Ästhetische Erziehung auf dem Weg Bulgariens nach Europa. Die Kulturpolitik Ljudmila Živkovas in den 1970er Jahren[1]
Von Rumjana Mitewa-Michalkowa
In den 1970er Jahren forderten kritische bulgarische Intellektuelle, wie die Schriftstellerin Blaga Dimitrova, der Satiriker Radoj Ralin und der Maler Georgi Baev, eine Revision der dogmatischen Kulturpolitik und den offenen Dialog mit Ländern verschiedener politischer Systeme. Diese vorerst kleine Bewegung erhielt massiven Auftrieb, als Ljudmila Živkova, die Tochter des Staats- und Parteichefs Todor Živkov, die Leitung des Ministeriums für Kultur[2] übernahm und sich auf der nationalen und internationalen Bühne für die Entdogmatisierung der marxistisch-leninistischen Kulturpolitik und die Öffnung und Internationalisierung des kulturellen Lebens einsetzte.
Die diplomierte Historikerin Ljudmila Živkova (1942-1981[3]) hatte in Sofia, Oxford und Moskau studiert und 1971 an der Sofioter Universität den Doktorgrad im Fach „Geschichte der internationalen Wirtschaftsbeziehungen“ erworben. Im Unterschied zur überwiegenden Mehrheit der politischen Elite Bulgariens besaß sie eine breite akademische Bildung. Nach ihrem Eintritt in die Politik im Jahr 1971 beschäftigte sie sich vor allem mit der Kunstgeschichte Bulgariens. Gleichzeitig vertiefte sie die Beziehungen zu einem Kreis von Künstlern, Wissenschaftlern und Schriftstellern, der die Erneuerung der Kultur unter nationalen wie kosmopolitischen Vorzeichen betrieb. 1976 stieg Ljudmila Živkova in das Zentralkomitee der Bulgarischen Kommunistischen Partei auf und 1979 ins Politbüro. Durch die Übernahme von Funktionen in internationalen Organisationen wie der UNESCO stützte sie ihre kulturpolitischen Ziele breiter ab.
In ihre Rede über „Einheit, Kreativität und Schönheit“ zur Eröffnung des internationalen Kinderfestivals „Banner des Friedens“ im Jahr 1979 vertrat Živkova die Auffassung, dass Kultur global und universell sei und die Aufgabe habe, Brücken zwischen den Nationen, Systemen und Zeitaltern zu schlagen.[4] Das war keine bloße Floskel, sondern vielmehr durch Živkovas Nähe zu theosophischen, esoterischen und fernöstlichen Kulturbegriffen motiviert.
Živkova war 1970 in Oxford und später in der bulgarischen Hauptstadt Sofia mit weltanschaulichen, religiösen und ästhetischen Auffassungen in Berührung gekommen, die dem Kommunismus fremd waren. So begeisterte sie sich für die aus dem Hinduismus und Buddhismus stammende Yoga-Philosophie und für die Ideen der theosophischen Schule der deutsch-russischen Okkultistin Helena Blavatsky (1831-1891). Durch den mit ihr befreundeten bulgarischen Schriftsteller und Kunstkenner Bogomil Rajnov lernte Ljudmila Živkova die theosophische Lehre der „Lebensethik“ („Živaja etika“) der in Indien lebenden Russen Nikolaj und Elena Roerich kennen, die sich von Helena Blavatskas „Geheimlehre“ ableitete.[5] Nachdem dieses philosophische und religiöse Gedankengut im kommunistischen Bulgarien lange Zeit unterdrückt worden war, wurde es von Živkova und ihrem Kreis wieder aufgegriffen und unter den Kulturschaffenden Sofias verbreitet. Im Mittelpunkt standen dabei Werke der theosophischen Schule von Helena Blavatska, die 1875 in New York zusammen mit H. L. Olcott die „Theosophische Gesellschaft“ (Theosophic Society) gegründet hatte, sowie die literarischen und künstlerischen Werke von Elena und Nikolaj Roerich, die in den 1920er Jahren das Werk Blavatskys fortgeführt hatten. Die Theosophie (Gottesweisheit) wurde als eine religiös-weltanschauliche Richtung verstanden, die in meditativer Berührung mit Gott den Weltbau und den Sinn des Weltgeschehens erkennen will. Die Erlösungslehre der „Theosophischen Gesellschaft“ orientierte sich an altindischen Überlieferungen. Diese Ideen wurden in Bulgarien vom Vater Bogomil Rajnovs, Nikolaj Rajnov, einem prominenter Vertreter des bulgarischen Bildungsbürgertums importiert. Er hatte in Sofia Ende der 1920er Jahre die theosophische Loge „Orphej“ [Orpheus] gegründet und einschlägige Literatur gesammelt und verlegt.
