Ein Paradies für Experten? Über die Integration Russlands in die frühneuzeitliche Wissensgesellschaft

Ein holländischer Kupferstich aus dem Jahr 1725 zeigt den russischen Zaren Peter I., besser bekannt als der Große, als allegorische Heldengestalt. Obwohl Peter in diesem Bild einmal mehr in Rüstung mit Lorbeerkranz auftritt, steht er nicht als siegreicher Imperator im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, sondern als Förderer westeuropäischer Wissenschaft und Technik. Er öffnet seinem Land mit großzügiger Geste einen Zugang zu diesem Wissen, das er selbst in Westeuropa kennen und schätzen gelernt hat und von dem er Belegstücke nach Russland gebracht hat. [...]

Ein Paradies für Experten? Über die Integration Russlands in die frühneuzeitliche Wissensgesellschaft[1]

Von Andreas Renner

1. Russland als Bild Europas

Ein holländischer Kupferstich aus dem Jahr 1725 zeigt den russischen Zaren Peter I., besser bekannt als der Große, als allegorische Heldengestalt.[2] Obwohl Peter in diesem Bild einmal mehr in Rüstung mit Lorbeerkranz auftritt, steht er nicht als siegreicher Imperator im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, sondern als Förderer westeuropäischer Wissenschaft und Technik. Er öffnet seinem Land mit großzügiger Geste einen Zugang zu diesem Wissen, das er selbst in Westeuropa kennen und schätzen gelernt hat und von dem er Belegstücke nach Russland gebracht hat.

Die symbolischen Mitbringsel des Zaren sind in der Mitte der Darstellung auf und vor einem Tisch ausgebreitet: Bücher, Zeichnungen und Globen, mathematische, nautische und musikalische Instrumente. Daneben steht eine in altrussischer Kleidung gezeichnete Frauengestalt, die Russland repräsentiert. Sie verharrt im linken unteren Viertel des Kupferstichs in einer passiven Demutshaltung, halb gebeugt und mit geschlossenen Augen, die Arme in einem Moment der Überraschung oder auch des Schreckens gehoben. Auf der anderen Seite des Tisches, im goldenen Schnitt des Bildes, befindet sich Zar Peter: Er steht erhöht positioniert vor seinem Thron, als stolzer Geber verweist er mit der geöffneten linken Hand auf die neuartigen Gegenstände. Peters rechte Hand deutet derweil in einer Weise nach schräg vorne, die an die Siegerpose römischer Kaiserstatuen erinnert. In diesem Stich jedoch wirkt die Bewegung halb einladend, halb zeigend. Sie lenkt den Blick des Betrachters zum einen auf zwei weitere allegorische Figuren, die einvernehmlich auf einer Wolke am oberen linken Bildrand sitzen und, eine Leuchte beziehungsweise ein Kruzifix haltend, Vernunft und Glauben verkörpern. Zum anderen folgt Peters Arm dem Blick des Zaren auf den mittleren linken Bildrand, wo ein Dreimaster in voller Fahrt vor der neu erbauten Hauptstadt Petersburg zu erkennen ist. Das Großsegelschiff stellt nicht nur ein Symbol der damaligen europäischen Hochtechnologie dar, sondern verweist auch auf die dank Peter geschrumpfte Distanz zwischen Russland und dem Westen.

Die Kernaussage dieses Bildes erschließt sich leicht. Zar Peter wird hier als Kulturträger oder genauer: als Kulturbringer gewürdigt, der zugleich Möglichkeiten zur Wissensverwertung aufzeigt. Als Wegweiser wirkt Peter gegenüber der altrussischen Tradition ebenso aktiv wie die Vernunft am Bildrand gegenüber der Religion: Das Licht der Vernunft weist vorwärts, während der Glaube die Arme in einer beschwichtigenden Geste hebt wie die Frau vor Peter. Während Glaube und Vernunft in dem Kupferstich nur allegorisch dargestellt sind, liegen materialisierte Errungenschaften europäischer Wissenschaften griffbereit zwischen Zar und Russland. Diese Objekte repräsentieren neben der Nautik die sieben „freien Künste“ der europäischen Universität (Grammatik, Dialektik, Rhetorik, Arithmetik, Geometrie, Astronomie, Musik); es sind sowohl Ergebnisse und Träger von konkretem Wissen als auch Mittel, neues Wissen zu produzieren. Das Segelschiff und die Stadtlandschaft im Hintergrund führen dem Betrachter vor Augen, wie manche Vision des Zaren schon Wirklichkeit geworden ist.

