Das Tor zur Welt, die „Politik der Elbe“ und die EWG. Hamburger Europapolitik in den 1950er und 1960er Jahren[1]
Von Christoph Strupp
Der wirtschaftliche Zusammenschluss Westeuropas in der Nachkriegszeit ist ein politisches Projekt, das sich in der Rückschau als Erfolgsgeschichte darstellt. Der Weg von der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) von 1952 mit sechs Mitgliedsländern zur Europäischen Union der Gegenwart mit 27 Mitgliedern war allerdings kompliziert, denn gegensätzliche wirtschaftliche Interessen und politische Ziele der beteiligten Nationalstaaten mussten in immer neuen Kompromissen austariert werden. Unterschiedliche ideologische Vorstellungen über den Charakter des Europäischen Hauses und das Verhältnis der zentralen Institutionen in Brüssel und Straßburg zu den Regierungen und Parlamenten der Mitgliedsstaaten führten und führen bis heute zu Konflikten. Diese Entwicklungen sind oft beschrieben worden.[2] Regionale bzw. lokale Dimensionen der Europadebatten der Nachkriegszeit sind dagegen bisher weniger untersucht worden, obwohl hier Ansprüche, Erwartungen und Ängste angesichts des sich zusammenschließenden Europas noch einmal in anderer Weise zum Ausdruck kommen als auf der nationalen Ebene.
Dies soll im Folgenden am Beispiel der Europadebatten und der Europapolitik Hamburgs in den 1950er und frühen 1960er Jahren konkretisiert werden. Beides war in dieser Zeit ganz von den Interessen des Hafens bestimmt: Dabei ging es zunächst um den Wiederaufbau der Wirtschaftskontakte nach Mittel- und Osteuropa und die Überwindung der europäischen Teilung durch eine grenzübergreifende „Politik der Elbe“. Parallel wandte man sich gegen einen buchstäblich exklusiven Zusammenschluss Westeuropas, den man mit der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) 1957 befürchtete, und gegen eine drohende Verlagerung des wirtschaftlichen Schwerpunkts der EWG zum Rhein und zu den Rheinmündungshäfen Rotterdam und Antwerpen. Als der sozialdemokratische Hamburger Bürgermeister Paul Nevermann im November 1962 eine Grundsatzrede über den Hafen hielt und „eine Reihe ungünstiger Entwicklungstendenzen“ skizzierte, fasste er Positionen und Argumente zusammen, die seit Mitte der 1950er Jahre in der Hansestadt in Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Öffentlichkeit parteiübergreifend intensiv diskutiert worden waren.
Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs stand der Hamburger Hafen als größter deutscher Seehafen vor besonderen Herausforderungen. In den ersten Jahren ging es darum, die materiellen Grundlagen des Hafenbetriebs zu erhalten bzw. wiederherzustellen. Die 1946 und 1947 beschlossenen umfangreichen städtischen Investitionen in einen wettbewerbsfähigen „schnellen Hafen“ zahlten sich früher als erwartet aus: Die sprunghaft steigende Nachfrage nach Konsum- und Investitionsgütern in der jungen Bundesrepublik ließ die Umschlagszahlen innerhalb kurzer Zeit in die Höhe schnellen, wobei Hamburg allerdings hinter seinen westlich gelegenen Konkurrenten zurückblieb. Der Beginn des Koreakriegs 1950 und die Aufhebung der letzten Beschränkungen des Alliierten Kontrollrats für den deutschen Schiffbau 1951 sorgten auch bei den beschäftigungsintensiven Werften wieder für volle Auftragsbücher.[3]