Nach Živkova sollte die Humanisierung der Gesellschaft vor allem durch geistige Werte gefördert werden. Nur der Dialog der Kulturen könne eine gerechte Welt schaffen. Nicht die Revolution, sondern die Evolution der Gesellschaft mittels Kultur und Kreativität ebne den Weg in eine friedliche und harmonische Weltgemeinschaft. Diesbezüglich folgte Živkova der esoterisch-ästhetischen Lehre Nikolaj Roerichs, der die theosophische „Geheimlehre“ Blavatskys mit buddhistischen Werten und Traditionen verknüpfte und meinte, dass sich die Menschheit am Übergang zu einer neuen „Hellen Ära“ befinde, in der das Geistige über das Materielle herrsche. Eine friedliche und vollkommene Welt könne nur entstehen, wenn die Menschen nach den „kosmischen Gesetzen“, den „Gesetzen der Schönheit, der Liebe und der Gleichheit“ leben. Ziel sei die Bildung der allseitig entwickelten und vollkommenen Persönlichkeit des Menschen des neuen Zeitalters.
Auch durch ihre engen Kontakte mit den Gurus der „Agni-Yoga“-Lehre in Indien wurde Živkova in der Auffassung bestärkt, dass die allseitige Entfaltung und Selbstvervollkommnung der Persönlichkeit auf geistiger und schöpferischer Arbeit und dem kulturellen Austausch und Dialog beruhe. Auf dieser Grundlage wollte sie die Zweiteilung Europas und den Konflikt der konkurrierenden Weltmächte überwinden.Ihre philosophische Botschaft, die zunächst nur von Eingeweihten wirklich verstanden wurde, bekam schließlich unerwarteten Auftrieb, als die Schlussakte der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KZSE) 1975 in Helsinki neue Akzente in den internationalen Beziehungen setzte und die Grundlagen für eine Intensivierung der kulturellen und politischen Kommunikation und Kooperation zwischen den Ländern des Ostblocks mit dem Westen legte. Die neue bulgarische Kulturpolitik betonte fortan nicht nur die – mehrdeutigen – Ziele Humanität, Bildung, Völkerverständigung und Frieden, sondern revidierte auch den Kulturbergriff und die Auffassung über die Rolle von Kunst und Kultur im gesellschaftlichen Wandel. Die kommunistische Auffassung, dass Kultur als „Überbau“ und Kulturpolitik als Waffe im ideologische Klassenkampf zu begreifen sind, sowie die davon abgeleitete ästhetische Theorie des sozialistischen Realismus, wurden durch theosophische Prinzipien aus der „Lebensethik“ Roerichs ergänzt, wenn nicht ersetzt. In einer vielbeachteten Kunstausstellung wurden 1978 Bilder von Nikolaj Roerich einem größeren Publikum bekannt gemacht. Damit wurden auch Roerichs Begriffe „Banner des Friedens“[6] und „Glocken der Nationen“ populär. Sie repräsentierten eine weltübergreifende Kultur, deren Symbole und Visualisierungen[7] im öffentlichen Raum, in der Kunst und in den Medien zunehmend mit kommunistischen Symbolen wie dem roten Stern, Hammer und Sichel und der bisher als Friedensbanner gedeuteten Sowjetfahne konkurrierten.
Die Einflüsse dieser ästhetisch-philosophischen Richtung finden sich auch in der Rede, mit der die bulgarische Kulturministerin 1979 das im Rahmen des UNO-Weltkinderjahres veranstaltete internationale Kinderfestival „Zname na mira” [Banner des Friedens] in Sofia eröffnete. Bulgarien lud damals zu diesem „Welttreffen“ Kinder aus 77 Ländern ein, die sich an künstlerischen Wettbewerben für Literatur, Musik und bildende Kunst beteiligten. Unter dem Motto „Einheit, Kreativität, Schönheit“ – drei Grundbegriffen Roerichs – sollte gerade die junge Generation ungeachtet der nationalen, kulturellen und religiösen Herkunft mit Hilfe der Kunst den Weg zur „Vollkommenheit“ einschlagen. Das Kinderfestival, das mit erheblichen Mitteln aus der bulgarischen Staatskasse gefördert und national wie international viel Beachtung und Anerkennung fand, erlebte in den folgenden Jahren mehrere Auflagen mit stetig steigender Teilnehmerzahl und immer größerer internationaler Zusammenarbeit. In mehreren Ländern wurden Außenstellen unter dem Namen „Banner des Friedens“ gegründet, die diplomatische, künstlerische und zivilgesellschaftliche Aktivitäten koordinierten.
