Nikolaj S. Trubeckoj, Ausgewählte Schriften zur Kulturwissenschaft (1920-1927); [Auszüge]
Europa und die Menschheit[1] (1920)
Nicht ohne innere Erregung übergebe ich die vorliegende Arbeit der Öffentlichkeit. Die in ihr ausgesprochenen Gedanken kristallisierten sich in meinem Bewusstsein schon vor mehr als zehn Jahren. (...) Und da ich damals ausschließlich auf Verständnislosigkeit stieß, hielt ich die Zeit zur Veröffentlichung meiner Gedanken für noch nicht gekommen und wartete auf einen günstigeren Zeitpunkt. Wenn ich mich jetzt aber doch entschließe, sie im Druck erscheinen zu lassen, so deshalb, weil meine Grundthesen in der letzten Zeit in Unterhaltungen und Gesprächen immer öfter nicht nur Verständnis, sondern auch Zustimmung finden. Es stellt sich heraus, dass viele schon ganz selbständig zu denselben Ergebnissen gekommen sind wie ich. Offensichtlich ist im Denken vieler Gebildeter eine gewisse Richtungsänderung eingetreten. Der Weltkrieg und besonders der auf ihn folgende "Friede", den man heute noch mit Anführungszeichen schreiben muß, haben den Glauben an die "zivilisierte Menschheit" erschüttert und vielen die Augen geöffnet. Wir Russen befinden uns natürlich in einer besonderen Lage. Wir waren Zeugen des plötzlichen Zusammenbruchs dessen, was wir die "russische Kultur" nannten. Viele von uns überraschte die Schnelligkeit und Leichtigkeit, mit der sich dies vollzog, und viele begannen, über die Ursachen dieser Erscheinung nachzusinnen. (...) Darüber hinaus gehen meine Gedankengänge nicht nur die Russen, sondern auch alle anderen Völker an, die auf die eine oder andere Art die europäische Kultur angenommen haben, ohne selbst aber ihrer Abstammung nach Romanen oder Germanen zu sein.
Erstes Kapitel
Die Positionen, die jeder Europäer in bezug auf die nationale Frage einnehmen kann, sind recht zahlreich; aber sie liegen alle zwischen zwei äußersten Grenzen: dem Chauvinismus auf der einen und dem Kosmopolitismus auf der anderen Seite. Jeder Nationalismus stellt gleichsam eine Synthese von Elementen des Chauvinismus und des Kosmopolitismus dar, einen Versuch der Versöhnung dieser zwei Gegensätze. (...) Man muss nur den Chauvinismus und den Kosmopolitismus schärfer ins Auge fassen, um zu bemerken, dass es keinen grundsätzlichen, radikalen Unterschied zwischen ihnen gibt, dass es sich hier um nicht mehr als zwei Stufen, zwei verschiedene Aspekte ein und derselben Erscheinung handelt. Der Chauvinist geht von dem apriorischen Grundsatz aus, dass sein Volk das beste der Welt sei. Seinem Volk allein komme rechtmäßig der Vorrang und die Herrschaft über die anderen Völker zu; diese hätten sich ihm unterzuordnen, seinen Glauben, seine Sprache und Kultur anzunehmen und mit ihm zu verschmelzen. Alles, was dem endgültigen Triumph dieses großen Volkes entgegensteht, müsse mit Gewalt hinweggefegt werden. So denkt der Chauvinist, und demgemäß handelt er. Der Kosmopolit lehnt wiederum Nationalitätenunterschiede ab; wenn es solche Unterschiede gibt, so seien sie zu vernichten. Die zivilisierte Menschheit solle einheitlich sein und eine einheitliche Kultur haben. Unzivilisierte Völker müssten diese Kultur annehmen, sich ihr anschließen und nach ihrem Eintritt in die Familie der zivilisierten Völker mit diesen zusammen den eigenen Weg des Fortschritts der Welt gehen. Die Zivilisation ist das höchste Gut; nationale Besonderheiten sind in ihrem Namen zu opfern. In dieser Formulierung scheinen sich in der Tat Chauvinismus und Kosmopolitismus scharf voneinander zu unterscheiden. Der erstere postuliert die Herrschaft der Kultur einer ethnographisch-anthropologischen Individualität, der zweite beansprucht die Herrschaft für die Kultur der überethnographischen Menschheit. Betrachten wir jedoch, welchen Inhalt die europäischen Kosmopoliten in die Ausdrücke "Zivilisation" und "zivilisierte Menschheit" hineinlegen. Unter Zivilisation verstehen sie jene Kultur, die die romanischen und germanischen Völker in gemeinsamer Arbeit ausgebildet haben. (...) Bei der Beurteilung des europäischen Kosmopolitismus muss man stets berücksichtigen, dass die Ausdrücke "Menschheit", "gesamtmenschliche Zivilisation" usw. höchst ungenau sind und sich hinter ihnen ganz bestimmte ethnografische Begriffe verbergen. Die europäische Kultur ist nicht die Kultur der Menschheit; sie ist das geschichtliche Erzeugnis einer bestimmten ethnischen Gruppe. (...) Durch die Berührung mit den Denkmälern der griechischen und römischen Kultur rückte dabei die Idee einer übernationalen Weltzivilisation, die der griechisch-römischen Welt eigen war, in den Vordergrund. (...) Die antiken kosmopolitischen Ideen wurden in Europa zur Grundlage der Bildung. Auf dem günstigen Boden eines unbewussten Gefühls einer romanogermanischen Einheit schufen sie die theoretischen Grundlagen des sogenannten europäischen Kosmopolitismus, den man richtiger offen den gesamtromanogermanischen Chauvinismus nennen sollte. (...) Europäer (...), welche die Kultur der sogenannten "Wilden" der romanogermanischen für gleichwertig halten - solche Europäer kennen wir überhaupt nicht. Es gibt sie wohl nicht.