Gegenüber dem in wenigen Jahren bewältigten materiellen Wiederaufbau des Hamburger Hafens stellte die langfristige Sicherung seiner Wettbewerbsposition unter den veränderten politischen Rahmenbedingungen der Nachkriegszeit die größere Herausforderung dar. Bis 1914 hatte Hamburg von der ersten Welle des globalisierten Welthandels profitiert. Auf diese „goldenen“ Jahre war in der ersten Hälfte des „kurzen“ zwanzigsten Jahrhunderts jedoch eine Krise nach der anderen gefolgt. Nun schien sich mit der Abtrennung des Hinterlandes in Mittel- und Osteuropa der Bedeutungsverlust des Hamburger Hafens auch in der Nachkriegszeit fortzusetzen. Schließlich waren die Wirtschaftsbeziehungen in der Zwischenkriegszeit stark auf den Osten gerichtet gewesen, während die Transportbedürfnisse des süd- und westdeutschen Handels und der dortigen Industrie stärker über die niederländischen und belgischen Häfen bedient wurden. Durch die Spaltung Europas drohte die Hansestadt nun zu einer „Sackgasse mit Hafenanschluss“ zu werden.[4] Diese Angst sollte sich vor allem im Vergleich mit den Konkurrenten als faktisch durchaus begründet erweisen: Zwar steigerte Hamburg den Gesamtumschlag im Hafen von den späten 1950er bis in die frühen 1970er Jahre um über 68 Prozent, blieb damit aber prozentual und auch in absoluten Zahlen gegenüber Rotterdam, das ein Plus von über 263 Prozent aufwies, und Antwerpen mit einem Zuwachs von 82 Prozent zurück.[5]
Hanseatische Osteuropapolitik: Die „Politik der Elbe“
Hamburg reagierte darauf mit einer eigenständigen Außenwirtschaftspolitik gegenüber dem Osten, die ab Mitte der 1950er Jahre unter dem Schlagwort der „Politik der Elbe“ firmierte – eine „Politik der praktischen Verständigung und der Schaffung eines neuen Gleichgewichtes in der Mitte Europas“, wie sie der im Dezember 1953 neu ins Amt gelangte Bürgermeister Kurt Sieveking (CDU) charakterisierte.[6] Bereits in seiner ersten Regierungserklärung hatte Sieveking betont: „Das hamburgische Hafen- und Schifffahrtsinteresse richtet sich, in Fortführung einer alten Verkehrstradition, insbesondere auf Österreich, die Tschechoslowakei und andere europäische Länder. Mit großer Sorgfalt muss gerade im Verkehr mit anderen Ländern des Ostens und Südostens den Erfordernissen des Seehafenverkehrs handelspolitisch Rechnung getragen werden.“[7]
Der neue Hafensenator Ernst Plate (FDP) setzte diesen Anspruch in den kommenden vier Jahren in konkretes Handeln um. Plate war zuvor Direktor der städtischen Hamburger Hafen- und Lagerhaus-Aktiengesellschaft (HHLA) gewesen. Mit seiner Berufung erreichte die Identität von Hamburger Wirtschaftspolitik und Hafeninteressen auch personell eine neue Stufe. Plate erkannte zwar an, dass der Handel zwischen West und Ost unvermeidlich auch eine politische Dimension hatte, wollte diese aber so weit wie möglich in den Hintergrund rücken, denn „die wirtschaftlichen Wechselbeziehungen zwischen den beiden Hemisphären können zu einer Wohlfahrt der Völker führen“.[8]
Erste Schritte Richtung Osten unternahm Hamburg zunächst gegenüber dem neutralen Österreich. 1954 war der Hafen auf den Herbstmessen in Wien und Graz vertreten. Vor der Presse und bei einem Empfang der Hansestadt im Palais Auersperg in Wien warb Plate persönlich um den österreichischen Transithandel. Das Engagement zahlte sich aus Hamburger Sicht aus, denn in Österreich sei „über Hamburg und seinen Hafen wohl noch nie so viel und nachhaltig geschrieben und gesprochen worden wie in diesen Wochen“, hieß es hinterher in der Fachpresse.[9] In den folgenden Jahren wurden die glanzvollen Auftritte in der Alpenrepublik zu einer festen Größe, und in der Zwischenzeit besorgte die „Hamburger Hafenvertretung Wien“ das Alltagsgeschäft. Die für Österreich umgeschlagenen Gütermengen stiegen von Jahr zu Jahr deutlich an.
