Ein Volk unterwegs. Migranten aus Serbien 1971-2002[1]
Von Petar Dragišic
Die wirtschaftliche Stagnation in Jugoslawien in den 1960er und 1970er Jahren wirkte sich negativ auf die Situation auf dem jugoslawischen Arbeitsmarkt aus. Im Jahr 1980 waren rund 800.000 Jugoslawen auf Stellensuche.[2] Der Druck auf den jugoslawischen Arbeitsmarkt in den 1960er und 1970er Jahren sowie der im Vergleich zu Westeuropa niedrigere Lebensstandard trieben Hunderttausende Jugoslawen in die Emigration. Die überwiegende Mehrheit der jugoslawischen Arbeitsmigranten ging damals nach Westeuropa. Diese Emigration erreichte ihren Höhepunkt in der ersten Hälfte der 1970er Jahre. Im Jahr 1974 wurde die Zahl der jugoslawischen „Gastarbeiter“ in Westeuropa auf circa 800.000 geschätzt.[3] Die Mehrheit der jugoslawischen Arbeitsmigranten (Mitte der 1970er Jahre rund 500.000) arbeitete in der Bundesrepublik Deutschland.[4] Neben der Bundesrepublik Deutschland zählten zu dieser Zeit Österreich, die Schweiz, Schweden, Frankreich und Italien zu den beliebtesten europäischen Zielländern der Arbeitssuchenden aus Jugoslawien.[5] Diese Migrationsprozesse unterstützen die kulturelle und wirtschaftliche Nähe Serbiens bzw. Jugoslawiens zu Westeuropa. Sie waren ein Moment der Westernisierung oder Europäisierung Serbiens bzw. Jugoslawiens. Sie trugen aber auch dazu bei, dass sich das Jugoslawienbild der Westeuropäer veränderte – in mancher Hinsicht zum Positiven hin.
Ein Großteil der jugoslawischen Arbeitsmigranten stammte aus Serbien. 1971 lebten rund 200.000 Staatsbürger Serbiens im Ausland, zehn Jahre später fast 270.000. Der Anteil der im Ausland lebenden serbischen Staatsbürger an der Gesamtzahl der Staatsbürger Serbiens stieg von 2,8% im Jahr 1971 auf 3,5% im Jahr 1981.[6] 1991 allerdings lebten laut der letzten vor dem Zerfall Jugoslawiens durchgeführten Volkszählung 273.817 Staatsbürger Serbiens im Ausland. Wie zehn Jahre früher, betrug der Anteil der serbischen Auswanderer an der Gesamtzahl der serbischen Staatsbürger 3,5%.[7]
Die Jugoslawienkrise und die kriegerischen Auseinandersetzungen Anfang der 1990er Jahre lösten in den 1990er Jahren eine neue Migrationswelle aus Jugoslawien beziehungsweise den Nachfolgestaaten Jugoslawiens aus. Obwohl die Bevölkerung Serbiens bis 1999 von direkten Kriegseinwirkungen verschont wurde, führten die Kriege in der Nachbarschaft sowie die Sanktionen der UNO gegen die Bundesrepublik Jugoslawien zu einer Verarmung. Die Krise zwang Tausende Serben, ihr Land zu verlassen.