Die in Westeuropa viel beachteten militärischen Erfolge Peters vor allem gegen die Großmacht Schweden sowie seine politischen Reformen treten somit gegenüber seiner Rolle als Wissensbringer zurück. Das ist allerdings nicht notwendigerweise als besondere Schwerpunktsetzung des Künstlers oder seines Auftraggebers zu verstehen, denn unbekannt ist, ob seine Darstellung nicht als Teil einer Serie entstand, die im Todesjahr Peters einen umfassenden Rückblick auf dessen Lebenswerk warf. Wichtiger ist festzuhalten, dass der Amsterdamer Kupferstecher Ottens eine westeuropäische Perspektive auf den berühmten Zaren einnahm. Er wird als großer Zivilisator dargestellt, der Russland in einen Teil Europas verwandelte – sichtbar etwa auch an der europäischen Kleidung von Passanten im Hintergrund oder an dem Kruzifix mit nur einem Querbalken (das in der Orthodoxen Kirche damals zwar offiziell kein Anathema mehr war, aber niemals das überkommene, zweibalkige Kreuz ersetzen konnte).

Demnach stellt der Kupferstich ein Ideal dar oder ein Wunschbild, in dem sich westeuropäische Erwartungen mit der Selbstdarstellung Peters als Neuerer mischten. Doch wie erfolgreich war der visualisierte Wissenstransfer tatsächlich, was passierte mit dem im Bild offerierten Wissen, wie – und wie fest – war das Zarenreich überhaupt in die frühneuzeitliche Wissensgesellschaft Europas eingebunden? Nahm Russland wirklich, wie es in der Bildunterschrift heißt, die Gaben Peters mit Dankbarkeit an? Auf solche Fragen gibt der Stich keine Antwort. Die Darstellung lässt sich sogar gegen den ersten Augenschein interpretieren: Russland, die allegorische Frauengestalt, weicht dem stolzen Blick des Zaren aus, sie verschließt ihre Augen, als wolle sie sich der Erkenntnis verweigern. Wie auch immer man ihre Haltung interpretiert – sie sieht keinesfalls so aus, als wünsche sie, die angebotenen Schriften und Karten zu studieren oder gar beherzt mit Winkelmesser und Zirkel zur Tat zu schreiten. Und auch die europäisch gekleideten Menschen im Hintergrund, fraglos Angehörige der Elite, wenden sich von der Szene im Vordergrund ab und flanieren lieber am Kai. Das Wissen liegt ungenutzt auf dem Tisch, weil es niemanden gibt, der damit sachkundig umgehen könnte. Der Imperator in glänzender Rüstung wirkt plötzlich wie ein ohnmächtiger Sieger; seine Geschenke scheinen nutzlos oder bleiben zumindest in ihrem Wert unerkannt. Auch der Wert der militärischen Erfolge ist damit indirekt in Frage gestellt.

Diese Interpretation ist zumindest nicht abwegig, obwohl es im Rückblick nicht auszumachen ist, ob sie tatsächlich eine Nebenabsicht des Kupferstechers darstellte. Doch die darin enthaltene Frage, inwiefern die umfassenden Neuerungsversuche des Zaren Peter erfolgreich waren und ob man von einer Europäisierung Russlands sprechen kann oder überhaupt sollte, wurde später zu einem Grundsatzthema der Geschichtsschreibung.[3] An diese Debatte ist hier nicht anzuknüpfen. Vielmehr werde ich einen Aspekt herausgreifen und sein Veränderungspotenzial bestimmen. Es geht im Folgenden um jene, die in dem Werk von Ottens fehlen – nämlich um die Experten, die sich des importierten Wissens annehmen sollten. Doch würden sie sich überhaupt in das durch den Kupferstich reproduzierte Klischee einfügen, das die Europäisierung Russlands nur als Übernahme des Originals begreift und als voraussetzungslosen Neustart durch einen großen Reformzaren?

Obwohl Herrscher in Darstellungen aus dem 18. Jahrhundert häufig vor Tischen mit Herrschaftsattributen posieren, erinnert der Gabentisch in der Mitte des Stichs auch an das von Leibniz geprägte Bild einer tabula rasa, auf der Zar Peter willkürlich sein neues Russland habe planen und bauen können.[4] Nicht zuletzt wegen dieser demiurgischen Vorstellung liebte Zar Peter seine neue Hauptstadt, die er rücksichtslos aus dem Sumpfboden im Neva-Delta hatte stampfen lassen. Die nach seinem Namensheiligen benannte Stadt bezeichnete der Zar gern als sein Paradies, in dem er seine Zukunftsvorstellungen ohne die Last der Vergangenheit verwirklichen wollte.