Sechstes Kapitel
Wie kann man nun gegen die unentrinnbare Europäisierung, die wie ein Alp auf uns lastet, ankämpfen? Auf den ersten Blick will es so scheinen, als ob dieser Kampf lediglich in Form eines allumfassenden Volksaufstandes gegen die Romanogermanen realisierbar wäre. Wenn die Menschheit - freilich nicht die, von der die Romanogermanen so gerne sprechen, sondern die wahre Menschheit, die zur Mehrheit aus Slaven, Chinesen, Indern, Arabern, Negern und anderen Stämmen besteht, die alle ohne Unterschiede der Hautfarbe unter dem schweren Joch der Romanogermanen stöhnen und ihre nationalen Kräfte verausgaben, um Rohstoffe für europäische Fabriken zu beschaffen - wenn also die ganze Menschheit sich zum gemeinsamen Kampf gegen ihre romanogermanischen Bedrücker vereinigen würde, so müßte es ihr, sollte man glauben, früher oder später gelingen, das verhaßte Joch abzuschütteln und diese Räuber und ihre ganze Kultur von Antlitz der Erde zu vertilgen. (...) Viele Völker machten sich anfänglich an die Entlehnung der europäischen Kultur in der Absicht, ihr nur das Notwendigste zu entnehmen. Im weiteren Entwicklungsverlauf aber unterlagen alle allmählich der Hypnose des romanogermanischen Egozentrismus: Sie vergaßen ihre anfänglichen Absichten und begannen wahllos alles zu entlehnen, indem sie den vollkommenen Anschluss an die europäische Zivilisation zu ihrem Ideal erhoben. Peter der Große wollte zu Beginn seiner Tätigkeit von den "Deutschen" (was damals sämtliche Fremden aus dem Westen bezeichnete) lediglich die Militär- und Marinetechnik übernehmen; allmählich ließ er sich allerdings vom Prozeß der Entlehnung hinreißen und übernahm vieles, was in unmittelbarer Beziehung auf das Hauptziel überflüssig war. Er blieb sich aber immer bewußt, daß Rußland früher oder später, sobald es einmal aus dem Westen alles übernommen haben würde, was es benötigte, Europa den Rücken kehren und die freie Entwicklung seiner Kultur weiterführen müßte, ohne sich ständig "nach dem Westen auszurichten". Aber er starb, ohne für würdige Nachfolger gesorgt zu haben. So verstrich für Rußland das ganze 18. Jahrhundert in würdeloser, oberflächlicher Nachäfferei Europas. Zu Ende dieses Jahrhunderts hatten romanogermanische Vorurteile die Geister in den oberen Schichten der russischen Gesellschaft schon völlig durchdrungen; das ganze 19. und der Anfang des 20. Jahrhunderts verliefen im Streben nach vollkommener Europäisierung aller Seiten des russischen Lebens. (...)