Die Migrationswelle aus Serbien in den 1990er Jahren war, im Unterschied zur Auswanderung in den 1960er und 1970er Jahren, dadurch gekennzeichnet, dass mehr Hochqualifizierte emigrierten. Die Zahl der serbischen Wissenschaftler, die von 1979 bis 1994 Serbien verließen, wird auf rund 1500 geschätzt. Die überwiegende Mehrheit von ihnen emigrierte, als sich die Krise im ehemaligen Jugoslawien zuspitzte. Zwischen 1990 und 1994 verließen mehr als 900 Wissenschaftler die Universitäten und Institute in Serbien. Der Höhepunkt wurde 1993 erreicht, als 223 serbische Wissenschaftler auswanderten.[8] Ein gutes Viertel von diesen ging in westeuropäische Länder, so nach Großbritannien (8%), Deutschland (6%), Frankreich (4%), Italien (3%) sowie in die Schweiz (4%) und die Niederlande (2%). Vom Brain Drain profitierten nun aber stärker die Überseestaaten. Fast drei Viertel der Wissenschaftler, die von 1979 bis 1994 Serbien verließen, setzten ihre Karriere in den Vereinigten Staaten (35%), Kanada (28%) und Australien (9%) fort.[9]
Die wirtschaftliche und politische Krise in Serbien führte in den 1990er Jahren allerdings nicht nur zum Brain Drain, sondern sie trieb auch weniger qualifizierte Staatsbürger Serbiens in die Emigration. Infolge der Massenauswanderungen aus Serbien nach dem Zerfall Jugoslawiens stieg in den 1990er Jahren die Zahl der im Ausland lebenden Staatsbürger Serbiens enorm. Die Volkszählung 2002 ergab, dass rund 414.839 Staatsbürger Serbiens im Ausland lebten, was im Vergleich zu 1991 einen Zuwachs um fast 150.000 bedeutete.[10] 1971 hatte die Volkszählung 203.981 serbische Staatsbürger im Ausland ausgewiesen, 1981 269.012 und 1991 273.817. [11] Gegenwärtig wird die Zahl der Auswanderer serbischer Herkunft (mit serbischer Staatsbürgerschaft und ohne serbische Staatsbürgerschaft) auf 3,5 Millionen geschätzt.[12]
Von der jüngsten Auswanderungswelle waren nicht alle Regionen Serbiens gleich betroffen. Als Auswanderungsgebiete galten und gelten vor allem Bezirke in Ostserbien. 1991 und 2002 war der Anteil der Auswanderer an der Bevölkerungszahl in einigen Gemeinden Ostserbiens höher als 20%. In den 1990er Jahren nahm die Emigration aus den Gebieten an der Grenze Serbiens zu Montenegro (Sandzak) stärker zu.[13] Laut Angaben des Statistischen Amtes der Republik Serbien hatten im Jahr 2007 rund 40% aller Familien in Serbien Freunde oder Verwandte im Ausland. Die Mehrheit von diesen (57%) lebt in Europa.[14]
Das sozialistische Regime in Jugoslawien spielte bei den Auswanderungen aus Jugoslawien von den 1960er Jahren bis zum Zerfall der jugoslawischen Föderation eine aktive Rolle. Das jugoslawische Regime bemühte sich dabei, den Migrationsstrom durch bilaterale Verträge mit den Aufnahmeländern zu regeln. Um den Einfluss auf die ausgewanderten Staatsbürger nicht zu verlieren, versuchte die Regierung, die Arbeitsmigranten von den politisch motivierten Migranten zu trennen und die Gastarbeiter aus Jugoslawien vor einer Westernisierung in den Aufnahmeländern zu „schützen“. So unterstützte das jugoslawische Regime unter anderem die Arbeit der Vereine der jugoslawischen Gastarbeiter. Trotz des politischen Risikos bremste Jugoslawien damals die Emigration nicht wirklich. Die tolerante Auswanderungspolitik des kommunistischen Regimes in Jugoslawien war in erster Linie durch die Tatsache motiviert, dass sich die Auswanderung dank der Gastarbeiterüberweisungen ins Heimatland und der Reduzierung der Arbeitslosigkeit positiv auf die wirtschaftliche Lage in Jugoslawien auswirkte, die sich aufgrund des Scheiterns der Wirtschaftsreform und des Bevölkerungszuwachses (von 17 Millionen im Jahr 1953 auf 20,5 Millionen 1971) verschlechterte. Der Export der überschüssigen Arbeitskraft war ein Mittel zur Entlastung des jugoslawischen Arbeitsmarktes, in dem die Arbeitslosigkeit stieg. Dank der Überweisungen der jugoslawischen Gastarbeiter hielten sich auch die negativen Folgen des hohen Handelsbilanzdefizits Jugoslawiens in Grenzen. Im Jahr 1972 deckten die Netto-Überweisungen, Pensionen und Schenkungen der jugoslawischen Gastarbeiter rund 95% des Handelsbilanzdefizits der Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien. Neun Jahre später belief sich die Gesamtsumme der Überweisungen, Pensionen und Schenkungen der jugoslawischen Auswanderer auf fünf Milliarden Dollar.[15]
Die Gastarbeiterüberweisungen stellten auch nach dem Zerfall Jugoslawiens wichtige Devisenquelle für die Nachfolgestaaten dar. Im Jahr 2000 überwiesen serbisch-montenegrinische Migranten rund 1,1 Milliarden Dollar nach Serbien und Montenegro. Sechs Jahre später schätzte die Weltbank die Überweisungen der serbischen und montenegrinischen Migranten auf 4,7 Milliarden Dollar, was fast 14% des damaligen Bruttoinlandsproduktes Serbiens und Montenegros ausmachte.[16]
Überweisungen von Emigranten nach Serbien und Montenegro 2000-2006 (in Millionen Dollar)[17]
Die Geschichte der Massenauswanderungen aus Jugoslawien bzw. Serbien zeigt exemplarisch deren positive und negative Wirkung auf die Wirtschaft des Auswanderungslandes. Alles in allem haben die Überweisungen der serbischen Migranten wesentlich zur makroökonomischen Stabilität und Entwicklung Serbiens beitragen. Ein ganz besonders Problem ist allerdings der Brain Drain in den 1990er Jahren mit seinen nicht nur wirtschaftlichen, sondern auch kulturellen und politischen Folgen. Die serbische Wirtschaft und Gesellschaft konnte nach dem Machtwechsel im Jahr 2000 diesen Verlust nicht kompensieren. Zwar verliert nach 2000 die Auswanderung der hoch qualifizierten Serben an Intensität, die ausgewanderten Experten sind jedoch nicht zurückgekehrt.
