„Europäisierungsmißstände“ um 1900. Eine Kurzgeschichte des osmanischen Schriftstellers Ahmet Hikmet Müftüoglu

Klagen um „Europäisierungsmißstände“ im Osmanischen Reich des 19. und frühen 20. Jahrhunderts könnten aus der Feder des osmanischen Schriftstellers und Bürokraten Ahmet Hikmet Müftüoglu stammen, dessen Kurzgeschichte Yegenim (Mein Neffe) dieser Essay im Folgenden behandelt. Doch findet man diesen Begriff in Wirklichkeit in einer Rede des deutschen Orientalisten Carl Heinrich Becker, die er 1916 unter dem Titel „Das türkische Bildungsproblem“ in Bonn an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität hielt. [...]

„Europäisierungsmißstände“ um 1900. Eine Kurzgeschichte des osmanischen Schriftstellers Ahmet Hikmet Müftüoglu[1]

von Leyla von Mende

Klagen um „Europäisierungsmißstände“ im Osmanischen Reich des 19. und frühen 20. Jahrhunderts könnten aus der Feder des osmanischen Schriftstellers und Bürokraten Ahmet Hikmet Müftüoglu stammen, dessen Kurzgeschichte Yegenim (Mein Neffe) dieser Essay im Folgenden behandelt. Doch findet man diesen Begriff in Wirklichkeit in einer Rede des deutschen Orientalisten Carl Heinrich Becker, die er 1916 unter dem Titel „Das türkische Bildungsproblem“ in Bonn an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität hielt.[2]

Im Osmanischen Reich empfanden Eliten vom späten 18. Jahrhundert an aus einer gefühlten und realen Schwäche heraus das starke Bedürfnis, den Staat zu reformieren, um dessen Existenz zu sichern. Sowohl staatliche als auch oppositionelle Zirkel wählten dafür als Orientierungspunkt Europa.[3] Reformen des Bildungssystems standen im Mittelpunkt staatlicher Bestrebungen. Der Ansatz, staatlich gelenkte Ausbildung könne zur Lösung vielerlei Probleme des Staates beitragen, scheint sich im 19. Jahrhundert weltweiter Beliebtheit erfreut zu haben. Theodore Zeldin bezeichnet in seiner Studie zu Frankreich diesen Zeitraum gar als Beginn des „Age of Education“.[4] Die Ausbildung sollte qualifizierte Arbeitskräfte schaffen. Mit ihnen glaubte man, auf wirt­schaft­li­chem und mi­li­tärischem Gebiet mit an­de­ren Staaten besser kon­kur­rieren zu können. Ebenso sah man im Bil­dungs­system die Mög­lichkeit der Erziehung der Schüler zu gesellschaftlich wert­vol­len Menschen. So wurde es zum Mit­tel so­zia­ler Kon­trol­le, Be­einflussung kultureller Iden­ti­fi­ka­tion und Schaf­fung politischer Lo­ya­li­tät. Im Osmanischen Reich wurde seit dem frühen 19. Jahrhundert versucht, ein staat­lich gelenktes Bildungssystem zu schaffen, das sich sowohl hinsichtlich Ausbildungs- und Er­zie­hungs­me­tho­den als auch der vermittelten Inhalte sehr vom frühe­ren Bil­dungs­system un­terschied. Es herr­schte Op­timismus be­züg­lich der transformativen Wirkung von Aus­bil­dung und Er­zieh­ung vor – auch auf nicht­staat­li­cher, zum Teil op­po­sitio­nel­ler Sei­te, die ebenfalls dieses Mit­tel für die Trans­for­ma­tion und „Ret­tung“ des Osmanischen Rei­ches pro­pa­gierte.[5] Wie den gesamten Reformprozess durchzog die Frage nach dem Grad der Über­nah­me materieller und ideeller Güter von Europa sowie der Bewahrung eigener Traditionen bzw. In­sti­tu­tio­nen auch die Diskussion um geeignete Ausbildung und Erziehung.

Becker sah ebenfalls die Bedeutung von Ausbildung für die Zukunft des Osmanischen Reiches. Aber er kritisiert die dortige Oberflächlichkeit europäischer Bildung und beschreibt, dass daraus eine Gruppe pseudo-europäisierter Osmanen erwachsen sei, die sich unreflektiert europäischen Einflüssen füge und von keinerlei Nutzen für den Osmanischen Staat sei.[6] Dies sind die „Europäisierungsmißstän­de“, die er anprangert. In einer späteren Publikation geht Becker sogar noch einen Schritt weiter:

„Real friends of oriental countries should advise them not to Europeanize, but to remain oriental; and only to adopt European civilization in the measures in which we adopted classical antiquity, that is as an aid in the process of finding ourselves. The orient must take this road also, or it will perish by the way.”[7]

Einige zeitgenössische deutsche und deutschsprachige Wissenschaftler waren mit Becker einer Meinung.[8] Ohne Zweifel war ihre Warnung vor ober­fläch­li­cher Nachahmung – besonders Frankreichs – auch inspiriert von kulturpolitischen Überlegungen.

Das Problem der negativen und oberflächlichen Nachahmung Europas wurde auch von osmanischen Intellektuellen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts ausgiebig diskutiert. Die Gefahr einer negativen Europäisierung wurde besonders in der Entsendung muslimischer Osmanen zum Studium nach Europe gesehen. Die Besonderheit des Studiums in Europa im Prozess der Orientierung an Europa bestand darin, dass der Kontakt zu Europa nicht über indirekte Kanäle wie Übersetzungen hergestellt wurde, sondern direkt im Ur­sprungs­land ohne jegliche (staatliche) Kontrolle. Die Studenten mussten selber die Grenze zwi­schen „nütz­lichem Wissen“ und „verderblichen Einflüssen“ ideologischer, kultureller oder amorali­scher Art ziehen. Und trotzdem etablierte sich das Studium von Osmanen in Europa als eine gängige Praxis in den letzten hundert Jahren des Osmanischen Reiches.

Das Studium von Osmanen in Europa

Unter anderem aufgrund von finanziellen Engpässen konnte der Ausbau des Bildungssystems nicht wie gewünscht realisiert werden. Trotz zahlreicher Reformmaßnahmen wurde es immer noch als unzurei­chend betrachtet. Daher entsandte der Staat als kurzfristige Maßnahme Studenten nach Europa, um gut ausgebildete Absolventen zu gewinnen.