Das Erbe des Cingis Khan. Ein Blick auf die russische Geschichte nicht vom Westen, sondern vom Osten[2] (1925)
(...) Ein Blick auf die historische Karte reicht aus, um sich davon zu überzeugen, dass fast das gesamte Territorium der heutigen UdSSR einst einen Teil des Mongolischen Reiches bildete, das von dem großen Dschingis Khan gegründet wurde. Einige Teile des früheren Russischen Reiches, die in der nachpetrinischen Zeit angeschlossen wurden - Finnland, Polen, die baltischen Provinzen - gehörten dem Reich Dschingis Chans nicht an; sie sind allerdings auch von Russland abgefallen, weil sie keine historische, natürliche staatliche Bindung an Rußland hatten. (...) Die Angliederung Chivas und Bucharas, die unter den letzten russischen Zaren eine Scheinselbständigkeit hatten, an die UdSSR sowie die Ausrufung einer Sowjetrepublik in der Mongolei sind die Fortsetzung und Verfestigung der historischen Beziehung Russlands zum Reich des Dschingis Khan. (...) Aus historischer Perspektive stellt also jener zeitgenössischer Staat, den man sowohl Rußland als auch die UdSSR nennen kann, einen Teil des großen Mongolischen Reiches dar, welches von Dschingis Chan gegründet worden war. Dennoch läßt sich zwischen Rußland und dem Reich des Dschingis Khan kein Gleichheitszeichen setzten. (...) Hinsichtlich der geschichtlichen Kontinuität stellt Russland nicht das ganze Reich des Dschingis Chan dar, sondern lediglich den Kern dieses Reiches. (...) In geographischer Hinsicht kann das Territorium von Rußland als Kernland des Mongolischen Reiches mit Hilfe des folgenden Schemas definiert werden. Es gibt einen langen, mehr oder minder ununterbrochenen Streifen von waldlosen Ebenen und Hochplateaus, die sich fast vom Pazifischen Ozean bis zur Mündung der Donau hinziehen. Dieser Streifen lässt sich als das "System der Steppe" bezeichnen. (...).
(...) Die Bevölkerung dieses Erdteils (Eurasien) ist nicht einheitlich und gehört verschiedenen Rassen an. Zwischen den Russen auf der einen und den Burjaten oder Samojeden auf der anderen Seite besteht ein sehr großer Unterschied. Kennzeichnend ist indes, daß es zwischen diesen extremen Punkten eine ununterbrochene Reihe von Übergangsformen gibt. In bezug auf den äußeren anthropologischen Typ des Gesichts und des Körperbaus besteht kein deutlicher Unterschied zwischen den Großrussen und den Mordwinen oder Syrjanen (Komi) (...). Ihrem Typ nach sind die Finnen von Wolga und Kama (die Mordwinen, Wotjaken, Tscheremissen) sehr ähnlich den Turkstämmen der Wolga (den Tschuwaschen, Tataren, Meschtscherjaken). Ebenso geht der tatarische Typ allmählich in den Typ der Baschkiren und Kirgisen über, von denen wir durch gleichermaßen schrittweisen Übergang schließlich zum Typ der eigentlichen Mongolen, Kalmücken und Burjaten gelangen.
Das ganze Eurasien im obengenannten Sinne stellt daher eine bestimmte Einheit in geographischer und anthropologischer Hinsicht dar. Das Vorhandensein solcher ihrem natürlichen und wirtschaftlichen Charakter nach unterschiedlicher Teile wie Wälder, Steppen und Berge innerhalb dieser Einheit sowie eine natürliche geographische Verbindung zwischen ihnen erlaubt es, ganz Eurasien als eine autarke Wirtschaftszone zu betrachten. Dank dieser Umstände erscheint Eurasien seinem Wesen nach als geschichtlich dazu prädestiniert, eine staatliche Einheit zu bilden.
Die staatliche Vereinigung Eurasiens war von Anfang an eine historische Notwendigkeit. Zugleich zeigte die Natur Eurasiens selbst die Art und Weise dieser Vereinigung auf. In den ältesten Zeiten konnten nur Flüsse und Steppen als Kommunikationswege dienen; Berge und Wälder waren hierzu wenig geeignet, und die Tundra konnte diesbezüglich überhaupt nicht berücksichtigt werden, denn dieses Gebiet trotzte jedweder menschlichen Befähigung.
(...) Eurasien stellt ein bestimmtes, in geographischer, ethnologischer und wirtschaftlicher Hinsicht einheitliches, integriertes System dar, dessen staatliche Vereinigung historisch notwendig war. Dschingis Chan vollbrachte als erster diese Vereinigung, und nach ihm drang das Bewußtsein einer solchen Einheit in alle Teile Eurasiens vor, obwohl es nicht immer erkennbar blieb. Im Laufe der Zeit begann diese Einheit gestört zu werden. Der russische Staat strebte und strebt instinktiv danach, diese gestörte Einheit wiederherzustellen und ist daher der Erbe, Nachfolger und Fortsetzer der historischen Tat Dschingis Chans.
