Die Hinrichtung Francisco Ferrers. Ein Fall für die europäische Öffentlichkeit im frühen 20. Jahrhundert?

Ausgelöst durch die Mobilmachung von Reservisten für den spanischen Marokkokrieg brachen im Juli 1909 in der so genannten Semana Trágica in Barcelona und Umgebung gewalttätige Ausschreitungen aus. Die Gewalt war vor allem antiklerikaler Natur, sie richtete sich gegen Kirchen und kirchliche Einrichtungen, welche geplündert, geschändet und angezündet wurden. In der nachfolgenden Niederschlagung des Aufstands wurde Francisco Ferrer y Guardia als angeblicher Anführer verhaftet, durch ein Kriegsgericht verurteilt und am Morgen des 13. Oktober 1909 in der Festung Montjuich hingerichtet. Daraufhin erhoben sich in ganz Europa Proteste, da man davon ausging, dass Ferrer unschuldig sei und das juristische Verfahren kritisierte. Die Hinrichtung wurde zum Fall Ferrer. Er ist ein Beispiel für die zahlreichen Skandale und Affären, die insbesondere um die Jahrhundertwende 1900 internationale Mobilisierungen auslösten. [...]

Die Hinrichtung Francisco Ferrers – Ein Fall für die europäische Öffentlichkeit im frühen 20. Jahrhundert?[1]

Von Lisa Dittrich

Ausgelöst durch die Mobilmachung von Reservisten für den spanischen Marokkokrieg brachen im Juli 1909 in der so genannten Semana Trágica in Barcelona und Umgebung gewalttätige Ausschreitungen aus. Die Gewalt war vor allem antiklerikaler Natur, sie richtete sich gegen Kirchen und kirchliche Einrichtungen, welche geplündert, geschändet und angezündet wurden. In der nachfolgenden Niederschlagung des Aufstands wurde Francisco Ferrer y Guardia als angeblicher Anführer verhaftet, durch ein Kriegsgericht verurteilt und am Morgen des 13. Oktober 1909 in der Festung Montjuich hingerichtet.[2] Daraufhin erhoben sich in ganz Europa Proteste, da man davon ausging, dass Ferrer unschuldig sei und das juristische Verfahren kritisierte. Die Hinrichtung wurde zum Fall Ferrer. Er ist ein Beispiel für die zahlreichen Skandale und Affären, die insbesondere um die Jahrhundertwende 1900 internationale Mobilisierungen auslösten.[3] Am bekanntesten ist sicherlich die Dreyfus-Affäre. Sie füllte über mehrere Jahre die Spalten der europäischen Presse.[4] Bei der Dreyfus-Affäre wie auch im Fall Ferrer stritt man über Normen und Werte, welche eine europäische bzw. universelle Gültigkeit haben sollten und bis heute zum europäischen Kulturkanon gerechnet werden. Den Entwürfen einer europäischen Wertegemeinschaft und der Transnationalisierung der Öffentlichkeit waren 1909 allerdings gewisse Grenzen gesetzt.

