Von der Funktion einer Freundschaft - Die Aufnahme der diplomatischen Beziehungen zwischen Deutschland und der Türkischen Republik 1924[1]
Von Sabine Mangold
Als sich der deutsche Bundespräsident Christian Wulff im Oktober 2010 zum Staatsbesuch in Ankara aufhielt, beschwor er dort wie vor ihm auch andere deutsche Staatsgäste die „weit in die Geschichte zurück“ reichende „deutsch-türkische Partnerschaft und Freundschaft“[2]. Dem Ende des Ersten Weltkrieges wies er dabei den Charakter eines Neuanfanges in den wechselseitigen Beziehungen zu, da mit der Umgestaltung der politischen Systeme in beiden Ländern nunmehr „das Parlament eine zentrale Rolle spielen sollte“[3]. Ausgehend von dieser bundesrepublikanischen politischen Metaerzählung einer ebenso traditionellen, wie durch die Demokratisierung zu Beginn des 20. Jahrhunderts erneuerten deutsch-türkischen Freundschaft will der vorliegende Essay in die Geschichte der deutsch-türkischen Beziehungen während der Weimarer Republik einführen. Die Aufnahme der diplomatischen Beziehungen zwischen der ersten deutschen Demokratie und der Türkischen Republik 1924 bildet dabei das Ereignis, an dem die Überlegungen zur Ausgestaltung und Interpretation des deutsch-türkischen Verhältnisses nach dem Ersten Weltkrieg festgemacht werden sollen. Im Zentrum der Darstellung wird indes die Frage nach den Funktionen und Konnotationen der Beschwörungsformel von der traditionellen deutsch-türkischen Freundschaft stehen, der sich bereits die Diplomaten und Politiker beider Seiten bei der Anknüpfung diplomatischer Beziehungen fünf Jahre nach dem Ende des Ersten Weltkrieges bedienten.
Mit dem Waffenstillstand von Mudros, der am 30. Oktober 1918 zwischen Großbritannien und dem Osmanischen Reich geschlossen wurde, war unmittelbar auch der Abbruch der deutsch-osmanischen Beziehungen verbunden: Nicht nur die deutschen Diplomaten, sondern auch alle Militärs und Zivilisten hatten binnen eines Monats das Osmanische Reich zu verlassen; die diplomatische Vertretung des Deutschen Reiches bei der Hohen Pforte wurde fortan von Schweden übernommen. Im Deutschen Reich hingegen nahmen sich die Schweizer Diplomaten offiziell der osmanischen Interessen an. An dieser formalen Situation sollte sich bis ins Frühjahr 1924 nichts ändern; denn erst am 3. März 1924 schlossen das zur Republik umgewandelte Deutsche Reich und die am 29. Oktober 1923 gegründete Türkische Republik einen Vertrag, der die Aufnahme wechselseitiger diplomatischer Beziehungen vorsah. Wörtlich hieß es darin: „§2 Die hohen vertragschließenden Teile kommen überein, die diplomatischen Beziehungen zwischen den beiden Staaten gemäß den Grundsätzen des Völkerrechts aufzunehmen“[4].
Vorausgegangen waren diesem deutsch-türkischen Freundschaftsvertrag nicht ganz unkomplizierte Verhandlungen, in denen es vor allem um zwei Probleme ging: Strittig war zum einen, ob es eines solchen Vertrages überhaupt bedurfte, ob es sich also tatsächlich um einen völkerrechtlichen Neuanfang oder nur um die Wiederaufnahme der alten, zwischen dem Deutschen Kaiserreich und dem Osmanischen Staat geschlossenen diplomatischen Beziehungen handelte; zum anderen bestanden die Türken auf den Austausch von Botschaftern, während das Deutsche Reich Bedenken hegte, einen Botschafter in ein Land zu entsenden, dessen Souveränität von den Siegermächten des Ersten Weltkrieges England und Frankreich noch nicht uneingeschränkt anerkannt worden war.
