Publizistische Mobilmachung. Britische Intellektuelle für den Krieg 1914[1]
Von Peter Hoeres
Der Aufruf „An die Kulturwelt!“, der im Oktober 1914 ein Bekenntnis von 93 herausragenden deutschen Geistesgrößen zum deutschen Militarismus publik machte und so verheerende Folgen für das Ansehen der deutschen Wissenschaft zeitigte,[2] war nicht präzedenzlos. Trotz seiner offensiven Sprache war er letztlich defensiv motiviert, er war eine Antwort auf zahlreiche öffentliche und private Anklagen, welche die hoch angesehenen deutschen Wissenschaftler und Schriftsteller seit August 1914 erreicht hatten. Unter diesen Anklagen stach die Erklärung britischer Intellektueller vom 18. September 1914 „Britain's Destiny And Duty. Declaration By Authors. A Righteous War” aus mehreren Gründen heraus: sie war von der Crème de la crème der britischen Literaten unterzeichnet worden, an sehr prominenten und angesehen Publikationsorten erschienen, und sie enthielt eine sehr erfolgreiche und bildgewaltige Argumentation.
Als seine erste Maßnahme hatte der liberale Journalist und Politiker Charles Masterman, der Ende August bestellte Leiter des neuen War Propaganda Bureau im Wellington House, zu einer Konferenz bedeutender britischer Schriftsteller am 2. September 1914 geladen. Die vorwiegend liberalen Literaten, die zum Teil erst durch Außenminister Edward Greys Unterhaus-Rede vom 3. August und den deutschen Vormarsch samt der ihn begleitenden Ausschreitungen in Belgien zu Kriegsbefürwortern geworden waren, sollten einen Beitrag zur patriotischen Sicherung des britischen Burgfriedens leisten und vor allem in den USA die Wirkung deutscher Propaganda übertrumpfen. Die – diskrete, abgestimmte und vorsichtige – Einflussnahme in den USA war überhaupt der Hauptzweck des War Propaganda Bureau, dem auch seine größte Abteilung unter Sir Gilbert Parker diente. Zu Zeiten eines sehr hohen Sozialprestiges und einer auch in den USA großen Popularität der britischen Schriftsteller kam dem gedruckten Wort dieser „Men of letters“ besondere Bedeutung zu, später setzte Wellington House aber auch auf Kriegsmalerei und den Film.
Gekommen waren zur Konferenz u.a. der Father Brown-Erfinder Gilbert Keith Chesterton, der Sherlock Holmes-Schöpfer Arthur Conan Doyle, H.G. Wells und der Whig-Historiker George Macaulay Trevelyan. Der liberale Altphilologe Gilbert Murray entwarf nun den Resolutionstext, der Herausgeber des Punch, Owen Seaman, und der Schriftsteller Anthony Hope Hawkins redigierten den Text. Von der Initiative und Mitwirkung von Wellington House war natürlich nicht die Rede. Schließlich unterschrieben 52 Kollegen, die nicht alle bei der Konferenz dabei gewesen waren. Veröffentlicht wurde das Manifest am 18. September 1914 in der britischen Times und am selben Tag als „special cable“ noch in der New York Times, in deren Magazin es genau einen Monat später noch einmal mit den faksimilierten Unterschriften erschien. Die Erklärung fand also ihr Publikum in der angesehensten britischen bzw. amerikanischen Zeitung, im Land eines Hauptkriegsgegners der Mittelmächte und des größten neutralen Landes.
Entscheidend war – und dies ist eine Parallele zum deutschen Aufruf mit seinen vielen liberalen Unterzeichnern – dass nicht nur Autoren den Aufruf unterzeichnet hatten, von denen man es erwartet hätte (wie Doyle, der sich schon als Propagandist des Burenkrieges Meriten erworben hatte, oder der Imperialist Rudyard Kipling), sondern zahlreiche liberale, kriegskritische Autoren wie Murray oder die Schriftsteller John Galsworthy und Arnold Bennett. Zudem verlieh der durch seine Kriegsszenarien aus der Vorkriegszeit bekannte H. G. Wells der Erklärung eine besondere Dignität. Die Autoren bezeichneten sich, dies noch einmal besonders herausstreichend, als Angehörige äußerst unterschiedlicher Richtungen („most divergent political and social views“). Damit wurde die Burgfriedensrhetorik beschworen, die im Sommer 1914 allerorts zu hören war.
Statt nun aber wie die Deutschen einen halben Monat später im Aufruf „An die Kulturwelt!“ schlicht „es ist nicht wahr“ zu proklamieren, verwies die Declaration immerhin auf das britische Weißbuch zum Kriegsausbruch, wobei trickreich noch von der „full correspondence“, die dort publiziert sei, gesprochen wurde. Und sie nahm im Geleitzug der so erfolgreichen Rede Außenminister Greys vom 3. August, die nicht nur das Unterhaus, sondern auch zahlreiche Kriegs- und Russlandkritiker auf Kriegskurs gebracht hatte,[3] das Argument des britischen Auftrags der Verteidigung des Rechts kleinerer Nationen auf. Jetzt konnten zudem die deutschen Kriegsgräuel in Belgien mit deutschem Größenwahn in Zusammenhang gebracht werden. Zugleich klang die im Krieg in Großbritannien außerordentlich populäre Zwei-Deutschland-Theorie an, die Unterscheidung zwischen einem bewunderungswürdigen Kultur-Deutschland von einem zu bekämpfenden, militaristischen Preußen-Deutschland, genau jene Unterscheidung, welche die Kulturkrieger des deutschen Oktober-Aufrufes dann verwarfen. Die Declaration fokussierte mit der gesammelten Autorität ihrer Unterzeichner aber wohl am eindrucksvollsten das britisches Sendungsbewusstsein („destiny and duty“) auf den Schutz des französischen Partners, des überfallenen neutralen Belgien und seiner Zivilbevölkerung sowie auf die Abwehr einer Hegemonie des schlechteren Teils Deutschlands, d.h. einer Unterwerfung Europas unter die militaristische und autoritären Kaste Preußens. Diese Argumentation ließ sogar die heftig umstrittene Allianz mit dem russischen Zaren als Notwendigkeit erscheinen. Der Duktus ist offensiv, betont wird die deutschlandfreundliche und pazifistische Grundhaltung vieler Autoren, die zum „righteous war“ angesichts des deutschen Vorgehens nicht als Widerspruch gesehen wird.