Die individuelle Motivation der Stu­den­ten bestand in der Ver­tiefung be­stimm­ter Wissensgebiete und bes­se­rer Chan­cen auf ein ho­hes Amt. Außerdem hofften sie, durch den Wis­sens­er­werb der Hei­mat zu nutzen. Lan­ge do­mi­nier­ten mi­li­tärische, me­di­zi­ni­sche und na­turwis­sen­schaft­liche Aus­bil­dun­gen. Später nahm die Band­brei­te der Stu­dien­fächer zum, aber 1875 wur­den al­le Sti­pen­dia­ten zu­rück­ge­ru­fen[9], da nach An­sicht der Re­gie­rung zu we­nige qua­li­fi­zier­te Män­ner zu­rückkehrten. In ha­mi­di­scher Zeit (1876-1908) kon­trol­lier­te der Staat Bil­dungs­sy­stem, Schüler und Stu­denten so­wie den Grad an westlichen Ein­flüs­sen, um lo­yale Un­ter­ta­nen zu erhalten.[10] Die Ent­sen­dung von Stu­den­ten wur­de nicht als vor­tei­l­haf­tes Mit­tel staat­licher Bil­dungs­po­li­tik be­trach­tet, aber in ge­wis­sem Ma­ße wei­ter­ver­folgt.[11] Be­son­ders in dieser Zeit gin­gen Os­ma­nen aus po­li­ti­schen Grün­den ins euro­päi­sche Exil. Eini­ge nutzten es zum Stu­dium.[12] Die jung­tür­ki­sche Regierung, die das Auslandsstudium bereits aus der Opposition heraus gefördert hatte, forcierte es unter ihrer Herr­schaft.[13]

Es scheint im Osmanischen Reich eine generelle Unsicherheit bezüglich Sinn und Zweck des Studiums in Europa geherrscht zu haben. Der Staat benötigte gut ausgebildete Männer, gleichzeitig wollte er aber die Stu­denten in Europa unter Kontrolle halten. Als Konsequenz wurde 1857 die Mekteb-i Osmânî (École impériale Ottomane) und 1869 die Talebe-i Osmâniyye Müdürlügü (Di­rektion os­ma­ni­scher Studenten) in Paris gegründet.[14] An diesen Institutionen wurde Französisch unterrichtet, die Studenten er­hiel­ten religiöse Unterweisung und Kurse zur Pfle­ge der Muttersprache. Aufgrund finanzieller Schwierigkeiten und dem Ausbleiben der gewünschten Resultate wurden das Mekteb-i Osmânî 1874 und die Direktion osmanischer Studenten kurz darauf geschlossen.[15] Dies führte aber nicht zum Ende der Entsendung von Studenten nach Europa. Im Gegenteil, es reisten zusätzlich sehr viel mehr Osmanen individuell zum Studium in eine euro­päische Stadt.

Die Bedenken bezüglich des Studiums in Europa rissen jedoch nicht ab. Unabhängig davon, ob man für oder gegen das Auslandsstudium war, sah man Gefahren, die ein Studium in Europa beinhalten konnte – unter anderem den Verlust der muslimischen, osmanischen oder – mit Aufkommen des türkischen Nationalismus - tür­ki­schen Identität. Weitere Ängste richteten sich darauf, dass etliche Studenten nur aus einer Mo­de heraus nach Europa gingen: der alafrangalik – einer unreflektierten Bewunderung für und Orien­tierung an Europa. Es wurde an­ge­nom­men, sie wollten sich bei ihrer Rückkehr lediglich brüsten.[16] Solche Studenten entbehrten aus os­ma­nischer Perspektive jeglichen Nutzens für den Staat. Einer der Skeptiker des Studiums in Europa, der eben diese Bedenken und Gefahren zur Sprache brach­te, war Ahmet Hikmet Müftüoglu.

Ahmet Hikmet Müftüoglu und seine Bedenken hinsichtlich des Auslandsstudiums

Ahmet Hikmet Müftüoglu, geboren 1870 in Istanbul, war osmanischer Schriftsteller und Bürokrat. Er schloss die berühmte Lycée de Galatasaray in Istanbul ab und arbeitete über­wie­gend für das osmanische Außenministerium, unter anderem als osmanischer Konsul in Budapest. Außer­dem war er Lehrer an der Lycée de Galatasaray und Professor für Deutsche und Französische Li­teraturgeschichte an der Universität Istanbul. Seine literarische Karriere begann im Zirkel von Servet-i Fünûn, einer osmanischen Zeitschrift. Dort veröffentlichte er Artikel und Kurz­ge­schich­ten. Im An­schluss begann er in turkistisch orientierten Zeitschriften zu publizieren, u.a. in Türk Yurdu.[17] Zu seinen berühmten Schriften zählen Haristân u Gülistân (Dornenhag und Rosenhain, 1901) und Caglayanlar (Wasserfälle, 1922). Bei beiden handelt es sich um Samm­lungen von Kurzgeschichten. Damals wie heute wird Ahmet Hikmet in erster Linie als turkistischer Intellektueller und Politiker wahrgenommen.

Seine Kurzgeschichte Yegenim ist Teil seines Buches Haristân u Gülistân und erschien bereits 1900 in Servet-i Fünûn. Von dieser osmanischen Kurzgeschichte gibt es eine englische[18] und eine deutsche Übersetzung. Die deutsche Version mit dem Titel „Der Kulturträger (Mein Neffe). Ein Monolog von Ahmed Hikmet“ wurde von Friedrich Schrader angefertigt und 1916 von Max Rudolph Kaufmann in dem Band Türkische Erzählungen veröffentlicht.[19]