Doch der Demiurg auf dem Zarenthron war auf profane fremde Hilfe angewiesen. Im Zusammenhang mit seiner Umgestaltungspolitik entstand eine stark erhöhte Nachfrage nach den unterschiedlichsten Fachkräften, die bis zum letzten Drittel des Jahrhunderts teilweise auf dem westeuropäischen Arbeitsmarkt befriedigt werden musste. Hierzu zählten Offiziere, Ingenieure, Architekten, Ärzte, aber auch erfahrene Diplomaten und Verwaltungsexperten und nicht zuletzt viele Handwerker.[5] Zumindest unter den akademischen Berufsgruppen in Westeuropa verbreitete sich alsbald die Vorstellung von Russland als einem Paradies der Gelehrten, wo es dank der allerhöchsten Nachfrage auch allerhöchste Gehälter und überhaupt phantastische Wirkungsmöglichkeiten gebe.[6] Die höchsten Erwartungen wurden zwar nicht selten enttäuscht, dennoch arrangierte sich die große Mehrheit; viele blieben über ihre Vertragszeiten hinaus im Zarenreich, manche für immer. Diese Fachkräfte waren mehr als nur Marionetten in der Hand des Reformzaren. Sie spielten eine eigene, eine vermittelnde Rolle zwischen Altrussland und Petrinischem Reich sowie zwischen West- und Osteuropa.

Aus der amorphen Großgruppe dieser Fachleute möchte ich im Folgenden (Abschnitt 2.) eine näher noch zu bestimmende Teilmenge der Experten abgrenzen, die ein Novum im frühneuzeitlichen Zarenreich darstellte. Anschließend (Abschnitt 3.) werde ich die Etablierung dieses Expertentums am Beispiel der Ärzte nachzeichnen. Dabei geht es keineswegs nur um die Zuwanderer aus Westeuropa, sondern auch um die Rekrutierung und Ausbildung von russischen oder genauer: von russländischen Experten. Denn Angehörige der nicht-russischen Ethnien aus den Randgebieten des Imperiums waren unter den Experten überproportional vertreten.

2. Frühneuzeitliches Expertentum

Der Begriff des Experten ist für das Zarenreich des 18. Jahrhunderts ein Anachronismus.[7] Experten lassen sich dennoch sinnvoll von anderen Spezialisten und Fachleuten abgrenzen[8] – von arbeitsteiligen Spezialisierungen, die es selbstredend schon vor Peter im Zarenreich gegeben hatte, ebenso wie von den ausländischen Fachkräften die seit dem späten Mittelalter für unterschiedliche, konkrete Zwecke nach Russland berufen worden waren. Experten unterschieden sich aber nicht einfach nur durch bestimmte, wie auch immer erworbene Fähigkeiten oder Kenntnisse von Laien. Typisch ist vielmehr, erstens, dass Experten die prinzipielle Zuständigkeit für ein bestimmtes Wissen und seine Anwendung beanspruchen – für ein abstraktes und kollektiv geteiltes, meist wissenschaftliches Wissen. Es geht über Einzelspezialisierungen hinaus und wird in einer vergleichsweise aufwändigen, formalisierten Ausbildung erworben. Nicht zuletzt auf solch einen Kontext verweist ja das Arrangement der „freien Künste“ in dem Kupferstich von Ottens.

Zweitens grenzen Experten sich nicht nur von Laien ab, sondern beanspruchen mit der Institutionalisierung ihres Wissens stets ein Deutungsmonopol hierauf – auch und gerade gegenüber weltlichen und geistlichen Autoritäten. Dieser Anspruch muss nicht automatisch in professioneller Autonomie münden. Doch stets geht es Experten um die erfolgreiche Abgrenzung eines von außen kaum überschau-, geschweige denn kontrollierbaren Wissensbereiches, aus dessen Kenntnis dann eine besondere Rat- und Hilfskompetenz abgeleitet wird. Hierzu zählt nicht zuletzt die Evaluierung aller auf dem jeweiligen Wissensgebiet tätigen Spezialisten.

In diesem Zusammenhang tritt als ein drittes Moment die Selbstlegitimierung der Experten nicht so sehr durch Einzellösungen oder konkrete Dienstleistungen (sei es für die Obrigkeit oder für eine besondere Klientel), sondern durch eine Verpflichtung gegenüber dem Gemeinwohl, wenn nicht der Menschheit. Als ein Merkmal des Experten kann wohl generell der Anspruch auf eine höhere Berufung dank seines Wissens und der darin eingebundenen Fähigkeiten dienen; eine Überheblichkeit oder ein Sendungsbewusstsein, wie man es bei traditionellen Spezialisten, etwa Handwerkern, üblicherweise nicht findet.