Gleichwohl lässt sich am Fall Ferrer die zunehmende Vernetzung der Kommunikation in Hinblick auf Presse und Publizistik sowie zivilgesellschaftlicher Organisationen im 19. Jahrhundert beobachten. Diese konnten in konkreten Fällen zu einer momenthaften Verdichtung einer europäischen (Teil-)Öffentlichkeit führen trotz der verstärkten nationalen Orientierung in dieser Zeit, die in der Forschung immer wieder hervorgehoben wird.[5] Die Proteste wurden 1909 wie in vielen anderen Fällen von einer kleinen Gruppe angestoßen. Ferrer hatte sich während seines Exils in Frankreich einige Jahre zuvor und durch seine internationalen Aktivitäten zur Förderung laizistischer Erziehung ein Netzwerk von Republikanern, Anarchisten und Freidenkern aufgebaut, das die ersten Mobilisierungen organisierte. Die Proteste griffen dann auf das gesamte linke Spektrum der Gesellschaften über. Es engagierten sich Liberale, Freimaurer, Freidenker, Republikaner, Sozialisten, Anarchisten und Gewerkschaftler. Rechte und konservative Kräfte hielten Ferrer dagegen für einen der Anführer der Unruhen und verwahrten sich gegen eine Einmischung in innerspanische Angelegenheiten. Die Protestierenden bedienten sich unterschiedlicher Formen der Mobilisierung, wie Petitionen, Geldsammlungen, Versammlungen, Massendemonstrationen und wirtschaftlichem Boykott. Die europäische Dimension manifestierte sich vor allem in der Presseberichterstattung, die den Prozess und die Hinrichtung begleitete. So kommentierte auch der liberal-demokratische Publizist des Deutschen Kaiserreichs und Chefredakteur des Berliner Tageblatts Theodor Wolff in einem seiner berühmten Leitartikel die Exekution.[6] Anhand seines Kommentars vom 14. Oktober 1909 kann die Vernetzung der Kommunikation verdeutlicht werden. Dem Artikel Theodor Wolffs folgte zwei Spalten weiter unter der Überschrift „Protestkundgebungen des Auslands“ ein Bericht über die Aktivitäten jenseits der Grenzen des Deutschen Reichs und die Aufnahme der Hinrichtung in der ausländischen Presse.[7] Wolffs Kommentar selbst wurde wiederum vielfach in verschiedenen ausländischen Zeitungen zitiert und das Berliner Tageblatt beobachtete und kommentierte zugleich seine Rezeption in anderen Ländern.[8] Gerade wegen der Zensur in Spanien wurden die ausländische Presse und die jeweiligen Korrespondenten zu wichtigen Informationslieferanten, mit deren Hilfe man den gestörten Kommunikationsfluss verbesserte. Die Dichte der Kommunikation wurde sowohl in der Quantität als auch in der zeitlichen Dimension der Berichterstattung deutlich. Die Übermittlung von Nachrichten durch das Telefon ermöglichte es, Neuigkeiten innerhalb von wenigen Stunden über Grenzen hinweg zu verbreiten, was im Fall Ferrer zu einer erhöhten Emotionalisierung führte. Während am Tag der Exekution die Morgenausgaben noch darüber rätselten, ob das Urteil vollstreckt würde, berichteten Sonderausgaben am Nachmittag über dessen Vollzug. Die Emotionalisierung, die die Morgenausgaben aufgebaut hatten, entlud sich in Paris direkt in Demonstrationen, zu denen die Sonderausgaben aufriefen.

Die Vernetzung der Kommunikation ging mit einem kollektiven Selbstverständnis einher. Mit der Zusammenstellung der verschiedenen nationalen Proteste, die nicht nur im Berliner Tageblatt zu finden war, wurde eine gemeinsame europäische Bewegung evoziert. Theodor Wolff schrieb in dem bereits genannten Leitartikel „die öffentliche Meinung Europas revanchiert sich“[9] und artikulierte hier das Selbstverständnis einer Öffentlichkeit als Kontrollinstanz.[10] Europa avancierte zum zentralen Kollektivbegriff der Berichterstattung und wurde zur Selbstbeschreibungskategorie der Verteidiger Ferrers. Es wurde mit spezifischen Werten und Gesellschaftskonzepten verbunden und im Diskurs mit Zivilisation, Kultur und Moderne gleichgesetzt. Mit diesen Europaentwürfen knüpfte man an das Konzept des überlegenen Europas an, das im 19. Jahrhundert maßgebend war.[11] Die Protestierenden vertraten die Sache Ferrers. Dieser galt wegen seiner Aktivitäten für die laizistische Erziehung zunächst generell als Vertreter des Rationalismus. Zudem wurde das juristische Verfahren des Kriegsgerichts, das laut der kritischen Presse Ferrer ohne Zeugenvernehmung und rechtskräftige Beweise verurteilt hatte, zum Negativbeispiel: „Das europäische Empfinden verlangt[e], daß kein Bürger ohne Einhaltung gesetzlicher Formen gestraft werden kann“[12]. Europa stand für Rechtsstaatlichkeit. Da Ferrer im Laufe seines Lebens verschiedenen politischen Strömungen und Gruppen angehört hatte, stellte er außerdem eine breite Projektionsfläche dar, so dass er mit unterschiedlichen Gesellschaftskonzepten und politischen Forderungen besetzt werden konnte, wie Liberalismus, Demokratie, Republik, (laizistische) Erziehung oder (soziale) Revolution. Ebenso bildeten sich in den einzelnen Ländern divergente Schwerpunkte heraus in Hinblick darauf, welche Konzepte und Forderungen mit der Berichterstattung jeweils verknüpft wurden.[13]