Im Folgenden dient die Kurzgeschichte Yegenim als historische Quelle.[20] Denn mit dieser Geschichte reihte Ahmet Hikmet sich in die Diskussionen über den Nutzen eines Studiums in Europa ein und war folglich Teil des übergreifenden innerosmanischen Diskurses über das Verhältnis des Osmanischen Reiches zu Europa im Allgemeinen. Die Geschichte wurde in hamidischer Zeit publiziert, in der die Entsendung von Studenten nach Europa leidenschaftlich diskutiert und die Orientierung an Europa, wie sie zu Zeiten der Tanzîmât[21] erfolgt war, hinterfragt wurde. Die Kurzgeschichte ist in diesem Falle als „Pro­duk­t kon­kreter geistig-sprachlicher Auseinan­der­set­zung mit der Wirklichkeit und als Frag­men­t von übergreifenden Diskursen“ zu verstehen.[22] Zu textinternen Charakteristika der Kurzgeschichte ist lediglich zu bemerken, dass Müftüoglu’s Schreibstil dem modernen Türkischen nah ist – er war Verfechter der Sprachreform des Osmanischen – und dass er häufig Wortspiele gebraucht, die zwar die Übersetzung erschweren, aber unterhalten. Yegenim[23] ist der Monolog eines älteren osmanischen Mannes, der seinem Neffen das Studium in Paris finanzierte und es bitter bereut. Sein Neffe studierte die unterschiedlichsten Fächer, aber alle in einer sehr oberflächlichen und erfolglosen Weise:

“Ich habe einen Neffen...Er hat in Paris seine Studien beendet...Ja, wissen Sie, beendet! [...] Worin seine Studien eigentlich bestanden, das habe ich nie so recht erfahren können. „Lieber Onkel,“ sagte er, „du verstehst von der Sache einfach nichts…Bis ich auf der Universität mit allen Wissenschaften fertig bin…!“[24]

Und nicht nur, dass der Neffe aus der Perspektive seines Onkels keinen vernünftigen Beruf erlernt hatte. Bei seiner Rückkehr aus Paris stößt er seinen Onkel durch sein neues Benehmen kontinuierlich vor den Kopf. Bei der ersten Begegnung weist er es zurück, seinem Onkel die Hand zu küssen. Von da an wird alles noch schlimmer. Der Neffe setzt sein unangemessenes und skandalöses Verhalten fort: Er ist faul und verbringt Stunden um Stunden mit Körperpflege. Sein Onkel versteht die Welt nicht mehr:

“Das war die Frucht seines fünfjährigen Aufenthaltes im Lande der Wissenschaft und der Zivilisation, wo er, wie er sagte, Tag und Nacht in beständigem Studium verbracht hatte…Nicht wahr, Sie haben verstanden?...Nach diesen fünf Jahren hatte er die Haltung eines Napoleon, das Haar eines Humbert, den Schnurrbart Kaiser Wilhelms…Das genügte meinem Neffen, um sich für einen modernen Kopf zu halten.“[25]

Der Onkel macht sich an dieser Stelle explizit über die Vorstellung des Neffen, was einen “modernen” Menschen ausmacht – dessen oberflächliche und äußerliche Modernisierung -, lustig. Aber das Problem des Onkels ist nicht nur, dass sein Neffe sich eigenartig benimmt. Schlimmer ist noch, dass er auch versucht, die Mitglieder des Haushaltes, zu einem „europäischen Lebensstil“ zu erziehen, da sie ihm rückständig erscheinen. Der Onkel hat genug von seines Neffen mission civilisatrice.[26]

Im osmanischen Original benutzt Ahmet Hikmet an dieser Stelle den Begriff medeniyet für Zivilisation. Der Begriff Zivilisation[27] gelangte in den osmanischen Sprachgebrauch in den 1830er Jahren in Anlehnung an das Französische als sivilizasyon. Etwa zehn Jahre später begann man den Begriff medeniyet[28], gleichbedeutend aber auch temed­dün (Fortschritt) zu verwenden.[29] Ab den 1870ern etablierte sich die Bezeichnung mede­niyet end­gül­tig als Pendant für Zivilisation. Deren Bedeutung ist im osmanischen Kontext schwierig zu bestimmen. Namik Kemal, einer der Vertreter der Jungen Osmanen, schildert, zwischen welchen beiden Polen sich der Begriff medeniyet bewegte: Einerseits wurde mede­ni­yet oftmals zur Bezeichnung einer bestimmten Le­bens­form genutzt. Diese umfasste als fremd qualifizierte Elemente von (All­tags-)Kul­tur wie bestimmte Formen von Tanz und Theater, Essens- und Wohngewohnheiten etc. – aus Perspektive Kemals und auch Ahmet Hikmets - einen zunehmend „unmoralischen“ Lebensstil, für andere ist sie jedoch auch Aus­druck eines angestrebten Fortschritts. Davon abgesehen diente medeniyet zur Be­schrei­bung von technischer und wissenschaftlicher Entwicklung, die generell positiv kon­no­tiert war.[30] Ge­mein­sam ist sowohl der negativ als auch der positiv konnotierten Bedeutung der en­ge Zusammenhang und die Überschneidung von me­deniyet und westlicher Zivilisation. Für Ahmet Hikmet und sein Sprachrohr, den Onkel, stehen die Zivilisierungsversuche des Neffen den Vorstellungen des „Ostens“ diametral gegenüber:

„Jetzt wurde es bitterer Ernst; das ging doch über den Spaß. Ich sagte zu ihm: „Mein Sohn, hast du nicht begriffen, daß sich die Sitten des Westens und des Ostens nie einander nähern werden? Hast du nicht eingesehen, daß die türkische Moral zu der fränkischen paßt wie die Faust aufs Auge?“[31]

Um dem Neffen die unüberbrückbare Kluft zwischen Ost und West vor Augen zu führen, beginnt der Onkel, eine Liste von Punkten bezüglich der Bräuche und Traditionen vorzutragen, in denen sich Ost und West unterscheiden. Er nennt zwölf Punkte, in denen er versucht alle Bereiche des Lebens zu berücksichtigen.[32] Doch stößt der Onkel auf taube Ohren.