Die neue Kunst- und Kulturpolitik manifestierte sich auch bei den Feiern und Anlässen zum Jubiläum des 1300jährigen Bestehens des bulgarischen Staates im Jahre 1981. In Aufsätzen, Kongress- und Tagungsreden wurde auf das ästhetische Programm der Kulturministerin Bezug genommen, das in den 1970er Jahren im Rahmen von Veranstaltungen über große Persönlichkeiten der Weltgeschichte und „Lehrer der Menschheit“ wie Leonardo da Vinci, Nikolaj Roerich, Vladimir Il’ic Lenin und dem Slawenapostel Konstantin-Kyrill konkretisiert worden war. Ziel der Ausstellungen, Konzerte, Künstlertreffen, literarischen Lesungen und Publikationen war es, diese kosmopolitischen Persönlichkeiten zu würdigen und Wissen über geistige und künstlerische Leistungen der Weltkultur in Bulgarien zu verbreiten.
Die bulgarische Kultur und Nationalgeschichte wurden so in europäische und globale Entwicklungen eingebettet. Bulgarien verstand sich dabei zum einen als Erbe der klassischen europäischen Kultur, die auf die thrakische, altgriechische und römische Kultur aufbaute. Zum anderen beruhte Živkovas Programmatik des globalen Kulturempfindens und der globalen kulturellen Evolutionauf der Annahme und Überzeugung, dass geistige und kulturelle Leistungen und Artefakte gemeinschaftliches Eigentum der Menschheit seien und die Güter der Weltkultur allen Menschen und Nationen zugänglich sein sollten. Dieses Verständnis wurde in nationalen und internationalen Ausstellungen zur bulgarischen Kulturgeschichte, wie „1000 Jahre bulgarische Ikonen“ und „Kultur und Kunst der Thraker – der Thrakische Goldschatz“, verbreitet. Meisterwerke der europäischen Kunst, etwa von Leonardo da Vinci, wurden nach Bulgarien geholt und dort ausgestellt. Schließlich wurden 1981 im Hinblick auf die geplante Gründung eines „Museums für auswärtige Kunst“ zahlreiche europäische und außereuropäische Kunstwerke angekauft. Darunter befanden sich neben Originalen des „europäischen Westens“ (etwa der Franzosen Maurice Brianchon, Jules Cavaillès und Christian Caillard) auch 300 Gemälde von Nikolaj Roerich und Sammlungen alter indischer Kunst, japanischer Drucke sowie afrikanische Kunstobjekte.
Obwohl viele Bulgaren die Öffnung des Landes zum Westen hin und die Intensivierung des weltweiten kulturellen Austausch begrüßten, geriet die neue Kulturpolitik in die Kritik, wobei die hohen Kosten wohl nur eine vorgeschobene Begründung waren. Kommunistische Hardliner, allen voran der Chefideologe Milko Balev, pochten auf die Treue zur Sowjetunion und versuchten die Initiativen Živkovas und ihres Kreises einzudämmen. Auch aus Moskau kamen Signale, die als harsche Kritik an Živkovas Kurs gewertet wurden. Umgekehrt begrüßten manche Intellektuelle die Verbreitung nichtmarxistischer Ideen und Kunst als Mittel zur Öffnung ideologischer und künstlerischer Freiräume. Sie verfolgten ihren Weg auch nach dem Tod der Kulturministerin weiter, bis die Partei- und Staatsführung Mitte der 1980er Jahre vor dem Hintergrund der wirtschaftlichen Probleme und gesellschaftlicher Spannungen die Mittel für die Realisierung der inhaltlich und organisatorisch langfristig angelegten Programme Živkovas einfror.
Damit kam ein so umstrittenerer wie ambivalenter kultureller Öffnungs- und Reformprozess zum Erliegen, den die Kulturministerin Živkova mit dem Anliegen in Gang gesetzt hatte, die normierte und erstarrte sozialistische Kultur in eklektischer Weise mit Elementen der sog. nationalen, europäischen und Weltkultur zu verbinden, um die Welt der Vorstellungen und Darstellungen zu erneuern und gesellschaftliche und kulturelle Prozesse zu dynamisieren. 1977 hatte sie in einem Beitrag mit dem Titel „Die sozialistische Kultur und die gesellschaftlichen Prozesse der Gegenwart“ als Credo und Ziel formuliert:
„Das Streben des Menschen nach dem Schönen, nach dem Herrlichen muss zu einer vitalen Notwendigkeit für jedes Mitglied der Gesellschaft werden. Und wir sind fest überzeugt, dass jeder Mensch und die Gesellschaft als Ganzes, die sich ‚nach den Gesetzen der Schönheit’ entwickeln und schöpferisch tätig sind, ihre eigene Evolution bewältigen werden. Die Formierung des Menschen als vollwertige, harmonisch entwickelte Persönlichkeit wird auf dem Gebiet der ästhetischen Erziehung ohne Zweifel zur vollwertigeren Nutzung und Aktivierung der potenziellen und bisher ungenutzten Kräfte des menschlichen Organismus führen. [...] Von uns allen, den bewussten Bürgern der sozialistischen Gesellschaft, hängt die Realisierung dieses umfangreichen, globalen und nach Wesen und Bedeutung zutiefst humanen Programms ab“.[8]
Unter dem Dach der kommunistischen Ideologie artikulierte sie eine Symbiose aus universalistischen sozialistischen Idealen, nationalen und europäischen Mythen und fernöstlichen Kulturvorstellungen. Sie löste damit im Staats- und Parteiapparat lange Kontroversen aus und provozierte das Missfallen Moskaus. Gleichzeitig schuf und legitimierte sie als Kulturministerin alternative Optionen für Intellektuelle, aus deren Kreisen sich Ende der 1980er Jahre dann die Repräsentanten zivilgesellschaftlicher Organisationen rekrutierten.