Im Zarenreich war der Experte ein Resultat obrigkeitlicher Nachfrage.[9] Die Autokratie hat als Initiator zugleich die Organisationsform dieser Berufe geprägt, wenn nicht vorgegeben – insbesondere durch die Verordnung mehrjähriger, standardisierter Ausbildungswege, die einher gingen mit der Aufwertung eines formalen, abstrakten Wissens. Diese Form der Institutionalisierung von Wissen und Wissensproduktion brach mit der überkommenen Form der ad-hoc-Anstellung fremder Spezialisten. Immer stärker wurde im 18. Jahrhundert darauf gedrängt, dass die angeworbenen Ausländer ihre Kenntnisse systematisch an einheimische Schüler weitergaben, sich also langfristig selbst entbehrlich machen sollten. Expertenwissen war also zuerst deswegen ein Novum, weil es ein übergeordnetes Wissen darstellte, ein Wissen zweiter Ordnung. Nichts symbolisierte diesen Anspruch besser als die umstrittene Gründung einer Akademie der Wissenschaften in einem Land ohne Universitäten und verfasste Wissenschaft.[10]

Die beiden anderen Merkmale des Experten waren im Zarenreich (zunächst) deutlich schwächer ausgeprägt. Berufsständische Autonomierechte vermochte die Autokratie nicht zu gewähren, trotzdem lag an den verschiedenen im 18. Jahrhundert neu geschaffenen Fachschulen und Universitätsfächern die Gestaltung der Curricula und die Auswahl durch Prüfungen in den Händen von Experten, die auf diese Weise auch zur Festigung und zum Fortbestand des Expertentums beitrugen. Die Expertise konzentrierte sich allerdings in wenigen Schlüsselbereichen – etwa im Schiffbau, im Bergbauwesen oder in der Medizin. Erst später im Jahrhundert, unter dem Einfluss der Aufklärung, gewann dann die öffentliche Selbstdarstellung an Bedeutung.[11] Die Gleichsetzung der eigenen Expertise mit dem Allgemeinwohl war schon deswegen ein unvermeidbarer Topos, weil das Allgemeinwohl inzwischen zu einem selbstverständlichen Bezugswert der Zarenherrschaft geworden war.

Neben das religiöse Wissen, das bislang die einzige Form des institutionalisierten Wissens dargestellt hatte, trat also im 18. Jahrhundert ein systematisch organisiertes und reproduzierbares säkulares Wissen. Das traditionelle geistliche Expertenwissen wurde durch das neue weltliche Expertenwissen keineswegs verdrängt, dieses stellte einen eigenständigen, parallelen Wissensbereich dar mit den dazu gehörenden Printmedien und Fachschulen und nicht zuletzt auch mit dem neuen Typus des säkularen Experten. Ohne die Kirche, ohne den Klerus war allerdings an den Aufbau eines Bildungssystems jenseits der Hauptstadt gar nicht zu denken – vor allem blieben die traditionellen geistlichen Akademien das wichtigste Reservoir für Studenten der verschiedenen Fachrichtungen.[12]

Sicherlich wurde von allen im Zarenreich ausgebildeten Chirurgen, Artilleristen, Ingenieuren oder Architekten weiterhin schnell verfügbares, abrufbares Anwendungswissen verlangt. Nicht zuletzt für militärische Aufgaben mussten sie ihre Ausbildung oft vorzeitig beenden, so dass sich durchaus über die Einstufung als Experten streiten lässt. Dennoch entstanden neue Expertenberufe – bereits mit dem ältesten der vielen Bildungsexperimente unter Peter I. An der Moskauer Schule für Mathematik und Navigation (gegründet 1699) wurden Studenten für den Staats- und Militärdienst ausgebildet, nicht zuletzt auch als Lehrer. Sie lernten ganz konkret nützliche Wissenschaft, wozu auch Praktika im Kriegseinsatz oder auf See gehörten.

Aber der Praxis voraus ging eine Aufwertung des entsprechenden abstrakten Wissens als Referenzrahmen, und die Absolventen der Navigationsschule stellten die ersten Astronomen, Kartographen, Landvermesser im Zarenreich oder auch das Personal der wenig später unternommenen wissenschaftlichen Expeditionen der Akademie der Wissenschaften.[13] Quantitativ blieben diese potenziellen Experten allerdings eine unbedeutende Gruppe in Relation zu einer Bevölkerung von 15,6 Millionen (1719). Ausgebildet wurden Jahrgänge mit ein, zwei Dutzend Studenten, insgesamt gab es in keinem Jahr mehr als einige hundert Studenten. Jedoch im Vergleich mit einer Beamtenschaft von nur etwa 5.000 Mann und gut 2.000 Offizieren zu Beginn des 18. Jahrhunderts verschieben sich die Relationen.[14]