Zwar waren die Hamburger Aktivitäten in Österreich nicht durch den Ost-West-Konflikt belastet, aber dass auch hier außenpolitische Fallstricke lauerten, zeigte sich Mitte 1957, als Sieveking und Plate überraschend eine Einladung zu Gesprächen im italienischen Triest erhielten. Triest stellte im österreichischen Transithandel die Hauptkonkurrenz für den Hamburger Hafen dar – bzw. aus österreichischer Sicht die wichtigste Alternative –, und in Wien wurde mit höchster Besorgnis registriert, dass die Italiener an Absprachen über die Aufteilung des Transportmarktes interessiert waren und Hamburg sich einem solchen Ansinnen nicht von vornherein verweigert hatte. Plate gelang es schließlich, die Bedenken über eine Kartellpolitik und eine „Entente Cordiale Hamburg-Triest“ zu zerstreuen.[10]
Die Öffnung gegenüber der CSSR, Ungarn und der DDR, der eigentliche Kern der „Politik der Elbe“, gestaltete sich schwieriger und wurde von Problemen im Devisenverkehr, Mengenbegrenzungen und Ungleichgewichten in den Handelsbilanzen behindert. Zudem konnte sich Hamburg hier nicht losgelöst von den bundes- und weltpolitischen Dimensionen des „Osthandels“ bewegen, d.h. man war auch auf Fortschritte in den Verhandlungen der Bundesregierung mit den Ostblockstaaten angewiesen.[11] Plate verfolgte besorgt angebliche osteuropäische Autarkiebestrebungen und den politisch geförderten Aufschwung Wismars, Stettins und Danzigs. Man vertraue aber darauf, so der Hafensenator, dass Hamburgs „frachtgünstige und natürliche Position in Mitteldeutschland und Osteuropa anerkannt“ bleibe, und tatsächlich waren nach 1953 im Güterverkehr nach Osten Zuwachsraten zu verzeichnen.[12] Das Volumen blieb aber noch hinter den Vorkriegsmengen zurück.
Im Sommer 1956 reiste Plate nach Prag, um „einen unpolitischen Kontakt“ zu tschechischen Stellen anzubahnen. Zu diesem Zeitpunkt betrug der tschechoslowakische Transitverkehr über Hamburg bereits wieder wie in der Vorkriegszeit über eine Million Tonnen im Jahr, aber prozentual hatte der Hafen für den Außenhandel der CSSR an Gewicht verloren.[13] Im Frühjahr 1957 waren die Hamburger auf der Leipziger Messe präsent. Ostdeutsche und tschechoslowakische Experten wurden zu Gesprächen über den Bau eines Nord-Süd-Kanals eingeladen, der die Elbe besser an die westdeutschen Binnenwasserstraßen anbinden sollte. Auch in Polen beteiligten sich Hamburger Firmen an Warenmessen, und Plate warb in der dortigen Presse mit der Leistungsfähigkeit des Hafens. Dass die wirtschaftlich begründete Offenheit der Hamburger gegenüber dem Osten wohlwollend registriert wurde, zeigte sich im Juni 1957, als Plate auf sowjetische Initiative hin mit einer hochrangigen Delegation nach Leningrad reiste. Der Besuch wurde im Oktober erwidert und mündete mitten im Kalten Krieg in eine Städtepartnerschaft der beiden Hansestädte.
Nach seinem Ausscheiden als Senator Ende 1957 kehrte Plate zur HHLA zurück und setzte sich weiterhin nachdrücklich für die „Politik der Elbe“ ein. „Wir brauchen Ost-Kontakte“, lautete unverändert die Losung. Sie wurde mit Forderungen an die Bundesregierung nach Investitionen in die Infrastruktur von Binnenschifffahrt und Bundesbahn sowie nach einem Elbe-Vertrag mit der CSSR über die Schifffahrt Richtung Westen verbunden.[14] Im März 1958 war Plate wieder zur Frühjahrsmesse in Leipzig, und zwei Monate später reiste er zu Wirtschaftsgesprächen nach Budapest. An den politischen Rahmenbedingungen für diese Kontakte hatte sich nichts geändert: Sievekings sozialdemokratische Nachfolger Max Brauer und Paul Nevermann führten als Hamburger Bürgermeister die „Politik der Elbe“ fort.
Hafenpolitik in Westeuropa: Wirtschaftsgemeinschaft oder Freihandelszone?
Neben dem Verlust des östlichen Hinterlandes, auf den die Senate der Hansestadt durchaus geschickt reagierten, entstand in den 1950er Jahren mit der Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) ein zweites Aktionsfeld für Politik und Wirtschaft, auf dem das Hamburger Vorgehen ganz von den Interessen des Hafens bestimmt war. In der bereits erwähnten Regierungserklärung hatte Bürgermeister Sieveking 1953 gewarnt: „Aufgeschlossen für das Denken in großen Räumen und für internationale Zusammenarbeit sympathisieren Wirtschaft und Bevölkerung Hamburgs, seit es einen konkreten europäischen Gedanken gibt, mit jeder Integration. Aber diese europäische Integration darf für die Handels- und Schifffahrtsstadt Hamburg letzten Endes nicht eine kleineuropäische und westliche sein, so sehr auch diese zu begrüßen ist.“[15] Die Hansestadt war prinzipiell geprägt von Internationalität und dem Selbstverständnis als „Tor zur Welt“.[16] In den frühen 1950er Jahren gehörten Hamburger Politiker und Wirtschaftsvertreter zu den entschiedensten Verfechtern Europas.[17] Als das europäische Projekt aber Mitte der 1950er Jahre konkrete Züge annahm, verbanden die Hamburger mit seiner Verwirklichung mindestens ein Jahrzehnt lang eher Ängste als Hoffnungen.