„Aber die Zeit war gekommen, um ein Exempel zu statuieren. Ich dachte lange darüber nach. Ich bemühte mich von dem Tage an, eine Beschäftigung für meinen Neffen zu finden. Ich brachte ihn zu dem Entschluss, eine Studienreise in einen Gebirgswinkel Anatoliens zu unternehmen. Aber wohin? Schließlich verfiel ich auf Sunguldak – Sunguldak! Ja, das war das Richtigste, ha, ha! Jetzt wirst du dein Moulin Rouge und deinen Cancan dort vergebens suchen. Gott sei Dank! Endlich gefunden! Mit einer Ingenieursstelle in Sunguldak schaffte ich mir meinen Neffen vom Halse!“ [33]

Ahmet Hikmet schließt seine Geschichte mit einem fast schon positiven Ereignis. Nach fünf Jahren kehrt der Neffe aus Zonguldak zurück, und, der vorher wie Champagner überschäumende junge Mann, ist nun ruhig und gesetzt wie Buttermilch (im Original Ayran). Es scheint also möglich, den Neffen umzuerziehen bzw. zu „reorientalisieren“ – er kann von seiner oberflächlichen Europäisierung wieder geheilt werden. Die Geschichte dient Ahmet Hikmet nicht nur dazu, dem Leser die negativen Konsequenzen des Auslandsstudiums vor Augen zu führen, sondern auch die Gefahren der Nachahmung und Orientierung an Europa. Er verwendet durchgehend Dichotomien, um die Unterschiede zwischen seiner Heimat und Europa vor Augen zu führen: Westen versus Osten – Türken versus Franken – Europa versus Anatolien – Paris versus Zonguldak – türkische Bräuche und Moralvorstellungen versus europäische Traditionen und abschließend sogar Champagner versus Ayran.

Müftüoglu äußerte seine Ablehnung des Studiums in Europa auch bei anderen An­läs­sen, die Begründung blieb jedoch dieselbe. Die türkisch-mus­li­mischen Schüler, in der Heimat tra­di­tio­nell und streng erzogen, seien in Europa ohne Auf­sicht. Durch die Ein­flüsse ihrer neu­en Umgebung ent­stün­den große Mängel hinsichtlich ihrer re­li­giösen und nationalen Über­zeugung. Somit könn­ten sie der Heimat keinerlei Dienst leisten. Un­ter bestimmten Vor­aus­set­zun­gen könnten Os­manen aber trotz aller Gefah­ren nach Euro­pa gehen: Wenn man bereits eine höhe­re Ausbildung im Os­manischen Reich absol­viert und ein bestimmtes Alter erreicht habe, könne man zur Beendigung bzw. zur Vertiefung des Stu­diums nach Europa ge­hen. Die Personen müssten jedoch auf rigorose Weise aus­ge­wählt wer­den und hinsichtlich ihres Wis­sens in den Be­reichen Religion, tür­kische Ge­schich­te, Lite­ra­tur und Geographie be­son­ders herausragen:

„Ein Jugendlicher, der Geographie, Geschichte, Literatur und Sprache seiner Hei­mat nicht kennt und eine fremde Sprache erlernt und in den Ozean des Wissens ein­taucht, dieser ist im­mer noch unwissend. Er ist ein Hoffnungsloser, des­sen Leben und Be­mühun­gen ins Leere ge­hen, er ist ohne Sprache und ohne Heimat. Er ist für seine Heimat oder seine Mit­bür­ger sowie für seine Familie weder in Europa ein Europäer, noch in der Türkei ein Türke.“[34]

Müftüoglu spricht hier und in seiner Kurzgeschichte eine in sei­nen Augen pervertierte Form der Europäisierung an, die alafrangalik. Bereits im 18. Jahr­hun­dert begann im Osmanischen Reich die Orientierung an Euro­pa in Kunst und Architektur so­wie der zunehmende Kon­sum westlicher Güter.[35] Im Lau­fe des 19. Jahrhunderts eta­blier­te sich be­sonders un­ter den herrschenden osmanischen Eli­ten eine neue „euro­päi­sche“ Lebens­form. Sie um­fass­te Klei­dungs- und Wohn­stil, Es­sens­sit­ten, neue Ar­ten von Ver­gnügun­gen wie der Besuch von The­a­tern und neue Ar­ten des Um­gangs mit Frau­en.[36] Dadurch ent­stan­den ver­stärkt Reibungen innerhalb der os­ma­nischen Ge­sell­schaft und die Be­zeich­nung alafranga ge­wann eine im­mer nega­ti­vere Kon­no­ta­tion, be­son­ders in dem in­tel­lek­tu­el­len Pro­zess, in dem man nun ver­suchte, klarer zu dif­fe­ren­zie­ren, was von Euro­pa zu übe­r­neh­men und was an Eige­nem zu be­wahren sei. Die alafrangalik wurde zur fal­schen, unreflektierten „Euro­päi­sie­rung“, bei der man die eige­nen Wur­zeln verlor, ohne dabei aber zum „Euro­päer“ zu wer­den.[37] Nach Ansicht einiger osmanischer Intellektueller wie Ahmet Hikmet barg das Studium in Europa diese Gefahr der Europäisierung oder alafrangalik in besonders hohem Maße in sich.

Schlussbemerkung

Um Ahmet Hikmets Position zu bewerten, ist es möglich, wieder Carl Heinrich Becker zurate zu ziehen:

„Es gab natürlich auch Leute, die Ernst machten mit der europäischen Bildung und dabei doch mit beiden Füßen auf dem Boden des Orients stehenblieben. […] Sie übernehmen zunächst die geistigen Waffen Europas, um ihren Standpunkt als Muslime, als Asiaten zu verteidigen. Sie rationalisieren und sie nationalisieren ihre Bildung. Sie sind dem Europäer oft unbequem, ja, sie zeigen gelegentlich eine direkt antieuropäische Tendenz. Sie fügen sich nicht willig wie die Französlinge. Sie halten mit einer Kritik Europas nicht zurück, aber sie übernehmen doch wertvolle Bildungselemente.“[38]

Diese Zeilen könnte man als Charakterisierung Ahmet Hikmets verwenden: Ausgebildet in der Lycée de Galatasaray, versiert in Fremdsprachen, Beamter im Staatsdienst, eine Person, die viele europäische Länder bereiste und trotz alldem oder vielleicht deswegen eine Kurzgeschichte wie Yegenim schrieb und dafür plädierte, doch besser „Orientale“ zu bleiben. Aber es wäre zu einfach, solch eine dichotomische Perspektive zu übernehmen. Es gab viele Grautöne zwischen Anti-Europäismus und unreflektierter Bewunderung Europas. Ahmet Hikmets Kritik an schädlichen europäischen Einflüssen in Yegenim ist eher als Kritik an seiner eigenen Gesellschaft zu bewerten als an Europa. Demzufolge ist es nicht wirklich ein Anti-Europäismus, den er propagierte. Es ist vielmehr eine Kritik an den von Becker ebenfalls beklagten „Europäisierungsmißständen“. Wie man in seinem späteren Artikel zur nationalen Bildung sehen kann, bestritt er nicht, dass ein Studium in Europa Vorteile haben kann, doch nur unter bestimmten Bedingungen. Ahmet Hikmets fehlendes Vertrauen in seine Mitbürger, die nach Europa zum Studium gingen, führte jedoch dazu, dass er es als bessere Lösung betrachtete, orientalisch bzw. türkisch zu bleiben und sich von europäischen Einflüssen fernzuhalten, wenn man nicht mit ihnen umgehen könne.