Festzuhalten ist: Der Begriff des Experten bietet für das Zarenreich des 18. Jahrhunderts zwei Vorzüge. Zum einen besitzt er nicht die Reichweite beziehungsweise Assoziationen von Professionalisierungstheorien und suggeriert schon gar nicht die Entstehung eines russischen Bürgertums als Äquivalent zu den Verhältnissen in Westeuropa. Zum anderen lässt sich anhand der Expertenberufe die Integration des Zarenreichs in die frühneuzeitliche Wissensgesellschaft verfolgen[15] – die Einbindung in grenzüberschreitende Netzwerke, den Aufstieg neuer Druckmedien und Organisationen, die Anwendungsorientierung und relative Autonomie der Wissenschaften, das Streben nach grenzenloser Wissensakkumulation. Dieser Integrationsprozess ist am Beispiel der Mediziner näher zu analysieren.

3. Medizinische Experten

In dem anfangs vorgestellten Kupferstich ist die Medizin nur indirekt erfasst – sie gehörte schließlich an den Universitäten nicht zu den „freien Künsten“, sondern zu den höheren Fakultäten und wird insofern von der allegorischen Vernunft am Bildrand mit vertreten. Doch anders als in der Abbildung zählte die Medizin seit Peter I. zu dem wichtigsten importierten Wissen im Zarenreich. Über 2.000 Studenten absolvierten im Verlauf des 18. Jahrhunderts die neuen medizinischen Fachschulen und Fakultäten, hinzu kamen schätzungsweise 800 ausländische Ärzte und Chirurgen mit Zeitverträgen. Mediziner bildeten damit nicht nur eine relativ zahlreiche und zugleich homogene Gruppe von neuen Wissensträgern, sie spielten auch eine vergleichsweise exponierte Rolle. Sie stießen, anders als etwa Astronomen, auf eine etablierte, einheimische Konkurrenz, und sie waren mit Aufgaben betraut, die sie häufiger in Kontakt mit der Bevölkerung brachten als dies etwa bei Bergbauingenieuren der Fall war. Immerhin besaßen Mediziner die offizielle Definitionsmacht über Krankheit und Gesundheit beziehungsweise über die damit verbundenen sozialen Rollen, also etwa über die Einsatzfähigkeit von Soldaten, die Beurlaubung von Beamten oder die Quarantänierung der Zivilbevölkerung in Seuchenzeiten.

In den Streitkräften verfügten Mediziner als Offiziere sogar über Disziplinargewalt; in der neuen Medizinalverwaltung besetzten sie Schlüsselpositionen und übten dank ihrer von der Autokratie anerkannten Expertise eine indirekte Richtlinienkompetenz aus. Obwohl sie nicht für die Grundsatzentscheidungen zuständig waren – also etwa für den Bau von Krankenhäusern beschließen konnten oder die berühmte Schutzimpfung gegen die Pocken unter Katharina II., so lieferten Mediziner gleichwohl die Argumente für solche Entscheidungen und formulierten die Einsatzpläne für ihre Umsetzung. Im Zarenreich waren Ärzte zwar in ihrer Berufsausbildung sehr einseitig auf eine zivile oder militärische Karriere fixiert und befanden sich also in einer starken Abhängigkeit von der Autokratie. Doch zugleich bestimmten Ärzte selbst über die Auswahl und die Ausbildung des beruflichen Nachwuchses. Sämtliche Curricula und Examina stammten aus der Feder von Ärzten, meist nach dem Vorbild einer westeuropäischen Universität. Und auch bei der Beurteilung von so genannten Scharlatanen stellte im Streitfall das medizinische Expertenwissen die Messlatte dar und zwar ganz konkret als Medizinprüfung in Latein.[16]