Noch vor der Gründung der EWG und bevor die Verträge in allen Einzelheiten bekannt waren, gingen Verkehrswissenschaftler davon aus, dass der Zusammenschluss „der europäischen Seehafenpolitik ein völlig anderes Gesicht verleihen und sie vor neue Aufgaben stellen“ werde. Insbesondere die Benelux-Häfen forderten marktwirtschaftliche Strukturen auch in der Verkehrspolitik und ein Ende der Förderung bestimmter Häfen durch spezielle Eisenbahnfrachttarife. Dies hätte für die deutschen Seehäfen „die völlige Verdrängung“ aus einem Teil ihres Hinterlandes bedeutet, das tatsächlich weniger „natürlich“ war, als Plate immer wieder behauptete, sondern erst durch die Subventionen geschaffen wurde. Auch eine weitgehende Angleichung der Hafengebühren hätte vor allem Hamburg geschadet.[18]
Der EWG-Vertrag klammerte das Verkehrswesen zunächst aus und legte in Artikel 74 nur fest, dass eine gemeinsame Verkehrspolitik zu betreiben sei, für die innerhalb von acht Jahren Regelungen getroffen werden sollten.[19] Bedingt durch die Interessengegensätze der Mitgliedsländer, sollte es dann tatsächlich bis in die 1980er Jahre dauern, ehe weiter reichende Vorschriften erlassen werden konnten. Dass aber das niederländische Verkehrsausschussmitglied Paul J. Kapteyn im Oktober 1957 in einem Bericht eine marktwirtschaftliche Tarifpolitik forderte, und der Luxemburger EWG-Verkehrsexperte Lambert Schaus 1960 betonte, die Vertragsvorschriften seien uneingeschränkt auch auf das Verkehrsgewerbe anwendbar, oder dass die Kommission im April 1961 eine detaillierte „Denkschrift über die Grundausrichtung der gemeinsamen Verkehrspolitik“ vorlegte – diese Brüsseler Aktivitäten schienen zunächst die schlimmsten Befürchtungen zu bestätigen.
Hamburg setzte in den kommenden Jahren alles daran, die Seehäfen so lange wie möglich aus gemeinsamen Regelungen herauszuhalten und die Nichtzuständigkeit der EWG für den Seeverkehr zu behaupten. Bestrebungen der EWG, „sich im ausgesprochenen Verkehrssektor einnisten zu wollen“, müsse man widerstehen, erklärte Plate im November 1959.[20] Seehäfen seien „sehr komplexe und sehr individuelle Gebilde“, deren Belange eigenverantwortlich vor Ort geregelt werden müssten, sekundierte der Hamburger Hafenbaudirektor Friedrich Mühlradt.[21] Andere verteidigten das deutsche Prinzip der Gemeinwirtschaft im Verkehrswesen gegenüber den kommerzialisierten Verhältnissen in den Niederlanden.[22] Erst als absehbar war, dass der Güterverkehr und die Seehäfen mittelfristig von EWG-Regelungen erfasst würden, verschob sich die Hamburger Position allmählich zu der Bereitschaft, sich für mehr Wettbewerb zu öffnen. Allerdings knüpfte man dies an die Voraussetzung, vorher die unterschiedlichen Ausgangsbedingungen zu harmonisieren. Konkret bedeutete dies, dass die Bundesregierung die Hamburger Randlage gegenüber den Rheinmündungshäfen durch einen umfassenden Ausbau der Binnenschifffahrts-, Bahn- und Straßenverbindungen in Nord-Süd-Richtung ausgleichen sollte.
Ein zweites kritisches Argument gegenüber der EWG formulierte Senator Plate im März 1957 in einem Pressegespräch: Man unterstütze selbstverständlich die Ziele des Gemeinsamen Marktes, müsse die Zustimmung aber mit „einigen Vorbehalten“ verknüpfen, denn es sei zu befürchten, dass sich Produkte aus der DDR und den übrigen Ostblockstaaten in der Bundesrepublik gegen die zollfrei eingeführten Waren aus Westeuropa nicht mehr behaupten könnten. Zudem würden sie an der EWG-Außengrenze „vor einer hohen Zollmauer“ stehen. Daraus könne sich „eine weitere Teil-Emanzipierung Westeuropas“ ergeben, die der Senator ablehnte. Stattdessen sollte die Einbeziehung Mittel- und Osteuropas in den Gemeinsamen Markt bereits in die Präambel des Hauptvertrags aufgenommen werden.[23] Diese Argumentation war quasi eine Hamburg-spezifische Zuspitzung der in der Bundesrepublik verbreiteten Bedenken, die Westintegration werde die deutsche Teilung besiegeln und einer Wiedervereinigung im Weg stehen. Angesichts der Erfolge im wirtschaftlichen Kontakt mit Osteuropa trat sie aber bald in den Hintergrund.