In der New York Times wurde das Manifest unter der plakativen Überschrift „British Authors condemn Germany“ gedruckt und noch erklärend hinzugefügt: „Some were Pro-German, but the ‘Ferocity’ with Which Belgium Was Treated Has Changed That.” Einen Monat später wurde das Dokument in der New York Times als „one of the most interesting documents brought forth about the war“ bezeichnet. Zweifellos war ihm größerer Erfolg als dem deutschen Aufruf „An die Kulturwelt!“ beschieden, und er brachte die Autoren auch weniger in Misskredit, als es bei dem deutschen Aufruf der Fall war. Neben einer in den USA, aber wegen des deutschen Angriffs auf Belgien und der lange gehörten deutschen Säbelrasselei auch bei den anderen Neutralen generell günstigeren Stimmung für die alliierte Sache, trugen dazu auch der mehr argumentative, von der persönlichen Überzeugung der Autoren zeugende Duktus der Declaration bei, während der deutsche Aufruf apodiktisch-proklamatorisch daherkam. Zudem konnte die britische Erklärung mit dem Schreckbild des preußischen Militarismus ein schon länger grassierendes Feindbild beschwören. Dieses Bild war in der Vorkriegszeit nicht nur durch die zahlreichen Spionage- und Invasionsromane, sondern auch durch den viel gelesenen Historiker John Adam Cramb (1861-1913) popularisiert worden.
Trotzdem ließen sich nicht alle in diesen Argumentationsstrudel ziehen. Der in Cambridge lehrende Philosoph Bertrand Russell schenkte der Gräuelpropaganda wenig Glauben und opponierte konsequent gegen den Krieg. In einem Brief an seine alte amerikanische Freundin Lucy Donelly ließ Russell 14. Dezember 1915 seiner Verachtung für Murray wegen dessen Engagement im War Information Bureau und der Unterzeichnung der Times-Resolution vom 18. September freien Lauf.[4] Freilich wurde Russell zur Zielscheibe akademischer und staatlicher Repressionen, die an seiner Position jedoch nichts änderten. Viele der Unterzeichner stellten sich dagegen, zum Teil auch aus finanziellen Nöten, weiter dem Wellington House zur Verfügung, so der Literaturkritiker William Archer, Bennett, Hope Hawkins, Murray (mit einer einflussreichen Rechtfertigungsschrift Greys) und H.G. Wells, der Parolen wie „the War that will end war“ oder „we are fighting to end Kaiserism and Krupism for ever and ever“ erfand. Bennett und Wells arbeiteten 1918 dann sogar als Staatsbedienstete im neuen Ministery of Information.
Beide Aufrufe, der britische und der deutsche, sind nur zwei, wenn auch besonders prominente Belege für Tausende von Erklärungen, Artikel, Briefen, Borschüren und Bücher, mit denen sich die geistigen Eliten der kriegführenden Länder in einen beispiellosen Kulturkrieg warfen. Freilich markierte dieser Kulturkrieg gerade in Großbritannien auch einen Wendepunkt in der sozial-moralischen Stellung der Schriftsteller, denn mit Kriegsende war auch die große Zeit des politischen Einflusses der Literaten vorbei.
[1] Essay zur Quelle: „Britain's Destiny And Duty. Declaration By Authors. A Righteous War“, Famous British Authors Condemn Germany and Defend England´s War (18. September 1914).
[2] Vgl. vom Bruch, Rüdiger: Geistige Kriegspropaganda. Der Aufruf von Wissenschaftlern und Künstlern an die Kulturwelt. In: Themenportal Europäische Geschichte (2006), URL: http://www.europa.clio-online.de/2006/Article=154. Ferner: Der Aufruf der 93 "An die Kulturwelt!" (1914). In: Themenportal Europäische Geschichte (2006), URL: http://www.europa.clio-online.de/2006/Article=63.
[3] Vgl. Great Britain and European Powers. Statement by Sir Edward Grey [3. August 1914], in: The Parliamentary Debates (Official Report). Fifth Series, Volume LXV: Fourth Session of the Thirtieth Parliament of the United Kingdom of Great Britain & Ireland. 5 George V. House of Commons. Volume of Session 1914, Comprising period from Monday, 20th July, to Monday 10th August, 1914, London [o. J.], Sp. 1809-1827.
[4] Vgl. The Selected Letters of Bertrand Russell. The Public Years, 1914-1970, unter Mitwirkung von Alison Roberts Miculan, hg. von Nicholas Griffin, London, New York 2001, Brief Nr. 249, S. 23f.
Literaturhinweise:
Hoeres, Peter, Krieg der Philosophen. Die deutsche und die britische Philosophie im Ersten Weltkrieg, Paderborn u. a. 2004.
Wallace, Stuart, War and the Image of Germany. British Academics 1914-1918, Edinburgh 1988.
Wright , D. G., The Great War, Government Propaganda and English ‘Men of Letters’ 1914-16, in: Literature and History 7 (1978), S. 70-100.