[1] Essay zur Quelle: Ahmed Hikmet, Der Kulturträger (Mein Neffe), Monolog (in: Türkische Erzählungen, München 1916); [Transkript].

[2] Becker, Carl Heinrich, Das türkische Bildungsproblem. Akademische Rede, gehalten am Geburtstag seiner Majestät des Kaisers in der Aula der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität, Bonn 1916.

[3] Vgl. hierzu etwa den Essay von Grandits, Hannes, „Europäisierung“ im spätosmanischen Südosteuropa im 19. Jahrhundert. Von einer romantischen Idee zu rücksichtsloser Realpolitik, in: Themenportal Europäische Geschichte (2010), http://www.europa.clio-online.de/2010/Article=439 (25.01.2011).

[4] Vgl. Zeldin, Theodore, France 1848-1945 (2), Oxford 1977.

[5] Vgl. hierfür z.B. Deringil, Selim, The Well Protected Domains. Ideology and the Legitimation of Power in the Ottoman Empire 1876-1909, London/NY 1998, S. 93-111.

[6] Becker, Das türkische Bildungsproblem, S. 19-21.

[7] Becker, Carl Heinrich, Educational Problems in the Far and Near East, London 1933, S. 44.

[8] Vgl. z.B. Banse, Ewald, Die Türken und wir. Ein kleines Mahn-und Geleitwort an sie und uns, Weimar 1917; Vámbéry, Hermann, Westlicher Kultureinfluss im Osten, Berlin 1906; Schaeder, Hans Heinrich, Zum Entwurf einer orientalisch Kulturgeschichte, in: Weltpolitische Bildungsarbeit an Preußischen Hochschulen, Berlin 1926, S. 101-114.

[9] Sisman, Adnan, Tanzimat Döneminde Fransa’ya Gönderilen Osmanli Ögrencileri (1839-1876), Ankara 2004, S. 4f. und 79.

[10] Deringil, The Well Protected Domains, S. 96.

[11] Der Schwerpunkt verlagerte sich von Frank­reich nach Deutschland und in frankophone Ge­biete Bel­giens und der Schweiz.

[12] Kieser, Hans-Lukas, Vorkämpfer der „Neuen Türkei“. Revolutionäre Bildungseliten am Genfersee (1870-1939), Zürich 2005, S. 38.

[13] Ergün, Mustafa, II. Mesrutiyet Devrinde Egitim Hareketleri (1908-1914), Ankara 1996, S. 533.

[14] Chambers, Richard L., Notes on the Mekteb-i Osmanî in Paris, 1857-1874, in: Polk, William R.; Chambers, Richard L. (Hgg), Beginnings of Modernization in the Middle East. The 19th Century, Chicago, London 1968, S. 313-329, hier S. 316f.; Sarman, Kansu, Türk Promethe’ler. Cumhuriyet’in Ögrencileri Avrupa’da, Istanbul 2005, S. 24.

[15] Chambers, Notes on the Mekteb-i Osmanî, S. 328f.

[16] Fahreddinof, Adburrahim, Avrupada Türk Talebesi, in: Türk Yurdu 5 (1329/1913), S. 907-910, hier S. 908.

[17] Spies, Otto, Die moderne türkische Literatur, in: Handbuch der Orientalistik (1. Abt., Bd. 5, 1.). Turkologie, Leiden, Köln 1982, S. 336-382, hier S. 360f.

[18] Für die englische Übersetzung vgl. Iz, Fahir, An Anthology of Modern Turkish Short Stories, Minneapolis 1987.

[19] Schrader hatte bereits 1907 Teile von Haristân u Gülistân ins Deutsche übersetzt: Schrader, Friedrich, Ahmet Hikmet. Türkische Frauen, Berlin 1907.

[20] Im Folgenden wird der Originaltitel der Kurzgeschichte und nicht der im Deutschen abweichende Titel „Der Kulturträger“ verwendet.

[21] Osmanische Reformperiode von 1839-1876.

[22] Jäger, Siegfried, Text- und Diskursanalyse. Eine Anleitung zur Analyse politischer Texte, Duisburg 1993 (4. Aufl.), S. 6. Zu weiteren Details der historischen Diskursanalyse siehe Landwehr, Achim, Geschichte des Sagbaren. Einführung in die historische Diskursanalyse, Tübingen 2001.

[23] Originalversion: Müftüoglu, Ahmet Hikmet, Yegenim, in: Servet-i fünûn 19;472 (1316/1900), S. 51-54; Übersetzung: Schrader, Friedrich, Der Kulturträger (Mein Neffe). Ein Monolog von Ahmed Hikmet, in: Kaufmann, Max Rudolph (Hg), Türkische Erzählungen, München 1916, S. 30-38. Im Folgenden wird die deutsche Übersetzung zitiert.

[24] Schrader, Der Kulturträger, S. 30f.

[25] Ebd., S. 34.

[26] Ebd., S. 35.

[27] Görgün, Tahsin, Art. „Medeniyet“, in: Türkiye Diyanet Vakfi Islam Ansiklopedisi 28 (2003) , S. 296-301, hier S. 299.

[28] Art. „Medeniyet“, in: Türk Dili ve Edebiyati Ansiklopedisi 6 (1986), S. 180-182, hier S. 181.

[29] Görgün, „Medeniyet“, S. 299. Die Gleichsetzung von Fortschritt und Zivilisation ist keine osmanische Besonderheit, sondern höchstwahrscheinlich in Anlehnung an das von der Aufklärung geprägte Konzept von Zivilisation als materieller und moralischer Fortschritt; vgl. Duara, Prasenjit, Civilization and Nations in a Globalizing World, in: Sachsenmaier, Dominic; Riedel, Jens; Eisenstadt, Shmuel (Hgg), Reflections on Multiple Modernities. European, Chinese and Other Interpretations, Leiden 2002, S. 79-99, hier S. 79.