Dafür klang ebenfalls schon 1957 ein weiteres Argument bei Plate an, das in den kommenden Jahren öffentlich sowie in zahllosen Vermerken und Gutachten der Wirtschaftsbehörde und auch in der Rede Nevermanns 1962 eine zentrale Rolle spielen sollte: Die EWG mit ihrem einheitlichen Außenzoll werde dazu führen, dass sich die transkontinentalen Handelsströme etwa bei landwirtschaftlichen Produkten von den unabhängigen Staaten Lateinamerikas – engen Handelspartnern Hamburgs – zu den überseeischen Kolonien Frankreichs verlagern würden, die ihre Waren wiederum hauptsächlich über die weiter westlich oder im Mittelmeer gelegenen Häfen einführten. Dass in Triest oder Venedig Hafenexperten den Gemeinsamen Markt begrüßten, schien diese Sorgen zu bestätigen. Eng damit verwandt war die Befürchtung, dass sich auch innerhalb Europas eine Teilung ergeben werde, die zu einem Aufschwung des Warenaustauschs im zollfreien Binnenmarkt – von dem Hamburg aufgrund seiner Randlage kaum profitieren konnte – und einem Rückgang des Handels mit dem nahegelegenen Großbritannien und den Ländern Skandinaviens führen werde.[24] Besonders die Aussicht auf eine EWG ohne Großbritannien war wegen dessen ökonomischer Bedeutung und der traditionell ausgeprägten Anglophilie des Hamburger Wirtschaftsbürgertums schwer erträglich.[25]
Hamburg setzte seine Hoffnungen deshalb auf die Schaffung einer größeren und blockübergreifenden Europäischen Freihandelszone, wie sie z.B. auch Bundeswirtschaftsminister Ludwig Erhard befürwortete. Die deutschen Seehäfen plädierten „leidenschaftlich für eine Freihandelszone und ebenso für die ungestörte Weiterpflege des europäischen Handels mit allen überseeischen Ländern“. Die Hamburger Handelskammer forderte die gleichzeitige Einrichtung von EWG und Freihandelszone. Zudem verteidigte man das seit 1888 bestehende Freihafenprivileg, das es Hamburg ermöglichen sollte, eine Scharnierfunktion zwischen der EWG und anderen Wirtschaftsräumen einzunehmen.[26]
Hinter den Kulissen versuchte Hamburg frühzeitig, eine gemeinsame Front der norddeutschen Küstenländer zustande zu bringen. Beschlossen wurde im Juni 1958 die Gründung eines „Arbeitskreises Seehafeninteressen“, in dem man nicht nur die Stellung der Seehäfen sichern, sondern zugleich gegenüber der Bundesregierung – und in Verlängerung gegenüber der Brüsseler Kommission – auch deutlich machen wollte, dass die Häfen eine genuine Angelegenheit der Länder seien. Die Arbeit in dem neuen Gremium wurde allerdings von Gegensätzen zwischen den Küstenländern – im Bereich des Überseehandels zwischen Hamburg und dem geographisch günstiger gelegenen Bremen, beim Schiffbau auch zwischen Hamburg und Schleswig-Holstein – überschattet. Als der Präsident der EWG-Kommission, Walter Hallstein, vor einer Grundsatzrede in Rotterdam am 12. September 1958 um ein Exposé zu den potentiellen Nachteilen der EWG für den deutschen Seeverkehr bat, nutzten die Hamburger die Gelegenheit, ihre Position separat in düsteren Farben darzustellen.[27]
Obwohl sich die Hamburger Befürchtungen über massive wirtschaftliche Einbrüche im Hafen nicht bestätigten, sondern nur die Zuwachsraten gegenüber der Konkurrenz geringer ausfielen, und insbesondere die wissenschaftlichen Gutachten neben den Problemen stets auch die Chancen des Gemeinsamen Marktes hervorhoben, war die Rede Bürgermeister Nevermanns 1962 noch von dem pessimistischen und gelegentlich sogar alarmistischen Grundton geprägt, der seit den Tagen Sievekings und Plates eine Konstante gebildet hatte. Eine entspanntere Einschätzung der EWG ergab sich erst in den späten 1960er Jahren. So hob der neue Wirtschaftssenator Helmuth Kern (SPD) im Juni 1968 anlässlich des vorzeitigen Inkrafttretens der Zolltarifunion hervor, dass die EWG zu hohen Wachstumsraten sowohl im Handel zwischen den Mitgliedsstaaten als auch im Außenhandel geführt habe. Von einer Erweiterung um Großbritannien und skandinavische Länder erwartete Kern zusätzliche positive Impulse für den Hamburger Hafen.[28] Zu diesem Zeitpunkt hatten die Hamburger auch gelernt, Fördertöpfe der EWG zu nutzen oder Brüssel gegen unerwünschte Subventionen Frankreichs und Italiens für deren Werftindustrien zu mobilisieren.