Gemeinsames Zentrum all der Europaentwürfe war der Freiheitsbegriff. Freiheit bedeutete im Zusammenhang mit dem Fall Ferrer neben der individuellen Freiheit als Freiraum gegenüber staatlicher Macht insbesondere „geistige Befreiung“ vom Einfluss der „Pfaffen“.[14] Die zweite Hälfte des 19. und die ersten Jahre des 20. Jahrhunderts zeichneten sich in Europa nicht nur durch die legislativen Kulturkämpfe der (entstehenden) Nationalstaaten mit der katholischen Kirche, sondern auch durch soziale und kulturelle religiös-säkulare Konflikte aus, in denen die Rolle der Kirchen und der Religion in der Gesellschaft verhandelt wurden. Man diskutierte z.B. über institutionelle Fragen wie die Säkularisierung der Ehe oder der Bildung und kritisierte die klösterliche Lebensform, Dogmen sowie die Machtposition der Kirchen.[15] Die Hinrichtung Ferrers war ein willkommener Anlass für Antiklerikale, ihre Gesellschaftsvorstellungen zu artikulieren. Die Berichterstattung war durchzogen von dem Vorwurf, dass die katholische Kirche Drahtzieher der Verhaftung und Exekution sei. Dieser Vorwurf basierte weniger auf konkreten Beweisen als auf der ‚natürlichen’ Gegnerschaft zwischen dem Freidenker Ferrer und der Kirche sowie wenigen Stellungnahmen von Vertretern dieser Institution, in denen Ferrer als Gründer laizistischer Schulen zum Ideengeber der Aufständischen deklariert wurde. Umso bemerkenswerter ist der vehement antiklerikale Ton der Berichterstattung.

Bei der Konstruktion der Europaentwürfe spielte das ‚Andere’ eine entscheidende Rolle. Dem zivilisierten Europa stellte man das Bild eines der Vergangenheit verhafteten Spaniens gegenüber, das unter dem „Joch“[16] der Kirche und des Klerus litt. Die Presse griff in chiffreartiger Form zentrale Topoi der leyenda negra auf. Mit leyenda negra wird das negative Spanienbild bezeichnet, das auf den Darstellungen der Grausamkeiten während der Eroberung Amerikas, der Verfolgung der Juden und Mauren und der spanischen Inquisition beruht und seit dem 16. Jahrhundert fortgeschrieben wird.[17] Die Protestierenden arbeiteten 1909 vor allem mit dem Motiv der Inquisition sowie dem Stereotyp der Jesuiten. Das Gerichtsverfahren und die Exekution wurden als inquisitorisch bezeichnet und die Verfolgung Ferrers in der Figur des Großinquisitors Tomás de Torquemadas personifiziert. Dabei stellte man insbesondere in Karikaturen die Hinrichtung mit äußerster Drastik als gewalttätig und grausam dar. Die Jesuiten wurden als die eigentlichen Drahtzieher des Prozesses genannt. Theodor Wolff entwarf die Vorstellung jesuitischer ‚Hintermänner’, deren „Werkzeug“ und „[Lakai]“[18] die Regierung sei, und entwickelte so ein Verschwörungsszenario. Mit diesen Bildern wurde Spanien nicht nur implizit in Opposition zu den Europaentwürfen gesetzt, sondern die Protestierenden grenzten es auch explizit aus der europäischen Wertegemeinschaft aus: Bei Wolff findet sich beispielsweise die Formulierung, dass Europa mit den Pyrenäen ende.[19] Die Werte und Normen, die mit Europa verknüpft wurden, hatten zunächst einen universellen Anspruch. Durch die binäre Konstruktion der Europavorstellungen wurde jedoch eine Außengrenze gezogen und die räumliche Verortung Europas verhärtete diese Abschließung nochmals. Die Ausgrenzung wurde natürlich mit dem Anspruch formuliert, dass Spanien sich nur ändern müsse, um im Kreis der zivilisierten europäischen Nationen Aufnahme zu finden. Zugleich produzierte man aber Europa- und Spanienvorstellungen, die in einem Gegensatz zueinanderstanden. Diese Ambivalenz von (europäischer) Universalität und räumlicher Ausgrenzung wurde noch dadurch verkompliziert, dass die Europaentwürfe eigentlich in Opposition zu einer Institution standen, die ebenso universellen Anspruch erhob: Der katholischen Religion und Kirche. Die Entwürfe waren also trotz des universellen Anspruchs nur Teil einer spezifischen Gesellschaftsvorstellung und politischen Orientierung.

