sind aus ihr ebenso wenig wegzudenken wie die beiden großen Völker des Kontinents, von dem engen Zusammenhang der festländischen mit der englischen Kulturgeschichte ganz zu schweigen. Die Motive in dieser Symphonie geben aber in den entscheidenden Partien immer wieder Franzosen und Deutsche an. Zwischen ihnen ist vor allem das wie Ruf und Echo, Motiv und Gegenmotiv wirkende Spiel der Ideen und Formen am stärksten ausgebildet. Ohne sie ist die Geschichte des Abendlandes nicht denkbar, ohne sie aber und ihre Zusammenarbeit hat das Abendland auch keine Zukunft. (...) Das gilt nicht nur auf dem Felde der Macht, wo Frankreichs Sicherheit die Deutschlands, und Deutschlands Schutz den Frankreichs bedeuten, das gilt vor allem im Reiche des Geistes. Soll in der westlichen Hemisphäre das Licht noch leuchten, das einst vom Abendland ausging, dann müssen Frankreich und Deutschland die Flamme hüten, die zu Gottes Ehre und unserem Heil entzündet ward: pro deo amur et pro christian poblo et nostro commun salvament.“

Quelle 2

Arthur Koestler: Das falsche Dilemma[2]

„Die These, die ich Ihnen hier unterbreiten möchte, besagt, dass die Antinomie: rechts oder links, Sozialismus oder Kapitalismus, heute weitgehend ihren Sinn eingebüßt hat und dass, solange Europa in diesen falschen Alternativen stecken bleibt, die alles klare Denken hindern, keine konstruktive Lösung der Probleme unserer Zeit möglich ist. (...) Europa lebt in einem Klima, in dem Worte nicht mehr ernst genommen werden. Oder, um unser früheres Gleichnis zu variieren, wir leben in einer sprachlichen Inflation, die einen Schwarzen Markt der Sprache geschaffen hat, auf dem Worte zu einem illegalen Kurs gehandelt werden, der grundverschieden von ihrem offiziellen Kurs ist. Das gilt nicht nur für den erbärmlichen Schwarzhandel, der jetzt mit Ausdrücken wie „Volksdemokratie“ oder „Friedensoffensive“ getrieben wird. (...) Während die Mehrzahl unserer europäischen Zeitgenossen immer noch von dem überholten Kriegsgeschrei der Rechten und der Linken, hie Kapitalismus, hie Sozialismus, hypnotisiert ist, hat die Geschichte bereits neue Positionen bezogen und uns vor eine neue Alternative gestellt, die alle Grenzen überschneidet. Das Wesen dieses neuen Konfliktes kann in einem neuen Satz zusammengefasst werden: totale Tyrannei gegen relative Freiheit.“

Quelle 3

Arthur Koestler: Für eine europäische Freiheitslegion[3]

„Westeuropa ist ein Patient in einer Eisernen Lunge. Die wirtschaftliche und militärische Unterstützung Amerikas versorgt es mit Sauerstoff, allein kann es nicht leben und atmen. Diese Lähmung beruht weder auf wirtschaftlichen Faktoren noch auf sozialen Spannungen, noch auf dem kommunistischen Schreckgespenst. Das alles sind Symptome der Krankheit, nicht ihre Ursache, die tiefer liegt und zugleich einfacher ist: Europa hat den Glauben an sich selbst verloren. (...) Im größeren Teil Europas ist die Zivilisation, die seine Größe ausmachte, bereits vernichtet und das menschliche Leben zu einer Art Zuchthausregime degradiert worden. Auch der verstümmelte Rest ist zum Untergang verurteilt – wenn nicht ein radikaler politischer und moralischer Umschwung eintritt. Diese Erneuerung, diese geistige Wiedergeburt ist der einzige Exportartikel, der nicht aus Amerika bezogen werden kann. Sie muß aus Europa selbst kommen.“


[1] Franzel, Emil, Frankreich und Deutschland als Träger des Abendlandes, in: Neues Abendland, Jg. 5, 1950, S. 1-4, hier S. 3, 4.

[2] Koestler, Arthur, Das falsche Dilemma, in: Der Monat, Jg. 3 (1950), Heft 22/23, S. 436-441, hier S. 436, 437, 441.

[3] Koestler, Arthur, Für eine europäische Freiheitslegion, in: Der Monat, Jg. 3 (1950), Heft 26, S. 115-119, hier S. 115.


Für das Themenportal verfasst von

Axel Schildt

( 2008 )
Zitation
Axel Schildt, Intellektuelle Konstruktionen (West-)Europas 1950, in: Themenportal Europäische Geschichte, 2008, <www.europa.clio-online.de/essay/id/fdae-1452>.
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