Die Bedürfnisse des Hamburger Hafens motivierten die Senate der Hansestadt in den 1950er und 1960er Jahren parteiübergreifend zu einer eigenständigen Europapolitik, die Richtung Osten politische Gegensätze ausklammerte und stattdessen gemeinsame wirtschaftliche Interessen in den Vordergrund stellte. Zwar wurde diese Politik mit der Forderung nach einer Wiedervereinigung Deutschlands verbunden – ja, die Kontaktpflege zum Osten geradezu zu einer Voraussetzung dafür gemacht –, war aber bemerkenswert sowohl in ihrer von der außenpolitischen Zurückhaltung der Bundesregierung abweichenden Linie als auch in ihrem Anspruch, als Stadtstaat überhaupt in dieser Form international agieren zu können.
Dass man sich dabei auf dünnem Eis bewegte, war den Verantwortlichen bewusst: So berichtete Plate später, wie er vor seiner Reise nach Prag im Herbst 1956 mit einem unguten Gefühl bei einem Frühstück für Bundesaußenminister Heinrich von Brentano gesessen hatte, um den bevorstehenden Besuch zu „beichten“. Bürgermeister Sieveking hatte es abgelehnt, diese Aufgabe zu übernehmen: „Das tun Sie man selbst. Wir wollen erst einmal die Reaktion abwarten. Wenn’s schiefgeht, habe ich immer noch Gelegenheit, Sie rauszupauken!“ Brentano hatte allerdings keine Einwände. Bundeskanzler Adenauer zeigte dagegen für die „Ost-Eskapaden“ der Hamburger und deren außenpolitische Implikationen wenig Verständnis.[29]
Auch die lang anhaltende kritische Einstellung in der Hansestadt gegenüber einem westeuropäischen wirtschaftlichen Zusammenschluss in Gestalt der EWG stellte eine Hamburger Besonderheit dar. Hier hatten maßgebende Kreise aus Politik und Wirtschaft aber kaum Möglichkeiten, auf die Entwicklung Einfluss zu nehmen. Mahnungen, wie sie Bürgermeister Nevermann Ende 1962 gebündelt vorgetragen hatte, wurden im Verkehrs- und Wirtschaftsministerium in Bonn freundlich zur Kenntnis genommen, blieben aber ohne größere Folgen, zumal die tatsächliche wirtschaftliche Entwicklung des Hafens seit den frühen 1950er Jahren eben nie so ungünstig verlaufen war wie die Hamburger suggerierten.
[1] Essay zur Quelle: Bürgermeister Dr. Nevermann, Vortrag bei der DAG zu Hamburgs Hafen und seiner Entwicklung im Zeichen der EWG (Universität Hamburg, 13. November 1962); [Auszüge].
[2] Vgl. zuletzt Thiemeyer, Guido, Europäische Integration. Motive, Prozesse, Strukturen, Köln 2010; Brunn, Gerhard, Die europäische Einigung von 1945 bis heute, Stuttgart 2009.
[3] Vgl. Bajohr, Frank, Der Hamburger Hafen zwischen Weltkrieg und Koreakrieg, in: ders. u.a. (Hgg.), Improvisierter Neubeginn. Hamburg 1943-1953. Ansichten des Photographen Germin, Hamburg 1989, S. 122-130.
[4] Vgl. Bajohr, Frank, Hanseat und Grenzgänger. Erik Blumenfeld, eine politische Biographie, Göttingen 2010, S. 84-86 (Zitat S. 86); ders., Hochburg des Internationalismus. Hamburger ‚Außenpolitik‘ in den 1950er und 1960er Jahren, in: Zeitgeschichte in Hamburg 2008, Hamburg 2009, S. 25-43, hier S. 28f.