Die diskursive Ausgrenzung wurde bei den radikalen Kräften der Protestierenden (Freidenkern, Sozialisten und Anarchisten) von offensiv drohenden Tönen begleitet, die sich bei den Demonstrationen in gewalttätigen Ausschreitungen gegen kirchliche und besonders spanische Einrichtungen niederschlugen. Man verbrannte spanische Flaggen und griff Konsulate und Botschaften an. Die mentale Ausgrenzung wurde aber nicht nur in Form von ‚symbolischen’ Taten in Handlungen übersetzt, denn die Proteste führten ebenfalls zum Boykott spanischer Waren und Schifffahrt, den Arbeiterorganisationen initiierten.[20] Zu politischen Handlungen auf zwischenstaatlicher Ebene reichten die Mobilisierungen allerdings nicht aus. Alle Regierungen entschieden sich gegen eine offizielle Stellungnahme.[21] Insofern fällt die Bilanz der Umsetzung des Diskurses in Handlung gemischt aus. Dennoch wird deutlich, dass transnationale Handlungsräume jenseits klassisch diplomatischer Interventionen existierten, auch wenn es noch keine internationalen Institutionen gab, die über politische Entscheidungsgewalt verfügt hätten. Und die europäische (Teil-)Öffentlichkeit, die sich im Fall Ferrer konstituierte, scheint sich dieser Handlungsräume durchaus bewusst gewesen zu sein; in der Berichterstattung wurden weniger Interventionsappelle an die Regierungen formuliert als das Selbstverständnis der Öffentlichkeit als Kontrollinstanz, wie es sich bei Theodor Wolff findet, artikuliert.

Obgleich die Proteste die Exekution Ferrers nicht verhinderten, übten sie dennoch einen Einfluss aus. Dieser zeigte sich besonders im Verhalten der spanischen Regierung und Opposition. Auf die Kritik des Auslands reagierten Alfons XIII. und die spanische Regierung mit Zurückweisung und versuchten, die Negativpresse durch positive Berichterstattung im Ausland zu konterkarieren. Die liberale Opposition im spanischen Parlament nutzte ihrerseits im Anschluss an die Hinrichtung Ferrers die angespannte innere Lage und die ausländischen Proteste aus, um den Rückritt des konservativen Ministerpräsidenten Antonio Maura Montaner zu erzwingen. Den Regierungswechsel in Spanien konnten die Protestierenden insofern als ihren Erfolg verbuchen und er beweist, dass das Selbstverständnis der Öffentlichkeit als Kontrollinstanz in eingeschränktem Maß der Realität entsprach.

In der europäischen Presselandschaft verliefen die Konfliktlinien nur zum Teil zwischen den Nationen, bzw. ‚Europa’ und Spanien, sie verschränkten sich in den jeweiligen nationalen Kontexten ebenso mit politischen Differenzen. Zum einen zeigte sich sowohl in Spanien als auch im europäischen Ausland eine klare Lagerbildung; die linken Kräfte kritisierten das Vorgehen der spanischen Regierung, während die Rechten an Ferrers Schuld glaubten. Zum anderen divergierten die Positionen im linken Spektrum deutlich. Hier diskutierte man vor allem, ob die europäische Öffentlichkeit berechtigt sei, sich in innerspanische Belange einzumischen und welche Form die Proteste annehmen sollten. Die Unterschiede verdeutlichen, dass die öffentliche Meinung Europas nicht nur zweigeteilt war, sondern im Pro-Ferrer-Lager verschiedene Abstufungen existierten. Die Differenzen, die auch in den Europaentwürfen aufscheinen und immer wieder zur Debatte standen, wurden jedoch letztlich durch den gemeinsamen Feind überdeckt. Die politische Zersplitterung manifestierte sich ebenfalls darin, dass der Fall Ferrer außerdem einen Anlass darstellte, nationale politische Konflikte auszutragen und nationale Belange zu diskutieren. In Deutschland entspann sich z.B. eine ausführliche Auseinandersetzung zwischen orthodoxen Marxisten und Revisionisten über die Bedeutung der Hinrichtung eines bürgerlichen Antiklerikalen für die Arbeiterbewegung.[22] Die Hinwendungen zum nationalen Bezugsrahmen verstärkten sich besonders, als der Höhepunkt der Berichterstattung bereits überschritten war. Daran wird deutlich, dass die Mobilisierungen auf europäischer Ebene nur eine flüchtige Erscheinung waren.