(...) Die Niederlage der Teilfürstentümer und unabhängigen Städte der Rus' infolge der Mongoleninvasion und der Anschluss dieser Rus' an den Mongolenstaat bildeten die Ursache tiefster Erschütterungen in den Herzen und Köpfen der Russen. Mit der seelischen Depression, einem heftigen Gefühl der Erniedrigung des Nationalstolzes ging ein starker neuer Eindruck von der Größe einer fremden Staatsidee einher. Eine tiefe seelische Erschütterung ergriff alle Russen (...). Die wichtigste und grundlegende Erscheinung jener Zeit war ein überaus starker Aufschwung des religiösen Lebens. Die Tatarenzeit war für Altrußland vor allem eine religiöse Epoche. Das fremde Joch wurde vom religiösen Bewußtsein als Strafe Gottes für Sünden wahrgenommen (...). Zu jener Zeit läßt sich eine lebhafte schöpferische Tätigkeit auf allen Gebieten der religiösen Kunst verzeichnen, einen verstärkten Aufschwung erlebt sowohl die Ikonenmalerei als auch die Kirchenmusik und der Bereich der religiösen Literatur (...) Diese mächtige religiöse Bewegung war eine natürliche Begleiterscheinung jener Neubewertung der Werte, jener Enttäuschung vom Leben, die durch den heftigen Schlag des Tatareneinfalls hervorgerufen worden war. Zugleich kam als Reaktion auf das erdrückende Gefühl der nationalen Erniedrigung ein flammendes Gefühl der Ergebenheit gegenüber dem eigenen nationalen Ideal auf.
(...) Infolge des Tatarenjochs ergab sich nun in Rußland eine recht komplizierte Lage. Parallel mit der Aufnahme der Technik der mongolischen Staatlichkeit musste es zur Aneignung gerade des Geistes dieser Staatlichkeit mit all ihren ideologischen Grundlagen als fremd und dazu noch vom Feind stammend aufgefaßt werden, machte die Größe ihrer Idee, insbesondere verglichen mit dem kleinkarierten Charakter der Vorstellungen von Staatlichkeit zur Zeit der Teilfürstentümer, dennoch einen starken Eindruck, auf den man nun irgendwie reagieren musste. (...) Die tatarische Staatsidee war inakzeptabel, da sie fremd war und vom Feind stammte. Sie war jedoch eine große Idee mit einer Anziehungskraft, der man sich nicht entziehen konnte. Folglich mußte man die in ihrer Fremdheit und im feindlichen Charakter liegende Inakzeptanz um jeden Preis überwinden. In anderen Worten, man mußte sie von ihrem Mongolentum trennen, sie mit der Orthodoxie verbinden und zur eigenen, russischen Staatsidee erklären. Bei der Erfüllung dieser Aufgabe wandte sich der russische Nationalgedanke den byzantinischen Staatsideen und Traditionen zu und fand darin das geeignete Gut, der mongolischen Staatlichkeit orthodoxen und russischen Charakter zu verleihen. (...) Auf jeden Fall ist zu berücksichtigen, daß Rußland lange vor dem Tatarenjoch das orthodoxe Byzanz kannte und daß in der Zeit des Jochs die Größe von Byzanz bereits zu schwinden begann. Zugleich nahmen die byzantinischen Staatsideologien, die zuvor keine Verbreitung in Rußland gefunden hatten, gerade zur Zeit des Jochs im russischen Nationalbewußtsein eine zentrale Stellung ein, aus welchem Grund auch immer. Das zeigt deutlich, daß nicht das Prestige von Byzanz die Übernahme dieser Ideologien bedingte, sondern daß man vielmehr die byzantinischen Ideologien nur dazu gebrauchte, die ihrer Herkunft nach mongolische Staatsidee, mit der Rußland real konfrontiert wurde, sobald es Teil des Mongolenreichs und dessen Provinz wurde, mit der Orthodoxie zu verbinden und sich auf diese Weise anzueignen.
(...) Die Moskauer Großfürsten wurden schrittweise zu lebendigen Trägern der neuen russischen Staatlichkeit. Inwieweit sie von Anfang an wirklich die "Sammler des russischen Landes" waren, läßt sich heute freilich kaum entscheiden. Möglicherweise paßten sie sich zunächst an das mongolische Regime an und versuchten dabei, möglichst viel persönlichen Vorteil daraus zu ziehen, indem sie sich von einfachem Egoismus und nicht von patriotischen Überlegungen leiten ließen. Später begannen sie, mit den Tataren zusammenzuarbeiten, und verinnerlichten staatliche Vorstellungen größeren Ausmaßes, wobei sie sich vielleicht Rußland noch nicht anders denn als Provinz des Mongolischen Staates vorstellten. Schließlich begannen sie, bewußt gegen den Chan der Goldenen Horde zu arbeiten, und versuchten, selbst seinen Platz dem russischen Land gegenüber einzunehmen, später dann auch gegenüber den anderen Ländern, die Untertanen der Goldenen Horde waren.