[5] Vgl. Gerhardt, Jürgen, Die Wettbewerbsposition der Seehäfen Hamburg und Bremen im Vergleich zu Rotterdam und Antwerpen, Reutlingen 1984, S. 66.
[6] So die Definition Kurt Sievekings 1955, zitiert nach Plate, Ernst, Politik der Elbe, in: Bürgermeister a.D. Dr. Kurt Sieveking zum 70. Geburtstag am 21. Februar 1967, Hamburg 1967, S. 45-48, hier S. 46.
[7] Stenographische Berichte über die Sitzungen der Bürgerschaft zu Hamburg im Jahre 1953, Hamburg 1953, S. 697.
[8] Für einen starken Ost-West-Verkehr, in: Die Welt, 25.01.1955.
[9] Hamburger Hafen-Nachrichten, 15.10.1954.
[10] Entente Cordiale Hamburg-Triest?, in: Verkehr 13 (1957), S. 526, 531f.; Hamburg und die Triestiner Konzeption der Distanzen, ebd., S. 573-575.
[11] Vgl. Spaulding, Robert Mark, Osthandel and Ostpolitik. German Foreign Trade Policies in Eastern Europe from Bismarck to Adenauer, Providence, RI 1997, S. 349-469.; Statistiken zum Osthandel, ebd., S. 513-520; Noh, Meung-Hoan, Westintegration versus Osthandel. Politik und Wirtschaft in den Ost-West-Beziehungen der Bundesrepublik Deutschland 1949-1958, Frankfurt/M. 1995.
[12] Hamburgs ‚Politik der Elbe‘, in: Die Welt, 31.03.1955 (Zitat ebd.); Senator Plate warnt vor einheitlich ausgerichteter Seeverkehrspolitik der Ostblockstaaten, in: Vereinigte Wirtschafts-Dienste (VWD) Frankfurt/M., 23.11.1955; Plate, Ernst, Die Kernfrage für Europas Häfen: Die Politisierung des Seeverkehrs, in: Verkehr 15 (1959), S. 11-14.
[13] Hamburger Angebot an Prag, in: Die Welt, 07.07.1956. Vgl. Jakubec, Ivan, Schlupflöcher im ‚Eisernen Vorhang‘. Tschechoslowakisch-deutsche Verkehrspolitik im Kalten Krieg. Die Eisenbahn und Elbeschifffahrt 1945-1989, Stuttgart 2006, S. 24-50.
[14] Plate: Wir brauchen Ost-Kontakte, in: Die Welt, 14.01.1958.
[15] Stenographische Berichte, S. 698.
[16] Vgl. zuletzt Amenda, Lars; Grünen, Sonja, ‚Tor zur Welt‘. Hamburg-Bilder und Hamburg-Werbung im 20. Jahrhundert, München 2008; Bajohr, Hochburg, S. 25-43; Bajohr, Hanseat, S. 90-94.
[17] Vgl. Bajohr, Hochburg, S. 25-29.
[18] Schulz-Kiesow, Paul, Grundfragen der Integration der westeuropäischen Seehäfen, in: Zeitschrift für Verkehrswissenschaft 25 (1954), S. 144-180 (Zitate S. 147, 149).; vgl. zu den Hintergründen Pitzer, Frank, Interessen im Wettbewerb. Grundlagen und frühe Entwicklung der europäischen Wettbewerbspolitik 1955-1966, Stuttgart 2009; Hambloch, Sibylle, Europäische Integration und Wettbewerbspolitik. Die Frühphase der EWG, Baden-Baden 2009.
[19] Vgl. zur europäischen Verkehrspolitik in den 1950er und 1960er Jahren Ambrosius, Gerold; Henrich-Franke, Christian, Alte Pfade der Integration und der Versuch, nach dem Zweiten Weltkrieg neue Wege einzuschlagen: Das Beispiel der Infrastrukturen in Europa, in: Historical Social Research 32 (2007), S. 275-304; Stevens, Handley, Transport Policy in the European Union, London 2004, S. 36-65; Brabers, Jan, The Failure of European Transport Integration (1945-1955), in: Trausch, Gilbert (Hg.), Die Europäische Integration vom Schuman-Plan bis zu den Verträgen von Rom. Pläne und Initiativen, Enttäuschungen und Mißerfolge. Beiträge des Kolloquiums in Luxemburg, 17.-19. Mai 1989, Baden-Baden 1993, S. 57-73; Groeben, Hans von der, Aufbaujahre der Europäischen Gemeinschaft. Das Ringen um den Gemeinsamen Markt und die politische Union (1958-1966), Baden-Baden 1982, S. 110-112, 330-334.