[30] Görgün, „Medeniyet“, S. 299.

[31] Schrader, Der Kulturträger, S. 35.

[32] Anzumerken ist an dieser Stelle, dass Schrader in seiner Übersetzung vier bzw. drei Punkte (in der osmanischen Version aus Servet-i fünûn sind es fünfzehn Punkte, in der osmanischen Version aus Haristân u Gülistân sind es sechzehn) weggelassen hat: Europäer begrüßen das neue Jahr mit einer Feier, Orientalen betrachten diesen Tag als einen Tag der Trauer. Orientalen schreiben von rechts nach links, Europäer von links nach rechts. Das europäische Alphabet hat mehr Buchstaben, diese werden jedoch nicht gelesen, Orientalen schreiben die Buchstaben nicht, lesen sie jedoch. Orientalen schreiben das Datum ans Ende eines Briefes, Europäer hingegen an den Anfang. Warum Schrader eben diese Punkte weggelassen hat, ist nicht ersichtlich. Für die fehlenden Punkte vgl. Müftüoglu, Yegenim, S. 53 und Müftüoglu, Ahmet Hikmet, Yegenim, in: Tevetoglu, Fethi, Büyük Türkçü Müftüoglu Ahmet Hikmet, Ankara 1951, S. 172-175, hier S. 174.

[33] Schrader, Der Kulturträger, S. 37f.

[34] Müftüoglu, Ahmet Hikmet, Millî Terbiye, in: Millî Ta’lîm ve Terbiye Cem’iyyeti Mecmû’asi 3 (1334/1918), S. 49-59, zitiert nach Tevetoglu, Fethi, Ahmed Hikmet Müftüoglu. Hayâti ve Eserleri, Ankara 1986, S. 176f.

[35] Göçek, Fatma Müge, Rise of the Bourgeoisie. Demise of Empire. Ottoman Westernization and Social Change, New York, Oxford 1996, S. 37.

[36] Vgl. Kudret, Cevdet, Alafranga Dedikleri, in: Tarih ve Toplum 4 (1984), S. 267-271.

[37] Akpinar, Soner, Yakup Kadri Karaosmanoglu’nun Romanlarinda „Alafrangalik“ Temasi, in: Uluslararasi Sosyal Arastirmalar Dergisi 1;4 (2008), S. 62-76, hier S. 64.

[38] Becker, Das türkische Bildungsproblem, S. 20f.



Literaturhinweise

  • Deren, Seçil, Kültürel Batililasma, in: Belge, Murat (Hg), Modern Türkiye'de Siyasi.
  • Düsünce. Modernlesme ve Baticilik, Bd. 3, Istanbul 2002, S. 382-427.
  • Deringil, Selim, The Well Protected Domains. Ideology and the Legitimation of Power in the Ottoman Empire 1876-1909, London 1998.
  • Faroqhi, Suraiya, Kultur und Alltag im Osmanischen Reich. Vom Mittelalter bis zum Anfang des 20. Jahrhundert, München 1995.
  • Göçek, Fatma Müge, Rise of the Bourgeoisie. Demise of Empire. Ottoman Westernization and Social Change, New York 1996.
  • Kreiser, Klaus, Türkische Studenten in Europa, in: Höpp, Gerhard (Hg), Fremde Erfahrungen: Asiaten und Afrikaner in Deutschland, Österreich und in der Schweiz bis 1945, Berlin 1996, S. 385-400.


Zugehörige Quelle:

Der Kulturträger

(Mein Neffe)[1]

Ein Monolog von Ahmed Hikmet

(Ein alter Herr mit meliertem, rundgeschnittenem Vollbart. Sein Gehrock ist von oben bis unten zugeknöpft; er trägt einen runden Fes, der, auf den Hinterkopf geschoben, die offene, gerunzelte Stirn zeigt. Die Schultern sind leicht abfallend, die Figur nach vorn gebeugt. Sein Mienenspiel ist lebhaft und humorvoll, sein Alter zwischen 50 und 55.)