(...) Ein wichtiger historischer Moment war (...) die Ausbreitung der Macht Moskaus auf einen bedeutenden Teil des Territoriums, das einst der Goldenen Horde untertan gewesen war, in anderen Worten - die Ersetzung des Chans der Goldenen Horde durch den Moskauer Fürsten, mit der Überführung des Chansitzes nach Moskau. Dies fand unter Ioann (Ivan, E.S.) dem Schrecklichen nach der Eroberung von Kazan', Astrachan' und Sibirien statt.
(...) Obwohl sich die Begründung der Moskauer (Staatlichkeit) von jener der mongolischen deutlich unterscheidet, lassen sich zwischen den beiden Ideologien dennoch Merkmale einer inneren Verwandtschaft feststellen. Man kann gewiß annehmen, daß die Moskauer Staatlichkeit nicht nur im Hinblick auf territoriale Aspekte und einige Besonderheiten der staatlichen Organisation die Nachfolgerin der mongolischen war, sondern auch im Hinblick auf ihren ideologischen Gehalt. Hier wie dort erschien als Staatsgrundlage und Merkmal der Zugehörigkeit zum Staat eine bestimmte Form des Alltagslebens, die mit einer bestimmten psychologischen Position untrennbar verbunden war. Im Reich Dschingis Khans bildete dies die Lebensordnung der Nomaden, im Moskauer Staat das orthodoxe bekennende Alltagsleben. (...) Hier wie dort gründete sich die staatliche Disziplin auf der ausnahmslosen Unterwerfung aller Staatsangehörigen und des Monarchen selbst einem nicht irdischen, sondern göttlichen Prinzip, und die Subordination des Menschen einem anderen und aller Menschen dem Monarchen wurde als Folge der universellen Unterwerfung unter das göttliche Prinzip begriffen, dessen irdisches Instrument der Monarch war. (...) Die Rolle der nomadischen Alltagsordnung in Dschingis Chans System, die mit keiner bestimmten Religion, wohl aber mit bestimmten ethnographischen und geographischen Bedingungen verbunden war, wurde im Moskauer Staat von dem orthodoxen bekennenden Alltagsleben übernommen, einem organischen Zusammenfließen des Alltagslebens mit einer bestimmten Religion, das im Grunde von keinen ethnographischen und geographischen Bedingungen abhängig war. (...) Die Merkmale, durch die sich das russische staatlich-ideologische System von dem Dschingis Chans unterschied, bildeten den Vorzug der russischen Staatlichkeit gegenüber der mongolischen: Denn die Schwächen des mongolischen Systems bestand ja im Fehlen einer festen Verbindung zwischen der ihrem Charakter nach religiösen Staatsideologie und den Dogmen einer bestimmten Religion, in der Kluft zwischen einer breit entfalteten Staatlichkeit und der primitiven Formlosigkeit des Schamanismus, in der praktischen Unzulänglichkeit ethnographisch und geographisch begrenzter und historisch determinierter nomadischer Lebensordnung. Die Moskauer Staatlichkeit war auch frei von jenem Nachteil der mongolischen, den der Herrschaftsanspruch auf die alten asiatischen Reiche darstellte; denn nach etwas, was man zwar erobern, aber nicht behalten kann, zu greifen, schwächt einen Staat zweifellos, und Dschingis Chans Versuch eines panasiatischen Imperialismus führte unvermeidlich zur Unterwerfung seines Reichskerns unter den Kultureinfluss der eroberten Peripherien. Dabei entstand eine Inkongruenz zwischen den Zentren der Macht und denjenigen der Kultur. Durch den Anschluß an Moskau erlangte die eurasische Welt zum erstenmal ihre kulturelle Eigenständigkeit, vergleichbar mit jener der alten asiatischen Reiche, Chinas und Persiens. Und diese kulturelle Eigenständigkeit verlieh dem Staat Festigkeit, Stabilität und Widerstandskraft.