Schon während der Verhandlungen in Lausanne über die Anerkennung der kemalistischen Regierung als der alleinigen Vertreterin einer neuen, souveränen Türkischen Republik (an denen Deutschland als Verlierermacht des Ersten Weltkrieges übrigens offiziell nicht beteiligt war) hatte Ismet Inönü als Sprecher der neuen türkischen Machthaber deutlich gemacht, dass sie vor der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zu Deutschland auf einen formalen Freundschaftspakt bestanden, der einen Neuanfang im türkisch-deutschen Verhältnis markieren sollte. Den Kemalisten ging es dabei vor allem darum, die Türkische Republik als neuen souveränen Staat anerkannt zu sehen, der keineswegs die Rechtsnachfolge des Osmanischen Reiches antrat, sondern seine völkerrechtlichen Beziehungen auf neue vertragliche – auf Gleichberechtigung beruhende – Grundlagen zu stellen beabsichtigte. Aus diesem Grund war allein die Türkei an einem zwischenstaatlichen Vertrag interessiert. Tatsächlich gingen sämtliche Initiativen zur Aufnahme diplomatischer Beziehungen mit Deutschland seit 1921 immer wieder von den Türken aus. Die deutsche Diplomatie und Politik hingegen hatte aus Rücksicht gegenüber englischen Vorbehalten stets gezögert, bis der neue Reichsaußenminister Gustav Stresemann nach der Unterzeichnung des Lausanner Vertrags 1923 angesichts „wiederholt[er] Äußerungen der Verwunderung über unsere Zurückhaltung“[5] endlich dem Wunsch der Türken nachgab und einen Vertreter zum Abschluss eines deutsch-türkischen Freundschaftsvertrages ermächtigte.
In den Akten des deutschen Auswärtigen Amtes findet sich nun bemerkenswerterweise des Öfteren der Begriff „Friedensvertrag“[6] für die am 3. März 1924 zwischen Deutschland und der Türkei unterzeichnete Übereinkunft. Dies weist darauf hin, dass der Freundschaftsvertrag parallel zum Vertrag von Lausanne zwischen der Türkei, Großbritannien, Frankreich, Italien, Griechenland, Japan, Rumänien und dem Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen als Abschluss des Weltkrieges gesehen wurde, obwohl zwischen beiden Staaten nie Kriegszustand geherrscht hatte. Trotz des türkischen Drängens darf die Bedeutung der vertraglichen Verbindung zwischen Deutschland und der Türkischen Republik aber nicht überbewertet werden. Der deutsch-türkische Freundschaftsvertrag stand vielmehr im Kontext einer ganzen Reihe ähnlicher Verträge, die die Türkei nach Lausanne mit jenen Mächten anstrebte, die nicht in der Schweiz vertreten bzw. am Vertrag von Lausanne beteiligt waren. Schon die gleichlautenden Formulierungen dieser „dostluk andlasmalari“, also „Freundschaftsverträge“, verweisen darauf, dass dem diplomatischen Zusammengehen mit Deutschland weder politische Priorität noch emotionale Sonderstellung eingeräumt wurde. Die kemalistische Regierung fand im Begriff der „Freundschaft“ vielmehr genau jene allgemeine politische Formel, die die künftigen Beziehungen zu ehemaligen Verbündeten des Osmanischen Reiches ebenso beschrieb, wie zu Staaten, mit denen bisher keinerlei vertragliche Bindungen bestanden hatten oder Kriegszustand herrschte: Mit der Bezeichnung „dostluk“ sollte ebenso die beanspruchte Gleichberechtigung der Vertragsschließenden ausgedrückt, wie der außenpolitische Grundsatz Mustafa Kemals unterstrichen werden, „Frieden in der Welt“ – „dünyada baris“ – zu halten. Im Kern also ging es der neuen kemalistischen Regierung allein um die damit verbundene offizielle Anerkennung der Souveränität der Türkischen Republik.