[1] Essay zur Quelle: Migranten mit serbischer Staatsbürgerschaft aus Zentralserbien und Vojvodina im Ausland, statistische Übersicht (1971-2002); [Tabelle].
[2] Vgl. Petranovic, Branko; Zecevic, Momcilo, Jugoslavija 1918-1988. Tematska zbirka dokumenata, Belgrad 1988, S. 1195.
[3] Vgl. Primorac, Milena, Strani radnici. Sociološki aspekti privremene ekonomske emigracije, Belgrad 1980. Dobrivojevic, Ivana, U potrazi za blagostanjem. Odlazak jugoslovenskih državljana na rad u zemlje Zapadne Evrope 1960-1977, in: Istorija 20. veka, 2 (2007), S. 97.
[4] Vgl. Herbert, Ulrich, Geschichte der Ausländerpolitik in Deutschland. Saisonarbeiter, Zwangsarbeiter, Gastarbeiter, Flüchtlinge, München 2001, S. 198-199.
[5] Vgl. Primorac, Strani radnici S. 15; Dobrivojevic, U potrazi, S. 97.
[6] Vgl. Penev, Goran (Hg.), Stanovništvo i domacinstva Srbije prema popisu 2002. godine, Belgrad 2006, S. 97.
[7] Vgl. Ebd.
[8] Vgl. Grecic, Vladimir, Vlastimir Matejic, Djuro Kutlaca, Obrad Mikic, Migracije visokostrucnih kadrova i naucnika iz SR Jugoslavije, Belgrad 2006, S. 34-35.
[9] Vgl. Ebd.
[10] Vgl. Penev, Stanovništvo, S. 97.
[11] Vgl. Ebd.
[12] Vgl. http://www.mzd.gov.rs/cyr/Ministry/SectorDetails.aspx?id=122&color=true&cid=442 (17.06.2010).
[13] Vgl. Penev, Stanovništvo, S. 100.
[14] Vgl. Republika Srbija, Republicki zavod za statistiku, Ad hoc istrazivanje o neobuhvacenoj ekonomiji.
[15] Vgl. Höll, Otmar (Hg.), Österreich-Jugoslawien. Determinanten und Perspektiven ihrer Beziehungen, Wien 1988, S. 385.
[16] Vgl. World Bank, Migration and Remittances Factbook 2008.
[17] Vgl. Ebd.
Literaturhinweise
Grecic, Vladimir; Matejic, Vlastimir; Kutlaca, Djuro; Mikic, Obrad, Migracije visokostrucnih kadrova i naucnika iz SR Jugoslavije, Belgrad 2006.
Grecic, Vladimir (Hg.), Jugoslovenske spoljne migracije. Analiticke osnove za utvrdjivanje politike SR Jugoslavije u oblasti spoljnih migracija, Belgrad 1998.
Herbert, Ulrich, Geschichte der Ausländerpolitik in Deutschland. Saisonarbeiter, Zwangsarbeiter, Gastarbeiter, Flüchtlinge, München 2001.
Höll, Otmar (Hg.), Österreich-Jugoslawien. Determinanten und Perspektiven ihrer Beziehungen, Wien 1988.
Penev, Goran (Hg.), Stanovništvo i domacinstva Srbije prema popisu 2002. godine, Belgrad 2006.