(...) Die Moskauer Staatlichkeit stand vor einer Aufgabe, die dem mongolischen Reich unbekannt war - der Verteidigung gegen den Westen. Ein bedeutender Teil Eurasiens, die ganze Ukraine und Weißrußland, geriet unter die Herrschaft des katholischen Polens, dieses europäischen Vorpostens im Osten, und es gelang nur mit großer Mühe, die Gebiete dieser ursprünglich eurasischen und russischen Länder mit der eurasischen Welt unter Moskau wiederzuvereinigen. Es gab jedoch nicht allein Polen. Im Nordwesten kündigte sich die Gefahr einer schwedischen Invasion an, und auch andere Länder, die keine unmittelbaren Nachbarn Rußlands waren, streckten über den Seehandel gierig ihre Hände nach den Reichtum Rußland-Eurasiens aus. Man mußte sich notgedrungen verteidigen, was Rußland vor eine weitere Notwendigkeit stellte - sich europäische Militärtechnik anzueignen. Die Militärtechnik bedingte ihrerseits die Notwendigkeit der Aufnahme der industriellen Technik. Die Lage war kompliziert. Einerseits mußte man zu Verteidigungszwecken etwas von Europa übernehmen, etwas dazulernen; andererseits bestand die Befürchtung, in kulturelle und geistige Abhängigkeit von Europa zu geraten. Da die Völker Europas nicht orthodox waren, sich aber zu Anhängern der christlichen Glaubenslehre zählten - womit sie vom russischen Standpunkt aus Häretiker waren -, wurde der Geist Europas insgesamt von den Russen als häretisch, sündhaft, antichristlich und satanisch verstanden. Die Gefahr, von einem solchen Geist verseucht zu werden, war also besonders groß.
Die Moskauer Zaren waren sich über den komplizierten Charakter dieser Lage im klaren und zögerten lange, sich an die Erlernung technischer Fähigkeiten zu machen. Sie beschränkten sich auf halbherzige Maßnahmen, nahmen europäische Techniker, Meister und Lehrer in ihre Dienst, hielten sie jedoch isoliert und achteten streng darauf, daß sie möglichst wenig Umgang mit den Russen hatten. Das konnte freilich die Probleme nicht lösen. Früher oder später war man gezwungen, entschieden den Weg zur Übernahme europäischer Technik einzuschlagen und zugleich radikale Vorkehrungen gegen die Ansteckung mit dem europäischen Geist zu treffen.
Die Lösung der Aufgabe, sich die europäische Technik anzueignen, übernahm Peter I. Er ließ sich von ihr so leiten, daß diese Aufgabe für ihn fast zum Selbstzweck ausartete, und er ergriff auch keine Maßnahmen gegen die Verseuchung durch den europäischen Geist. Die Aufgabe wurde genauso gelöst, wie man sie nicht hätte lösen sollen, und es kam gerade das zustande, was am meisten zu befürchten war: Die äußere Stärke wurde um den Preis der vollständigen kulturellen und geistigen Versklavung Rußlands durch Europa erkauft.
(...) Peter I. gab also den Ton für die gesamte nachfolgende Geschichte Rußlands an. Mit ihm beginnt eine neue Periode, die man als Periode der antinationalen Monarchie bezeichnen kann. (...) Unter solchen Umständen war Rußland nicht in der Lage, sich auf seinem natürlichen, vorgezeichneten Weg weiterzuentwickeln. In der ganzen nachpetrinischen Epoche folgte Rußland schon nicht mehr seinem natürlichen historischen Weg, sondern wich ungerechtfertigterweise davon ab, zugunsten von falschen Vorstellungen über die russische Geschichte. Dies zeigte sich gleichermaßen in der Außen- wie auch Innenpolitik. In beiden Bereichen ließ sich die oberste Macht, ihrem Wesen nach antinational, nicht von den eigenen historischen Traditionen, sondern vom Vorbild der europäischen Staaten leiten.
Über die Sowjetmacht (1923)[3]
(...) Das Handeln der Sowjetmacht bleibt die Fortsetzung jenes Kurses, der bereits von Peter I. eingeschlagen wurde. (...) Für Peter I. und die nachfolgenden Monarchen bestand das Ideal in der Schaffung eines großen europäischen Staates aus russischem Material, der in nichts den anderen europäischen Staaten nachstehen sollte. Die gegenwärtige Regierung strebt dagegen an, aus demselben Material gerade jenen sozialistischen Staat zu errichten, von dem die europäischen Sozialisten schon seit langem träumen. In beiden Fällen handelt es sich um ein fremdes Ideal, und seine Beziehung zum russischen Material ist keine natürliche, sondern eine künstliche. Um sich diesen Idealen zu nähern, ist es in beiden Fällen