Der Fall Ferrer kann dennoch als ein Beispiel für die erfolgreiche Bildung einer transnationalen Öffentlichkeit in Europa gelten. Die Proteste waren Ausdruck der neuen Qualität internationaler Mobilisierungen um die Jahrhundertwende. Es lassen sich auch frühere Beispiele anführen[23], aber die Entwicklung der modernen Massenpresse und die wachsende Demokratisierung im 19. Jahrhundert gaben den Mobilisierungen eine andere Dynamik. Der Fall Ferrer verdeutlicht allerdings ebenso die strukturellen Grenzen der Transnationalisierung. Die Auseinandersetzungen, die sich in Spanien und in den anderen Ländern an die Proteste anschlossen, zeigen, dass, obwohl man allgemeine europäische Werte diskutierte, diese oft an die jeweilige nationale Politik zurückgebunden bzw. auf die nationale Ebene heruntergebrochen wurden. Hier wird sichtbar, dass Öffentlichkeit dazu tendiert, sich in einem Raum zu konstituieren, in dem Institutionen mit politischer Entscheidungsgewalt als Adressat zu finden sind. Politische Orientierungen spielten im Herbst 1909 in der Wahl des Bezugsrahmens eine entscheidende Rolle; je nach Interessenslage argumentierte man auf nationaler oder europäischer Ebene. Die Protestierenden entwickelten in der Berichterstattung ein kollektives Selbstverständnis und produzierten europäische Identitätsvorstellungen. Diese differierten jedoch sowohl zwischen den nationalen Öffentlichkeiten als auch innerhalb dieser. Außerdem wurden die Europaentwürfe durch binäre Abgrenzung zu einem anachronistischen, brutalen und klerikalen Spanien konstruiert. Durch die räumliche Verortung Europas wurde der universelle Anspruch der Entwürfe unterlaufen und dessen Außengrenze unterstrichen.

Der Fall Ferrer zeigt, dass die Grenzen der europäischen Öffentlichkeit insbesondere durch die räumliche Verortung Europas und die Entwicklung spezifischer Identitätskonzepte konstituiert wurden. Bislang ist man in der Geschichtswissenschaft vorwiegend der Frage nach der erfolgreichen Bildung einer europäischen Öffentlichkeit nachgegangen.[24] Dahinter steht sicherlich oft das zeitgenössische politische Interesse an einer transnationalen Öffentlichkeit als Kontrollinstanz der Politik der Europäischen Union. Angesichts des beschriebenen Falls scheint es sinnvoll, die Aufmerksamkeit verstärkt auf die Grenzen europäischer Öffentlichkeit zu lenken und deren Zusammenspiel mit Identitätskonstruktionen auszuloten. Dabei ist der Blick auf die Ränder Europas besonders viel versprechend.



[1] Essay zur Quelle: Theodor Wolff, Das Verbrechen von Montjuich (Kommentar zum Fall Ferrer, in: Berliner Tageblatt, Morgenausgabe (14. Oktober 1909)).

[2] Vgl. zur Semana Trágica Ullman, Joan Connelly, The Tragic Week. A Study of Anticlericalism in Spain, 1875-1912, Cambridge Massachusetts 1968; sowie zu Ferrer Avilés Farré, Juan, Francisco Ferrer y Guardia. Pedagogo, anarquista y mártir (Memorias y biografías), Madrid 2006.

[3] Vgl. Park, Tiidu Peter, The European Reaction to the Execution of Francisco Ferrer. Diss., University of Virginia, Ann Arbor Michigan 1971, S. 599-607.

[4] Vgl. zur Rezeption der Dreyfus-Affaire Roth, Bernd, Spanien und die 'Affäre' Dreyfus, in: Schoeps, Julius Hans; Simon, Hermann (Hgg.), Dreyfus und die Folgen, Berlin 1995, S. 81-90; Fuchs, Eckhardt; Fuchs, Günther, Die Affäre Dreyfus im Spiegel der Berliner Presse, in: ebd., S. 51-80.

[5] Vgl. z.B. Kaelble, Hartmut; Kirsch, Martin; Schmidt-Gernig, Alexander, Zur Entwicklung transnationaler Öffentlichkeiten und Identitäten im 20. Jahrhundert. Eine Einleitung, in: Dies. (Hgg.), Transnationale Öffentlichkeiten und Identitäten im 20. Jahrhundert, Frankfurt am Main 2002, S. 7-33, hier S. 24.

[6] Siehe Quelle: Wolff, Theodor: Das Verbrechen von Montjuich. Kommentar im Berliner Tageblatt zum Fall Ferrer (1909).

[7] Vgl. Berliner Tageblatt, Morgenausgabe, 14.10.1909, S. 1-2.

[8] Vgl. La Lanterne, 16.10.1909, S. 4 und L’Action, 15.10.1909, S. 2. und für die Beobachtung der Rezeption im Ausland Berliner Tageblatt, Morgenausgabe, 13.10.1909, S. 1.