Neben ihrer Funktion als Heilkundige wirkten Ärzte somit als medizinische Experten – und während sie in der ersten Funktion fraglos nur eine kleine Minderheit der Bevölkerung erreichten, besaßen sie aufgrund der zweiten Funktion eine grundsätzliche Bedeutung. Auch angesichts der nicht eindeutigen therapeutischen Überlegenheit der westeuropäischen Medizin[17] ist in dem Expertentum das entscheidende Motiv dafür zu sehen, dass die Autokratie den teuren Wissenstransfer forcierte. Ausschlaggebend waren zum einen die praktischen Erfahrungen der Ärzte in der Kooperation mit der Obrigkeit (etwa als Stadtärzte), zum anderen die innere Standardisierung der europäische Medizin über alle gelehrten Dispute hinweg – ihre Bindung an Fach- bzw. Denkschulen und an eine typographische Schriftkultur. Diese Verfasstheit erlaubte eine Standardisierung der Medizinerausbildung und bedingte eine systematische Anwendung der erworbenen Kenntnisse in der Militärmedizin oder in der Verwaltung. Es ging mehr darum Krankheit zu organisieren und gefährliche Krankheiten zu kontrollieren beziehungsweise zu verhindern als um umfassende therapeutische Versprechen. Dieser Präventionsgedanke trat dann in der medizinischen Aufklärung am Ende des Jahrhunderts klar in den Vordergrund. Hinzu kamen weitere Gründe, die für die westeuropäische Medizin sprachen: mechanische Körpervorstellungen passten zu mechanischen Staatsvorstellungen und rationale Krankheitserklärungen erlaubten es, Menschen zumindest teilweise für ihre Krankheiten verantwortlich zu machen.[18]

Das theoretische Wissen der Ärzte und seine systematische Umsetzung stellten ein typisches Expertenwissen dar. Es war von außen nicht zu kontrollieren, es versprach einen hohen Nutzen, und es vermochte eine weite Spannbreite von Praktiken und Spezialisierungen zu integrieren. Nicht zuletzt war es grenzüberschreitend vernetzt – über Studenten, Professuren und Medizinalpolitiker, über Korrespondenzen, Zeitschriften und gelehrte Gesellschaften. Verantwortlich für die Pflege und Vermittlung dieses Expertenwissens war in erster Linie die Elite der Mediziner, also die promovierten Ärzte.

Im Rückblick kann man ihnen einen dreifachen Erfolg schwerlich absprechen: Erstens bestand ein erfolgreiches Bündnis oder eine ergiebige Symbiose zwischen autokratischem Staat und Ärzteschaft. Der Staat schuf relativ gute Karrieremöglichkeiten auch für soziale Aufsteiger – konnte sich doch die traditionelle Adelselite mehrheitlich nicht für den Medizinerberuf begeistern. Im Gegenzug leisteten Ärzte im Wesentlichen das, was von ihnen erwartet wurde. Als Organisatoren, Lehrer, Ratgeber und auch als Therapeuten. Denn obschon sie gegenüber den Konkurrenten aus der so genannten Volksmedizin nicht durchweg die besseren Therapien vorweisen konnten, so waren sie auch nicht unbedingt die schlechteren Heiler.

Zweitens stand den Ärzten selbst die Kontrolle über ihr Expertenwissen zu. Sie entschieden nicht nur über die Rekrutierung (potenzieller) medizinischer Experten, sondern bestimmten generell auch die eigenen Erfolgskriterien. Erfolg wurde nicht durch kurierte Patienten bestimmt, sondern durch eine angemessene ärztliche Erklärung der Krankheiten.

Wenn, drittens, wegen der politischen Abhängigkeit von Ärzten und ihres geringen Sozialprestiges nur mit Einschränkungen von einer professionellen Autonomie die Rede sein kann, so war es trotzdem ein korporativer Erfolg, dass Ärzte systematisch in politische Entscheidungsprozesse einbezogen wurden. Dies war mit ihrem Expertenstatus keineswegs unvereinbar.[19] Nicht anders als gegenüber Laien gingen Ärzte zwar auch in der Politik von der Überlegenheit ihres Wissens aus – und konnten sich doch zugleich als patriotische Staatsdiener verstehen wie sie sich auch in ihrer Selbstdarstellung auf die Regeln der Aufklärungsöffentlichkeit einzulassen wussten.

Obwohl das 18. Jahrhundert aus medizingeschichtlicher Sicht als unübersichtliche Übergangszeit vor den späteren Umbrüchen der Labormedizin gilt, stellte es für das Zarenreich durchaus einen Wendepunkt dar. Er markiert aber nicht den Beginn einer Bekanntschaft mit einem wie auch immer überlegenem Wissen aus Westeuropa, sondern den veränderten Umgang mit diesem Wissen. Nicht mehr einzelne Ärzte mit begrenzten Aufträgen kamen ins Zarenreich, vielmehr entstand ein organisierter und institutionalisierter Wissensbereich, der von medizinischen Experten kontrolliert wurde. Zu den Aufgaben des neuen medizinischen Expertenberufs gehörte von Anfang an, die Herstellung des bislang importierten Wissens im Zarenreich selbst zu organisieren und es kontinuierlich für bestimmte Aufgaben einzubinden. Auf den drei Ebenen der Bildungspolitik, der politisch-militärischen Instrumentalisierung von Medizin sowie der Öffentlichkeit kann man für das 18. Jahrhundert von einer intensiveren Verflechtung mit Westeuropa sprechen. Sie zeigte sich etwa in einer Anpassung der Studiengänge, im Austausch über medizinalpolitische Maßnahmen oder in den grenzüberschreitenden Themen der medizinischen Aufklärung. Dabei ging es keineswegs mehr allein um einen Transfer von West nach Ost. Die Rückwirkung Russlands auf Westeuropa war zwar schwächer als umgekehrt, aber allgegenwärtig. So übernahm schon 1754 mit dem Arzt Poletika der erste russische Professor einen deutschen Lehrstuhl,[20] und die zarische Seuchenpolitik etwa anlässlich der großen Pest von Moskau 1770/71 wurde nicht nur von der Fachöffentlichkeit im Westen sorgfältig verfolgt.[21]