Kurz vor dem Endspurt Bulgariens auf seinem langen Weg nach Europa, im Februar 2006, zeigte das bulgarische Nationalfernsehen – 25 Jahre nach dem Höhepunkt dieser Kulturpolitik – den Dokumentarfilm „Die letzten sieben Jahre im Leben Ljudmila Živkovas“ [„Poslednite sedem godini ot života na Ljudmila Živkova“, Sofia 2006]. Der Film thematisierte nach einer langen Pause des Schweigens die kulturellen und politischen Entwicklungen des Landes in den 1970er Jahren und der ersten Hälfte der 1980er Jahre und beleuchtete die Kulturpolitik in der Spätphase des Realsozialismus. Damit wurde die öffentliche Diskussion über das vor 1989 tabuisierte und in der Transformationsperiode nach 1989 bewusst ignorierte Thema „Kulturpolitik unter Živkova“ neu belebt.
[1] Vgl. die Quelle zum vorliegenden Essay: Ljudmila Živkova, Unity, Creativity, Beauty. Speech at the Opening of the International Children’s Assembly ‘Banner of Peace’ (Sofia, 16. August 1979).
[2] Ljudmila Živkova wurde 1972 zur stellvertretenden Vorsitzenden, 1974 zur Vorsitzenden des Ministeriums für Kultur ernannt. Es war im damaligen Ostblock nicht ungewöhnlich, dass Staatsoberhäupter Familienmitglieder in eine politische Laufbahn hievten.
[3] Die Ursache für ihren Tod im Jahre 1981 ist bis heute umstritten. Die Theorien reichen von Unfall über Selbstmord zu Auftragsmord.
[4] Vgl. die Quelle zum vorliegenden Essay: Živkova, Ljudmila, Unity, Creativity, Beauty. Speech at the Opening of the International Children’s Assembly ‘Banner of Peace’, Sofia, August 16, 1979.
[5] Blavatska, Elena, Tajnoe ucenie [Geheimlehre], Petrograd 1916.
[6] Als Symbol im Zusammenhang mit dem sog. ‚Roerich-Pakt zum Schutz von Kultur und Kunst im Kriegsfall‘ 1935 entstanden.
[7] In der Hautstadt Sofia wurde das aufwändige Monument „Kambanite“ [Die Glocken] errichtet, das als Denkmal, Park und Begegnungszentrum der Kinder der Welt zugleich konzipiert wurde. Vor dem Sockel der hochragenden Betonkonstruktion wurden (Kirchen-) Glocken aus vielen Ländern der Welt eingebaut, welche als Staatsgeschenke anlässlich des internationalen Treffens „Banner des Friedens“ überreicht wurden.
[8] Živkova, Ljudmila, Die sozialistische Kultur und die gesellschaftlichen Prozesse der Gegenwart, Sofia 1977, S. 63f.
Literaturhinweise:
Zhivkova, Ludmila, According to the Laws of Beauty, Amsterdam 1981.
Zhivkova, Ludmila, Her many worlds. New culture and beauty. Concepts and action, Oxford 1982.
Atanasova, Ivanka N., Lydmila Zhivkova and the Paradox of Ideology and Identity in Communist Bulgaria, in: East European Politics and Societies 18 (2004), S. 278-315.
Kerov, Yordan: Lyudmila Zhivkova – Fragments of a Portrait. In: RFE-RL. Radio Free Europe/Radio Liberty Research. RAD Background Report/253 (Bulgaria), 27 October 1980, (16.02.2009).
Rajnov, Bogomil, Ljudmila – mecti i dela [Ljudmila – Träume und Taten], Sofia 2003.