[9] Wolff, Verbrechen.

[10] Vgl. für die beiden Ebenen von Öffentlichkeit, die zugrunde gelegt werden Requate, Jörg; Schulze-Wessel, Martin, Europäische Öffentlichkeit. Realität und Imagination einer appellativen Instanz, in: Requate, Jörg; Schulze-Wessel, Martin (Hgg.), Europäische Öffentlichkeit. Transnationale Kommunikation seit dem 18. Jahrhundert, Frankfurt am Main 2002, S. 11-42, hier S. 13-14.

[11] Vgl. Kaelble, Hartmut, Das europäische Selbstverständnis und die europäische Öffentlichkeit im 19. und 20. Jahrhundert, in: Kaelble; Kirsch; Schmidt-Gernig, Transnationale Öffentlichkeiten, S. 85-110, hier S. 90; sowie ausführlicher Ders., Europäer über Europa. Die Entstehung des europäischen Selbstverständnisses im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt am Main 2001, S. 28-31, 52-62.

[12] Wolff, Verbrechen.

[13] Vgl. Park, European Reaction, S. 438-439.

[14] Vgl. Wolff, Verbrechen.

[15] Vgl. zur internationalen Dimension der Kulturkämpfe Clark, Christopher; Kaiser, Wolfram (Hgg.), Culture Wars. Secular-Catholic Conflict in Nineteenth-Century Europe, Cambridge 2003; Rémond, Réné (Hg.), Special issue: Anticlericalism. European Studies Review 13 (1983) und für die rechtlichen Auseinandersetzungen Becker, Winfried, Der Kulturkampf als europäisches und als deutsches Phänomen, in: Historisches Jahrbuch 101 (1981), S. 422-446.

[16] Le Siècle, 9.9.1909, S. 2.

[17] Vgl. Kamen, Henry, Del imperio a la decadencia. Los mitos que forjaron la España moderna, Madrid 2006.

[18] Wolff, Verbrechen.

[19] Vgl. ebd.

[20] Vgl. Park, European Reaction, S. 215-216, 219f., 232, 238, 273-276.

[21] Vgl. zu den diplomatischen Auseinandersetzungen Solà, Pere, Las consecuencias europeas del fusilamiento de Ferrer i Guardia, in: Historia y Vida 18 (1985), S. 31-46.

[22] Vgl. Park, European Reaction, S. 494-501.

[23] Zu nennen wäre z.B. die Mobilisierung im Anschluss an die Entführung des jüdischen Jungen Edgardo Mortara durch den Vatikan 1858. Dieser erhob Anspruch auf die Erziehung des Kindes, da eine Dienstmagd es angeblich getauft hatte, vgl. Zöller, Martin, Publizistik und Protest im Fall Mortara (1858). Kulturkämpfe und jüdische Emanzipation im Spiegel eines "Kinderraubes", unveröffentlichte Magisterarbeit, Ludwig-Maximilians-Universität München, München 2005.

[24] Vgl. die beiden bereits zitierten Sammelbände Requate; Schulze-Wessel (wie Anm. 11); Kaelble; Kirsch; Schmidt-Gernig (wie Anm. 4); sowie den Tagungsbericht Jones, Priska; Kaelble, Hartmut; Rössner, Susan, For a European Public Sphere in Global Context, in: H-Soz-u-Kult, (27.10.2008).



Literaturhinweise:

  • Avilés Farré, Juan, Francisco Ferrer y Guardia. Pedagogo, anarquista y mártir (Memorias y biografías), Madrid 2006.
  • Kaelble, Hartmut; Kirsch, Martin; Schmidt-Gernig, Alexander (Hgg.), Transnationale Öffentlichkeiten und Identitäten im 20. Jahrhundert
  • Park, Tiidu Peter, The European Reaction to the Execution of Francisco Ferrer. Diss., University of Virginia, Ann Arbor Michigan 1971.
  • Requate, Jörg; Schulze-Wessel, Martin (Hgg.), Europäische Öffentlichkeit. Transnationale Kommunikation seit dem 18. Jahrhundert, Frankfurt am Main 2002.
  • Ullman, Joan Connelly, The Tragic Week. A Study of Anticlericalism in Spain, 1875-1912, Cambridge Massachusetts 1968.