Der alte Herr: Ich habe einen Neffen…Er hat in Paris seine Studien beendet…Ja, wissen Sie, beendet! Als meine Einkünfte zu Ende waren, bezog er auch keinen Wechsel mehr von mir…und als er mit dem Wechsel fertig war, hatte er auch seine Studien beendet…Worin seine Studien eigentlich bestanden, das habe ich nie so recht erfahren können. „Lieber Onkel,“ sagte er, „du verstehst von der Sache einfach nichts…Bis ich (S. 30) auf der Universität mit allen Wissenschaften fertig bin…!“ – Ja, aber bis er auf der Universität mit allen Wissenschaften fertig ist, bin ich im Narrenhause mit allen Narrheiten fertig…Sehen Sie…und sagen Sie mir, ob man da nicht verrückt werden kann! Ich werde es Ihnen erzählen…: Mein Neffe hatte zuerst den Wunsch, Baumeister zu werden…Er zeichnete auch einige wunderbar verzierte Türen, ferner protzig-vergoldete Kuppeln und zog mir mit seinen Plänen, die nicht Hand und nicht Fuß hatten, das Geld aus der Tasche…Na, später sah er ein, daß er kein rechtes Fundament legen konnte, und warf sich auf das Studium der Metallurgie…Je eifriger er aber das betrieb und mit seinen Retorten und Schmelztiegeln arbeitete, desto mehr schmolzen auch meine Goldstücke dahin…Mein Neffe wurde auch dessen überdrüssig. Er erinnerte sich an das alte Wort: „Fass‘ eine Erdscholle und sie wird zu Gold!“ Um dies zu erreichen, versuchte er es mit dem Studium der Landwirtschaft und der Forstkultur…Der tolle Mensch machte aber seine ersten Versuche bei der Tochter eines Gärtners und säte buchstäblich Hirse auf dem Grunde meines Portemonnaies, wie wir sagen, das heißt, er untersuchte es bis in die tiefsten Tiefen, um später, wie man sagt, einen Feigenbaum auf meinem Herde zu pflanzen. Schließlich eines schönen Morgens, sah ich meinen Neffen vor mir…O, wie er aussah!...Sein Kragen war rissig, wie eine marmorner Brunnenrand, seine Haare guckten lang und kraus unter einem Fes hervor, der schon lange seine (S. 31) Form verloren hatte, und waren gegen den Strich gekämmt, wie die Federn eines Truthahnes, die der Wind zerzaust. Sein Schlips war ein Plastron, das als Matratze für ein Baby hätte dienen können. Er bog mir seinen Hals entgegen. Während ich ihm die Hand zum Kuß bot, bot er mir die Lippen. Wir wußten beide nicht, was wir tun sollten. Ich hielt meine Hände ausgestreckt…Schließlich warf er sich mir an den Hals – und küßte mich ohne weiteres auf den Mund…Ich schämte mich wegen meiner Hand, die nichts abkriegte…Notgedrungen zog ich sie zurück. In dem Augenblicke zog er aus der hinteren Tasche seines Gehrockes ein weißes Taschentuch und dabei sah ich, daß an seinen Fingern einige große Ringe mit falschen Steinen, roten, grünen, blauen, steckten, und dann wischte er sich – ich weiß nicht, war es etwa, weil er meine Lippen geküßt hatte – in einer auffallenden Weise die Nase und den Mund. Er fand eine von unserer alten Vätersitte verschiedene Art, sich die Nase zu putzen, nämlich in der Mitte des Taschentuches. Dann faltete er es wieder zusammen (er ahmt ihn nach). Dann warf er sich auf den Diwan und bewegte sich wie ein Stehaufchen…Er schwankte hin und her; endlich saß er gerade wie ein Pfahl…Er schien kein Mensch mehr zu sein, nicht mein Neffe mehr, sondern eine Maschine…Auch auf dem Minder (Diwan) konnte er nicht mehr sitzen; so versuchte er es auf dem Kanapee. – Aber auch dort fand er seine Ruhe nicht. Nichts gefiel ihm…Auch ich gefiel ihm nicht, sein geliebter Onkel…Meine Worte (S. 32) gefielen ihm nicht…Meine Haltung gefiel ihm nicht…Mein Gang gefiel ihm nicht. Ach – nichts gefiel ihm! Er setzte es sich in den Kopf, die ganze Hausordnung umzustoßen, alles wollte er auf den Kopf stellen. Er verlangte, daß der Diener, der ihm den Kaffee brachte, weiße Handschuhe anzöge, daß der Koch eine weiße Kappe aufsetze. Er wünschte, daß sich der Hausmeister und der Kehaja[2] jeden Morgen rasierten; er riß sich in Stücke darum, er bestand darauf. Als ich eines Abends in sein Zimmer trat, um ihm die Leviten zu lesen, bot sich mir ein schrecklicher Anblick. Über das Gesicht meines Neffen war ein Stück Stoff gebunden, das unter der Nase bis zu den Ohren ging, und dieses Gesicht hatte einen unheimlichen gelben Glanz. Seine Füße ruhten auf dem Eisengeländer der Bettstelle, seine Hände hatte er in Watte gewickelt, seine Augen waren geschlossen…So schlief er, als wäre er von Sinnen…„Ein Unglück!...Ein Unglück!“ rief ich, stürzte aus dem Zimmer. Und dann: „Schnell einen Arzt!“ Im Hause liefen alle wild durcheinander, es ging hinaus und herein. Der Arzt kam. Behutsam traten wir mit ihm in das Zimmer meines Neffen. Da richtete sich mein Neffe ganz verstört von seinem Bette auf…In das Zimmer tönte das Wehgeschrei der Frauen im großen Salon. „Er hat sich selbst umgebracht!“ riefen sie. Mein Neffe wußte nicht, was er dazu sagen sollte; er wollte weglaufen. Wir flehten ihn an, sich wieder hinzulegen, klammerten uns an seine (S. 33) Arme, an seine Füße…Es war ein furchtbarer Aufruhr. (Er hält einen Moment inne.) Schließlich kam es an den Tag, was es mit der Sache für eine Bewandtnis hatte. Mein Neffe hatte die Absicht gehabt, am nächsten Tage nach Kiathane zu gehen…Da hatte er den Einfall gehabt, um die Füße in die Schuhe hineinzukriegen, sie auf den Bettrand zu legen, damit das Blut herausginge und um seine Haut weich und glänzend zu machen, hatte er sich das Gesicht mit Coldcream bestrichen. Um den Schnurrbart recht steif zu machen, hatte er sich so eine Maschine über das Gesicht gebunden und inmitten dieser selbstauferlegten Qualen war er ruhig eingeschlafen. Konnte es etwas Einfacheres und Natürlicheres geben als das? Das war die Frucht eines fünfjährigen Aufenthaltes im Lande der Wissenschaft und der Zivilisation, wo er, wie er sagte, Tag und Nacht in beständigem Studium verbracht hatte…Nicht wahr, Sie haben verstanden?...Nach diesen fünf Jahren hatte er die Haltung eines Napoleon, das Haar eines Humbert, den Schnurrbart Kaiser Wilhelms…Das genügte meinem Neffen, um sich für einen modernen Kopf zu halten. Ach! (Er seufzt tief.)