nötig, alles zu zerstören und gegen den natürlichen Widerstand des russischen Materials, das den fremden Schablonen nicht entspricht, vorzugehen. (...) In der Innenpolitik läßt sich die Fortsetzung desselben Gehabes wie in der nachpetrinischen Epoche beobachten. Aus dem "dummen Russen" einen Europäer zu machen, ist schwierig; zunächst muß man die Dummheit mit der Keule aus ihm herausprügeln, ihn dazu zwingen, sein eigenes nationales Antlitz zu vergessen. (...) Der Unterschied betrifft nur die Ausmaße des Ganzen, denn während Peter I. sein Ziel auf die Europäisierung des Adels beschränkte, im Glauben, dieser werde die Europäisierung schon selbst in den anderen Bevölkerungsschichten fortsetzen, griff sich die Sowjetmacht die Volksmassen unmittelbar heraus. (...) Die Sowjetmacht erscheint nicht als Widersacher, sondern vielmehr als Fortsetzerin der gesamten antinationalen Europäisierungspolitik der nachpetrinischen Monarchie. Und wie merkwürdig und paradox dies auch scheinen mag, so liegt der Grund dafür darin, daß sich die Sowjetmacht zum Kommunismus bekennt. Würde sie sich vom Kommunismus, der von der europäischen Zivilisation hervorgebracht wurde, lossagen, so wäre ihre Verbindung mit dieser Zivilisation beendet, und die Arbeit an der Festigung und Entwicklung der national-historischen Existenz Rußlands könnte einsetzen. Das wäre in der Tat der Beginn einer neuen Ära in der russischen Geschichte, der Epoche der bewußten Verwirklichung der nationalen historischen Aufgaben und der Schaffung einer neuen Kultur nicht nach fremden europäischen Mustern und Rezepten, sondern von innen heraus, entsprechend den Aufgaben und Besonderheiten des realen Rußlands (...). Wie vor der Revolution bleibt Rußland eine Provinz der europäischen Zivilisation, zudem noch ein Experimentierfeld für die riskante Anwendung von Theorien träumerischer europäischer Publizisten, für Experimente, für die den Europäern ihr eigenes "wertvolles" menschliches Material allzu schade ist. (...) Mit der Zerstörung der geistigen Grundsätze des russischen Lebens und der nationalen Eigenart, mit der Einführung der in Europa und Amerika praktisch vorherrschenden materialistischen Weltanschauung in Rußland, mit der Erziehung Rußlands nach Ideen, die von europäischen Theoretikern entworfen wurden und harmonisch aus dem Boden der europäischen Zivilisation hervorgingen, verfestigt die kommunistische Regierung das Land als Provinz der europäischen Zivilisation und bestätigt die geistige Vereinnahmung Rußlands durch Europa, eine Vereinnahmung, deren Anfang Peter I. machte. Und dies ist letzten Endes von Vorteil für die Europäer. Der insgeheime Wunsch jedes Europäers ist es, alle Völker des Erdballs ihrer Eigenart berauben, alle eigenen und selbständigen Kulturen und Antlitze zu zerstören, ausgenommen das eine, europäische, das im Grunde genommen auch ein nationales ist (denn es wurde von den keltisch-germanischen Völkern geschaffen, die eine gemeinsame Geschichte hatten ...), das jedoch den Anspruch auf universale Geltung erhebt. Geht dieser Traum, in der ganzen Welt eine "universelle" (romano-germanische) Kultur einzurichten, in Erfüllung, so wird er alle Völker der Welt zu Europäern zweiter und dritter Klasse stempeln (...).
Werfen wir nun einen flüchtigen Blick zurück auf das zuvor gezeichnete Bild der historischen Entwicklung Rußland-Eurasiens. Die eurasische Welt stellt eine in sich geschlossene und vollendete geographische, ökonomische und ethnische Einheit dar, die sich sowohl vom eigentlichen Europa als auch vom eigentlichen Asien unterscheidet. Die Natur selbst weist die Völker des eurasischen Territoriums auf die Notwendigkeit hin, sich in einem Staat zu vereinen und ihre jeweiligen Nationalkulturen gemeinsam in der Zusammenarbeit zu schaffen. Die staatliche Vereinigung Eurasiens wurde erstmals von Turanern in der Person Dschingis Chans vollbracht, und anfangs waren die Träger der gemeineurasischen Staatlichkeit turanische Nomaden. Dann, als das staatliche Pathos der Turaner seinen Niedergang erfuhr und der national-religiöse Aufstieg des russischen Stammes seinen Anfang nahm, ging die gemeineurasische Staatlichkeit von Turanern auf die Russen über, die ihre Nachfolger und Träger wurden. (...)