Theodor Wolff, Das Verbrechen von Montjuich (Kommentar zum Fall Ferrer, in: Berliner Tageblatt, Morgenausgabe (14. Oktober 1909))[1]

T. W. Das bekannte Wort „Il n´y a plus de Pyrénées“, „es gibt keine Pyrenäen mehr“, hat seit gestern noch weniger Sinn als zuvor. Die Erschießung F r a n c i s c o  F e r r e r s beweist, daß in Spanien, ähnlich wie in Rußland, auch heute noch Dinge möglich sind, die das übrige Europa erfreulicherweise nicht mehr kennt. Das europäische Empfinden verlangt, daß kein Bürger ohne Einhaltung gesetzlicher Formen gestraft werden kann, und selbst in jenen politisch wenig reifen Ländern, die man nicht erst zu nennen braucht, ist dem U e b e r m a ß der Willkür eine schützende Schranke gesetzt. In Spanien spottet Herr M a u r a über Gesetze und ähnlichen Formelkram, und dieser ehemalige „Liberale“ regiert wie ein asiatischer Satrap. Einzig darauf bedacht, den spanischen Pfaffen zu schmeicheln und zu dienen, von deren Gunst und Gnade er heute lebt, verfolgt er die Bekenner einer moderneren Weltanschauung mit einem unversöhnlichen Haß. Er hat von den Jesuiten, deren Werkzeug und Diener er geworden ist, sehr schnell die kleinen Mittelchen der Unterdrückungskunst gelernt. Und das Regime, dem er den Namen leiht, schreckt vor keiner Gewalttat und auch vor keiner Lüge und Fälschung zurück.

Die Revolte von Barcelona, die entstand, als die armen Söhne und Väter der geschundenen Arbeiter- und Bauernfamilien nach Marokko geschleppt wurden, kam diesem ehrenwerten Manne sehr gelegen. Hier bot sich die lang ersehnte Möglichkeit, in dem allzu „europäischen“, schon von freieren Ideen verseuchten Barcelona einen heilsamen Aderlaß vorzunehmen, hier ergab sich ein Vorwand zur Unterdrückung der modernen Schulen und zur Beseitigung mancher unbequemen und gefährlichen Persönlichkeit. Was die spanische Infanterie nicht niederknallte, wurde verhaftet und in den Kerker gesperrt, und gleichzeitig wurde das Ausland durch frech gefälschte Depeschen über den Charakter der Bewegung getäuscht. Es wurde hinaustelegraphiert, daß die „Revolutionäre“ die scheußlichen Greueltaten begangen, daß sie Nonnen bei lebendigem Leibe verbrannt und Mönche aufgespießt. Bis dann die Berichte der fremden Korrespondenten und anderer Augenzeugen dartaten, dass man weder einem Mönch noch einer Nonne auch nur ein Härlein versengt.

Unter denen, auf die es bei dieser „Razzia“ in erster Linien abgesehen war, ragte F r a n c i s c o  F e r r e r der Begründer der „Modernen Schule“, durch Einfluß und Bedeutung hervor. Er hatte dem Pfaffentum von jeher den Krieg gemacht, hatte auf dem Katheder und in zahlreichen Schriften für die geistige Befreiung gewirkt und war den Pfaffen und ihrem Lakaien Maura wie wenig andere verhasst. Wie es um seinen Charakter und um seine Lebensführung stand, wird uns nicht erzählt, aber für ihn spricht, daß er die Freundschaft und die Achtung der hervorragendsten Gelehrten Europas genoß. Dieser Mann musste, um jeden Preis, in die Untersuchung verstrickt werden, und er w u r d e in diese Affäre hineingezogen, um den Preis einer niedrigen Infamie. Man verhaftete ihn, nahm seine Schriften und Papiere fort, sperrte ihn ein, und das Prozeßverfahren begann. Ohne einen Beweis, o h n e  d a ß  a u c h  n u r  e i n  e i n z i g e r  Z e u g e  v e r n o m m e n  w o r d e n  w ä r e, sprach ein feiles Kriegsgericht auf Befehl Mauras die  T o d e s s t r a f e  aus. Francisco Ferrer ist nicht von ehrlichen Richtern, ja, nicht einmal mit dem S ch e i n e des Rechtes, verurteilt worden, er ist bübisch erdrosselt worden, im Hinterhalt.