Eines Morgens hörte ich aus dem großen Salon unter mir einen Lärm, ein Lachen, ein Stampfen heraufschallen. Ich öffnete leise die Tür. Was sah ich?! Mein Neffe hatte seine Schwester an das Piano gesetzt und alle Dienerinnen, alte und junge, selbst die Kehaja-Kadin eingeschlossen. Sie hatten ihre Ärmel aufgestreift und ihre Bluse oben aufgeknöpft. Das sollte das Decolleté vor-(S. 34)stellen, und er spielte ihnen tolle Tänze. „Allmächtiger Gott,“ sagte ich, „ist so was denn möglich!“ Ich stürzte in das Zimmer, ich griff ihn bei seinen pomadisierten Haaren und schleppte ihn in den Selamlik…Mein Neffe hatte seine zivilisatorische Aufgabe so verstanden, daß er seiner Schwiegermutter die Geschichten des Boccaccio erklärte und den Dienerinnen Abenteuer aus dem Moulin Rouge erzählte. Jetzt wurde es bitterer Ernst; das ging doch über den Spaß. Ich sagte zu ihm: „Mein Sohn, hast du nicht begriffen, daß sich die Sitten des Westens und Ostens nie einander nähern werden? Hast du nicht eingesehen, daß die türkische Moral zu der fränkischen paßt wie die Faust auf das Auge?...So höre denn!“ Ich nahm meinen ganzen Ernst zusammen, knöpfte meinen Gehrock zu, rückte meine Brille zurecht und putzte mir die Nase. Er putzte sie sich auch. „Nun höre!“ wiederholte ich. „Ich will dir sagen, wie sich der Westen von dem Osten unterscheidet. Erstens: Wenn wir den Respekt ausdrücken wollen, so entblößen wir unseren Kopf nicht. Aber bei den Europäern ist die Entblößung des Kopfes ein Zeichen der Achtung. Höre weiter…: Zweitens wohnen seit ältester Zeit die Diener in dem untersten Stock, die Herrschaft wohnt in dem oberen. Bei den Franken ist im Gegenteil der Unterstock die Wohnung der Herrschaft und der Oberstock ist für die Diener bestimmt. Drittens: Die Teppiche, die wir unter unsere Füße breiten, die hängen die Franken an der Wand auf. Viertens: Bei uns sitzt seit alter Zeit der Mann rechts, die Frau links. (S. 35) Bei den Europäern ist es umgekehrt, da sitzt der Mann links, die Frau rechts. Fünftens: Wir essen den Pillaff[3] und die Makkaroni zuletzt. Sie essen sie als ersten Gang. Sechstens: Bei uns gilt es als gute Sitte, bei dem Essen wenig zu sprechen und schnell zu essen, sie dagegen glauben, daß man bei Tisch viel sprechen muß, Geschichten erzählen, den Kaffee am Tisch trinken und sogar seine Hände bei Tische waschen soll. Siebentes: Wir glauben, daß die Kinder sich nicht in das Gespräch der Großen mischen sollen und halten das für eine große Ungezogenheit. Bei ihnen gilt es als ein Zeichen der Klugheit. Achtens: Bei uns ist zwölf Uhr entweder Morgen oder Abend. Bei ihnen bedeutet diese Stunde entweder Mittag oder Mitternacht.“ – Hier schaute ich auf und sah, daß mein Neffe bei dem Worte Mitternacht schläfrig wurde. Ich schüttelte ihn. „Es ist noch nicht zu Ende, höre weiter,“ sagte ich. „Neuntens: Wenn sie singen, müssen sie stehen; wir sitzen, wenn wir singen. Zehntens: Wir glauben, daß ein blaues Auge behext und betrügt, sie halten das blaue Auge für etwas so Himmlisches, daß sie selbst den Engeln blaue Augen zuschreiben. Elftens: Bei uns gilt die Genügsamkeit für eine Tugend, bei ihnen ist sie ein Zeichen niederer Gesinnung. Zwölftens: Leider auch wir lassen uns den Schnurrbart wegrasieren…“ ich hob hier zufällig den Kopf und sah, daß mein Neffe genug bekommen und das Weite gesucht hatte. (Er stampft mit (S. 36) dem Fuß auf.) Jetzt geriet ich wirklich in Zorn. Aber bevor ich mich beruhigen konnte, hörte ich aus der Küche ein Geräusch heraufschallen. Was war wieder geschehen? Mein Neffe hat von den Pistazien in dem Keschulifukara, das der Koch Ibesch eben gekocht hatte, nehmen wollen und seine schöngepflegten, langen Nägel dazu gebraucht. Darauf hatte ihm der Koch gesagt, er solle sich erst die Nägel schneiden, bevor er in die Küche käme, und war gegangen, um es mir zu sagen. Mein Neffe aber hatte den Unglücklichen von dem Kutscher Pawli und dem Küchendiener Hatschadur festhalten lassen und wollte ihm den Schnurrbart wegrasieren lassen, indem er ihm versicherte, er werde so mehr à la franca aussehen. Dem armen Ibesch aber war der Kopf heiß geworden, er faßte die Nudelrolle in die eine Hand und in die andere ein halbverbranntes Stück Holz und wollte ihn aus der Küche jagen. Er schrie: „Meine Ehre hat er beleidigt, so daß ich keine zehn Para mehr wert bin…Hier sollst du nicht bleiben, fort!“ Ich kam noch zur rechten Zeit dazu, um meinen Neffen zu retten und jagte ihn in den Harem, wie ich ihn vorher in den Selamlik gestoßen hatte. Weder hier noch dort taugte er. Aber die Zeit war gekommen, um ein Exempel zu statuieren. Ich dachte lange darüber nach. Ich bemühte mich von dem Tag an, eine Beschäftigung für meinen Neffen zu finden. Ich brachte ihn zu dem Entschluß, eine Studienreise in einen Gebirgswinkel Anatoliens zu unternehmen. Aber wohin? Schließlich verfiel ich auf Sunguldak – Sunguldak! Ja, das war (S. 37) das Richtigste, ha, ha! Jetzt wirst du dein Moulin Rouge und deinen Cancan dort vergebens suchen. Gott sei Dank! Endlich gefunden! Mit einer Ingenieursstelle in Sunguldak[4] schaffte ich mir meinen Neffen vom Halse!

Genau fünf Jahre später kehrte mein Neffe, der sich, überschäumend, wie Champagner, in keine Flasche einsperren lassen wollte, von Sunguldak zurück. Das Moussierende hatte sich verloren, er war ruhig und gesetzt wie gute schwere Buttermilch. (S. 38)


[1] Schrader, Friedrich, Der Kulturträger (Mein Neffe). Ein Monolog von Ahmed Hikmet, in: Kaufmann, Max Rudolph (Hg), Türkische Erzählungen, München 1916, S. 30-38; Transkript angefertigt durch Leyla von Mende. Der gesamte Band „Türkische Erzählungen“ ist im Internet Archive einsehbar, URL: <http://www.archive.org/stream/trkischeerzhlun00kaufgoog#page/n11/mode/1up> (31.01.2011).

[2] Wächter.

[3] Reisgericht.

[4] Ort am Schwarzen Meer.


Zugehöriger Essay:
Für das Themenportal verfasst von

Leyla von Mende

( 2011 )
Zitation
Leyla von Mende, „Europäisierungsmißstände“ um 1900. Eine Kurzgeschichte des osmanischen Schriftstellers Ahmet Hikmet Müftüoglu, in: Themenportal Europäische Geschichte, 2011, <www.europa.clio-online.de/essay/id/fdae-1539>.
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