4. Fazit

Wie lassen sich nun die (medizinischen) Experten in das Russlandbild von Ottens einfügen? Sie füllten offenbar die Leerstelle, die sich in der Darstellung zwischen dem ehrgeizigen Zaren, der zögernden Frau Russland und den abgewandten Eliten auftut. Sie sorgten dafür, dass viele Pläne Peters tatsächlich Gestalt annahmen und seine Mitbringsel, um im Bild zu bleiben, nicht ungenutzt auf der tabula rasa liegen blieben. Damit verweist die Absenz der Experten in der Abbildung auf die Entstehungsumstände des Kupferstichs am Anfang des 18. Jahrhunderts. Mit dem Tod Peters erschien sein Reformwerk nicht nur manchem ausländischen Beobachter unfertig oder gar mit der neuen Hauptstadt dazu verurteilt, im Sumpfboden zu versinken.

Zugleich offenbart das Bild einen spezifisch westeuropäischen Blick, der nur das wahrnahm, was den eigenen Verhältnissen ähnelte beziehungsweise den eigenen Erwartungen entsprach. Denn tatsächlich standen längst die ersten russischen Experten bereit – und nicht mehr nur solche, die wie die Instrumente in der Mitte der Abbildung einfach aus Westeuropa übernommen worden waren. Neben der Anwerbung fremder Experten trat zusehends die Ausbildung eigener oder auch ihre Rekrutierung aus eroberten Gebieten des Petrinischen Imperiums. Insofern hat Ottens Peter zu Recht als Imperator und Wissensbringer zugleich dargestellt.



[1] Essay zur Quelle: Ottens Kupferstich von Zar Peter I. (1725).

[2] Ottens, F., L’empereur Pierre le Grand présente à l’ancienne Russie la vérité, la religion et les arts, qu’elle recoit avec reconnaissance [1725], in: Nestesuranoi, B. Iwan [=Jean Rousset de Missy], Memoires Du Regne De Pierre Le Grand, Empereur de Russie, Père de la Patrie &c. &c. &c., Bd. 1, Amsterdam/Uytwerf 1725, Frontispiz.

[3] Vgl. aus der neueren Literatur: Kamenskii, Alexander, The Petrine reforms and their impact, in: Hughes, Lindsey (Hg.), Peter the Great and the West: New perspectives, Basingstoke, 2001, S. 29-35; Cracraft, James, The Revolution of Peter the Great, Cambridge, Mass. 2003.

[4] Guerrier, Woldemar, Leibniz in seinen Beziehungen zu Rußland und Peter dem Großen, St. Petersburg 1873, S. 176f.

[5] Vgl. Amburger, Erik, Die Anwerbung ausländischer Fachkräfte für die Wirtschaft Rußlands vom 15. bis ins 19. Jahrhundert, Wiesbaden 1968, Kapitel III; Hughes, Lindsey, Russia in the age of Peter the Great, New Haven, Conn. 1998, S. 83-85, 309-316.

[6] Etwa: Mumenthaler, Rudolf, Im Paradies der Gelehrten: Schweizer Wissenschaftler im Zarenreich (1725 - 1917), Zürich 1996.

[7] Cernych, Pavel Ja., Istoriko-etimologiceskij slovar’ sovremennogo russkogo jazyka, Moskau 1993, Bd. 2, S. 442.

[8] Vgl. zum Folgenden mit der weiterführenden Literatur: Hitzler, Ronald, Wissen und Wesen des Experten. Ein Annäherungsversuch, in: Ders.; Honer, Anne; Maeder, Christoph (Hgg.), Expertenwissen. Die institutionalisierte Kompetenz zur Konstruktion von Wirklichkeit, Opladen 1994, S. 13-30.