Russische Selbsterkenntnis: Über das turanische Element in der russischen Kultur[4]
(...) Um die Frage zu beantworten, auf welche Weise und worin sich der turanische psychologische Typ im russischen Nationalcharakter widerspiegeln könnte und welche Bedeutung diese Merkmale turanischer Psyche in der russischen Geschichte hatten, muss man sich zunächst den turanischen psychologischen Typ deutlich und konkret (...) vorstellen. Ein typischer Vertreter der turanischen Psyche zeichnet sich im Normalzustand durch seelische Klarheit und Ruhe aus. (...) [Es] fließen äußere Eindrücke, Gedanken, Handlungen und Alltag zu einem einheitlichen und trennbaren Ganzen zusammen. Die Folge sind Klarheit, Ruhe und eine Art Autarkie. (...) Was den sozialen und kulturellen Wert des turanischen psychologischen Typs betrifft, so ist dieser durchaus als positiv zu erachten. Die turanische Psyche verleiht einer Nation kulturelle Stabilität und Kraft, verfestigt die kulturhistorische Kontinuität und schafft allgemein günstige Bedingungen für einen sparsamen Umgang mit nationalen Ressourcen. (...) Diese positive Seite der turanischen Psyche hat sich in der russischen Geschichte zweifellos günstig ausgewirkt. Äußerungen gerade dieses normalen Aspekts der turanischen Psyche lassen sich unschwer in der vorpetrinischen Moskauer Rus' erkennen. Die ganze Lebensordnung, in der der Glaube und der Alltag eine Einheit bildeten, das "Glaubensbekenntnis durch Alltagsleben", bei dem sowohl die staatlichen Ideologien als auch die materielle Kultur, die Kunst, die Religion untrennbare Bestandteile eines einheitlichen Systems waren, das zwar keinen theoretischen Ausdruck fand und nicht bewußt formuliert wurde, jedoch im Unterbewußtsein jedes Einzelnen vorhanden war und sowohl sein Leben als auch die Existenz der nationalen Einheit bestimmte - all das trägt gewiß den Ausdruck des turanischen psychologischen Typs. (...) Wenn einige oberflächliche ausländische Beobachter im alten Rußland nichts anderes zu bemerken vermochten als die unterwürfige Haltung des Volkes gegenüber den Vertretern der Macht und eine ebensolche dieser Vertreter dem Zaren gegenüber, so war diese Beobachtung ohne jeden Zweifel falsch. Denn bedingungslose Unterordnung stellt den Kern der turanischen Staatlichkeit dar (...). (...) Etwa zweihundert Jahre (nach der mongolischen Herrschaft) später erschien Peter der Große und "stieß das Fenster nach Europa auf". Durch dieses Fenster hielten die europäischen Ideen Einzug. Es begann die Europäisierung der herrschenden Klasse und verstärkte Aufnahme von Ausländern in diese. Das wohlproportionierte "unterbewußte philosophische System", welches die Religion, Kultur, das Alltagsleben und den staatlichen Bau des Moskauer Rußland zu einem Ganzen vereinte und auf dem sich das gesamte russische Leben gründete, begann zu zerfallen. Infolgedessen mußte allein der rohe, gewaltsame Zwang als Grundlage der Staatlichkeit dienen. (...) Es ist sicherlich nicht übertrieben, diese Periode der russischen Geschichte als Epoche des "europäischen" oder "romanogermanischen Jochs" zu bezeichnen. Nun ist Rußland aus ihm herausgetreten, jedoch in der neuen Gestalt der UdSSR. Wie der Bolschewismus das Ergebnis des zweihundertjährigen romano-germanischen Jochs ist, war auch die Moskauer Staatlichkeit das Ergebnis des tatarisch-mongolischen Jochs. Der Bolschewismus zeigt deutlich, was Rußland in jener Zeit von Europa gelernt hat, auf welche Weise es die Ideale der europäischen Zivilisation verstanden hat und wie diese Ideale aussehen, wenn man sie in die Praxis umsetzt. Er ist das Ergebnis, aufgrund dessen man über den schädlichen oder fördernden Charakter des romanogermanischen Jochs urteilen muß. Und wenn man nun diese zwei Schulzeugnisse miteinander vergleicht, das Zeugnis der tatarischen Schule und das Zeugnis der romanogermanischen Schule, so gelangt man unfreiwillig zu dem Schluß, daß die tatarische Schule ja gar nicht so schlecht war.
[1] N.S. Trubeckoj, Evropa i celovecestvo, in: Vestnik Moskovskogo Universiteta, serija 9 (filologija), Nr. 1, 1992, S.66-88, Nr. 2, S.71-90.
[2] N.S. Trubetskoj, Nasledie Cingischana. Vzgljad na russkuju istoriju ne s Zapada, a s Vostoka (1925), in: Vestnik Moskovskogo universiteta, serija 9, Nr. 4, 1991, S.33-78.
[3] N.S. Trubeckoj, U dverej (Reakcija? Revoljucija?), in: Evrazijskij vremennik, vol. 3, Berlin 1923, S.107-124.
[4] N.S. Trubeckoj, O turanskom elemente v russkoj kul'ture, in: Vestnik Moskovskogo Universiteta, serija 9, Nr. 6, 1990, S.60-77.