Auch hier wieder hat Herr Maura sich jenes Mittelchens bedient, das er schon einmal, in den Tagen der Revolte benutzt: er hat alle w a h r e n Prozessberichte durch seine Zensur zurückhalten lassen, und hat eine g e f ä l s c h t e Darstellung in die Welt hinausgeschickt. Er hat durch die „Agence Havas“ erzählen lassen, dass die Zeugen ihre Aussagen machen durften, und er hat durch diese L ü g e die öffentliche Meinung einzulullen versucht. Man weiß jetzt, dass in der kurzen Verhandlung kein Zeuge vorgelassen wurde, und dass der Vorsitzende einfach ein paar Aussagen hastig und mit leiser Stimme verlas. Kein Beweis, und auch nicht der allergeringste wurde für Ferrers Beteiligung an der Revolte erbracht, und als „belastendes“ Material legte man einige Schriften des Angeklagten vor, in denen sich Ferrer als Anhänger der republikanischen Staatsform bekennt. Es hatte sich unter den Offizieren Barcelonas ein junger Hauptmann, Don F r a n c i s c o  G a l c e r á n, gefunden, der den Mut besaß, als Verteidiger Ferrers aufzutreten und die Wahrheit zu sprechen. Don Francisco Galcerán ist nach Schluß des Prozesses von den Häschern Mauras verhaftet worden, aber er allein hat die stark befleckte Ehre Spaniens und des spanischen Offizierskorps gewahrt.

Man hat uns von der Ehre und dem Ehrgefühl der „stolzen Spanier“ von jeher viel erzählt, und aus Spanien stammt jener oberflächliche und äußerliche Ehrbegriff, der noch heute bei vielen, auch diesseits der Pyrenäen, die einfache anständige Gesinnung ersetzt. Von den Spaniern, aus den spanischen Romanen und Heldengedichten, holte sich Corneille diesen Begriff, und aus Spanien wurde, zuerst nach Frankreich der Duellunfug eingeschleppt. Die Affäre Ferrer ist nicht dazu angetan, der vielbesungenen Ehre Spaniens einen neuen Glanz zu verleihen, denn eine solche Schufterei steht wohl ziemlich vereinzelt da. Vielleicht beruft sich Herr Maura auch jetzt auf seine „Ehre“, die ihm verboten, vor den Beschwörungen Europas zurückzuweichen und als ein stolzer Spanier dem Auslande zu Willen zu sein. Aber Herr Maura hätte den verhaßten Ferrer erschießen lassen, wie sich Europa auch verhielt, und über die Niedrigkeit seiner Handlungsweise täuscht kein prahlerischer Komödienstolz.

Es ist Sache der Spanier, sich mit diesem Manne abzufinden, der seinem Lande die ungeheuerste moralische Schädigung zugefügt. Wie Plehwe, hat er nicht nur mit brutalem Cynismus, sondern auch mit unsagbarer Kurzsichtigkeit gehandelt, denn eine Ungesetzlichkeit ruft notwendig die andere und jede Gewalttat ruft neue Gewalttaten hervor. Man mag über Ferrers republikanische Ideen denken, wie man will – durch die Willkür des bestehenden Regimes erhält jeder revolutionäre Versuch im voraus eine gewisse Berechtigung. Wenn das Gesetz von oben her verletzt und verhöhnt wird, bleibt die Antwort von unten her gewöhnlich nicht lange aus. Vielleicht wird der blasse Alfons bald einsehen, wie übel er beraten war. Wo sind die schönen Tage von Aranjuez, da er nur auf harmlose Tauben schoß!

Es gibt bei solchen Gewalttaten mitunter auch etwas Erfreuliches und Versöhnliches: die Solidarität mit der die zivilisierte Welt sich gegen die Urheber dieser Akte erhebt. Der Justizmord, der in Barcelona begonnen und in den Festungswällen von Montjuich vollendet wurde, hat die besten Elemente aller Nationen zu einem gemeinsamen Gefühl der Empörung zusammengeführt. Herr Maura hat dem Europa jenseits Pyrenäen zeigen wollen, wie gering er in seinem grandiosen Spanierstolz die öffentliche Meinung schätzt. Die öffentliche Meinung Europas revanchiert sich und bringt ihm ziemlich einmütig den Ausdruck ihres Abscheus dar.


[1] Wolff, Theodor, Das Verbrechen von Montjuich, in: Berliner Tageblatt, Morgenausgabe, 14.10.1909, S. 1.


Für das Themenportal verfasst von

Lisa Dittrich

( 2008 )
Zitation
Lisa Dittrich, Die Hinrichtung Francisco Ferrers. Ein Fall für die europäische Öffentlichkeit im frühen 20. Jahrhundert?, in: Themenportal Europäische Geschichte, 2008, <www.europa.clio-online.de/essay/id/fdae-1470>.
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