[9] Zum Hintergrund vgl. Kusber, Jan, Eliten- und Volksbildung im Zarenreich während des 18. und in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Studien zu Diskurs, Gesetzgebung und Umsetzung, Stuttgart 2004, Kapitel 2.1 und 2.2.

[10] Vucinich, Wayne A., Science in Russian Culture. A History to 1860, Stanford 1963, Kapitel 2.

[11] Diese „performative Konstruktion“ von Expertise betonen: Engstrom, Eric; Hess, Volker; Thoms, Ulrike, Figurationen des Experten. Ambivalenzen der wissenschaftlichen Expertise im ausgehenden 18. und frühen 19. Jahrhundert, in: Dies. (Hgg.), Figurationen des Experten. Ambivalenzen der wissenschaftlichen Expertise im ausgehenden 18. und frühen 19. Jahrhundert, Frankfurt 2005, S. 7-17, bes. S. 8f.

[12] Bissonette, Georges, Peter the Great and the Church as an Educational Institution, in: J. S. Curtiss (Hg.), Essays in Russian and Soviet History in Honor of G. T. Robinson, Leiden 1963, 3-19.

[13] Hans, Nicholas, The Moscow School of Mathematics and Navigation (1700), in: Slavonic and East European Review 29, 1951, S. 532-536.

[14] Mironov, Boris N., Social’naja istorija Rossii, St. Petersburg 1999, Bd. 1, S. 20, Bd. 2, S. 200; Volkov, Sergej V., Russkij oficerskij korpus, Moskau 1993, S. 87.

[15] Verstanden im Sinn von Peter Burke als die Neuorganisation des Wissens seit der Renaissance. Vgl. Burke, Peter, Papier und Marktgeschrei. Die Geburt der Wissensgesellschaft, Berlin 2001.

[16] Als Überblick: Renner, Andreas, Russische Autokratie und europäische Medizin: Organisierter Wissenstransfer im 18. Jahrhundert, Stuttgart 2010.

[17] Williams, Guy, The age of agony: The art of healing, 1700-1800, Chicago 1975.

[18] Renner, Andreas, Medizinische Aufklärung und die „Zivilisierung“ Russlands im 18. Jahrhundert, in: Zeitschrift für Historische Forschung 34, 2007, S. 33-65.

[19] Dies gegen die These von Hitzler, Wissen und Wesen des Experten, S. 19.

[20] Richter, Wilhelm, Geschichte der Medicin in Russland, Berlin 1965, Bd. 3 (Nachdruck der Ausgabe Moskau 1817), S. 467f.

[21] Renner, Russische Autokratie und europäische Medizin, S. 184-186.


Literaturhinweise:
  • Cracraft, James, The Revolution of Peter the Great, Cambridge, Mass. 2003.
  • Hitzler, Ronald; Anne, Honer; Maeder, Christoph (Hgg.), Expertenwissen. Die institutionalisierte Kompetenz zur Konstruktion von Wirklichkeit, Opladen 1994.
  • Kusber, Jan, Eliten- und Volksbildung im Zarenreich während des 18. und in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Studien zu Diskurs, Gesetzgebung und Umsetzung, Stuttgart 2004.
  • Renner, Andreas, Russische Autokratie und Europäische Medizin. Organisierter Wissenstransfer im 18. Jahrhundert (= Medizin, Gesellschaft und Geschichte, Beiheft 34), Stuttgart 2010.
  • Richard S. Wortman, Scenarios of Power: Myth and Ceremony in Russian Monarchy, vol. 1: From Peter the Great to Nicholas I, Princeton 1995.
Ottens Kupferstich von Zar Peter I. (1725)[1]


Die Veröffentlichung der Abbildung erfolgt mit Unterstützung und freundlicher Genehmigung der Staatsbibliothek zu Berlin. © 2010 Copyright Staatsbibliothek zu Berlin, Potsdamer Straße 33, D-10785 Berlin (Tiergarten) / URL: http://staatsbibliothek-berlin.de/.


[1] Ottens, F., L’empereur Pierre le Grand présente à l’ancienne Russie la vérité, la religion et les arts, qu’elle recoit avec reconnaissance [1725], in: Nestesuranoi, B. Iwan [=Jean Rousset de Missy], Memoires Du Regne De Pierre Le Grand, Empereur de Russie, Père de la Patrie &c. &c. &c., Bd. 1, Amsterdam/Uytwerf 1725, Frontispiz.


Für das Themenportal verfasst von

Andreas Renner

( 2010 )
Zitation
Andreas Renner, Ein Paradies für Experten? Über die Integration Russlands in die frühneuzeitliche Wissensgesellschaft, in: Themenportal Europäische Geschichte, 2010, <www.europa.clio-online.de/essay/id/fdae-1537>.
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