[20] Plate: EWG hat sich noch nicht ‚freigeschwommen‘, in: Verkehr (15) 1959, S. 1761f.
[21] Mühlradt, Friedrich, Die Seehäfen in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, Göttingen 1959, S. 18.
[22] Vgl. Jolmes, Lothar, Gedanken zur Stellung der deutschen Seehäfen in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, in: Seidenfus, Hellmuth S. (Hg.), Beiträge zur Verkehrstheorie und Verkehrspolitik. Festgabe für Paul Berkenkopf zur Vollendung seines 70. Lebensjahres am 17. September 1961 dargebracht von Kollegen und Schülern, Düsseldorf 1961, S. 112-139 (Jolmes war Leiter des EWG-Referats im Zentralverband der deutschen Seehafenbetriebe in Hamburg); Berkenkopf, Paul, Grundfragen einer einheitlichen europäischen Verkehrspolitik, in: Greiß, Franz; Meyer, Fritz W. (Hgg.), Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur. Festgabe für Alfred Müller-Armack, Berlin 1961, S. 363-373; Erdmenger, Jürgen, Die Anwendung des EWG-Vertrages auf Seeschiffahrt und Luftfahrt, Hamburg 1962.
[23] Plates Vorbehalte zum gemeinsamen Markt, in: VWD Frankfurt/M., 05.03.1957 (Zitate ebd.); Plates ‚Ja mit Vorbehalt‘, in: Hamburger Anzeiger 05.03.1957.
[24] Seehäfen zum Gemeinsamen Markt, in: Verkehr 13 (1957), S. 365f.; Seeverkehr und Gemeinsamer Markt, in: Hansa 95 (1958), S. 1061-1063; Staatsarchiv Hamburg (StaHH) 371-16 II, Behörde für Wirtschaft und Verkehr II, 3876: Schriftwechsel, Vermerke und Materialien zur EWG 1957-1961; vgl. weiter Jürgensen, Harald, Der Einfluß der Wirtschaftsintegration Westeuropas auf den Güterverkehr im hamburgischen Hafen. Gutachten, erstattet der Behörde für Wirtschaft und Verkehr der Freien und Hansestadt Hamburg, Hamburg 1962.
[25] Vgl. Bajohr, Hanseat, S. 97-99; ders., Hochburg, S. 30-32.
[26] Hamburgs Zukunft im Blickfeld der EWG, in: Verkehr 13 (1957), S. 837; Geduld ..., in: Hansa 95 (1958), S. 2099; Plate, Kernfrage, S. 14 (Zitat); Die EWG hat begonnen, in: Hamburger Hafen-Nachrichten 12 (1959), H. 2, S. 5; Und die Freihandelszone? ebd., H. 4, S. 2f.
[27] Unterlagen in StaHH 371-16 II, Behörde für Wirtschaft und Verkehr II, 5099: Seehäfen und Seeschiffahrt, Bd. 1: 1958-1959. Die Rede Hallsteins u.a. veröffentlicht in: Hansa 95 (1958), S. 1931-1934.
[28] Kern, Helmuth, Hamburg und die EWG am 1. Juli 1968, in: Berichte und Dokumente aus der Freien und Hansestadt Hamburg Nr. 134, hg. von der Staatlichen Pressestelle, 28.6.1968.
[29] Plate, Politik der Elbe, S. 46. Zu Adenauer Bajohr, Hochburg, S. 33f.
Literaturhinweise:
Ambrosius, Gerold; Henrich-Franke, Christian, Alte Pfade der Integration und der Versuch, nach dem Zweiten Weltkrieg neue Wege einzuschlagen: Das Beispiel der Infrastrukturen in Europa, in: Historical Social Research 32 (2007), S. 275-304.
Bajohr, Frank, Hochburg des Internationalismus. Hamburger „Außenpolitik“ in den 1950er und 1960er Jahren, in: Zeitgeschichte in Hamburg 2008, Hamburg 2009, S. 25-43.
Jakubec, Ivan, Schlupflöcher im ‚Eisernen Vorhang‘. Tschechoslowakisch-deutsche Verkehrspolitik im Kalten Krieg. Die Eisenbahn und Elbeschifffahrt 1945-1989, Stuttgart 2006.