Mit Unwillen und einer gehörigen Portion bewusstem Unverständnis hatte der deutsche Außenminister Gustav Stresemann daher in seinen Instruktionen für den deutschen Verhandlungsführer vor Ort darauf hingewirkt, gerade diesen symbolischen Gehalt des Abkommens nicht zu unterstreichen: „Es handelt sich bei dem Abschluss des Freundschaftsvertrages um einen mehr formellen Akt, der nach türkischer Auffassung bei den geänderten innerpolitischen Verhältnissen in der Türkei die Voraussetzung zu bilden hat, um die Beziehungen zum türkischen Reich überhaupt wieder aufnehmen zu können.“[7] Wäre es nach dem deutschen Außenminister gegangen, hätte es keines speziellen Dokumentes bedurft, das in Deutschland und auf internationaler Ebene leicht als politische Demonstration wahrgenommen werden konnte. Schon hier wird deutlich, worin ein zentrales Missverständnis auf politischer Ebene zwischen Deutschland und der Türkei in den kommenden Jahren liegen wird: Da die deutschen Außenpolitiker die Neuartigkeit der kemalistischen Türkei nicht wirklich realisierten – Stresemann sprach bezeichnenderweise vom „türkischen Reich“ – und die Konsequenzen der inneren Umgestaltung für die außenpolitischen Formen und Interessen anfangs nicht ernst nahmen, erwarteten sie zwar Verständnis für die begrenzten deutschen Handlungsspielräume, konnten (und wollten) die türkischen Erwartungen auf internationale Gleichberechtigung jedoch nur als „Formalitäten“, als inhaltsleere äußerliche Handlungen, registrieren. Während die deutsche Seite jede symbolische und damit öffentlich sichtbare Politik im Verhältnis zur Türkei zu vermeiden suchte, damit zugleich aber auch den politischen Gehalt ihrer Beziehungen relativ gering veranschlagte, kam es den Türken gerade auf Formen, Symbole und Rituale an, die ihre politische Relevanz und Gleichwertigkeit öffentlich sichtbar unterstrichen.
Diese unterschiedlichen Erwartungen an das deutsch-türkische Verhältnis wurde schließlich auch bei der Bestellung der künftigen diplomatischen Vertreter beider Staaten sichtbar: Nachdem Stresemann zunächst nur einen inoffiziellen Vertreter schicken wollte, sah er sich seit Mitte März 1924 zunehmend unter türkischem Druck. Die Forderung der Türken nach einem offiziellen und dauerhaften Botschafter wurde immer drängender. Deswegen entschloss sich Stresemann, sichtlich überrascht von den nachdrücklichen türkischen Forderungen, in Rücksprache mit dem britischen Gesandten in Berlin zur Entsendung Rudolf Nadolnys als „definitiven und offiziellen diplomatischen Vertreter“[8], jedoch vorerst noch ohne Titulatur, nur mit dem persönlichen Rang eines Botschafters. Solange die Briten eine genaue Amtsbezeichnung ihres Vertreters in der Türkei unbestimmt ließen, wollte sich auch die deutsche Reichsregierung nicht festlegen. Nur so ist schließlich auch die gefundene Kompromissformel zu verstehen, die die Bezeichnung des am 7. Oktober 1924 akkreditierten Vertreters der Türkischen Republik beim Deutschen Reich bedeutete: General Kemaleddin Samy Pascha, bis dahin Abgeordneter der Grossen Türkischen Nationalversammlung, wurde zwar „mit dem Titel eines Botschafters“, aber nur „in der Eigenschaft eines außerordentlichen Gesandten und bevollmächtigten Ministers“[9] ernannt. Erst im Juni 1925 wurde die türkische Gesandtschaft offiziell in eine Botschaft umgewandelt.
Angesichts der fast sechsjährigen Unterbrechung der offiziellen diplomatischen Beziehungen zwischen Deutschland und der Türkei bot die Akkreditierung der Botschafter 1924 die erste Gelegenheit einer Begegnung zwischen Deutschen und Türken auf staatlicher Ebene. Mit besonderer Aufmerksamkeit wurde daher der Auftritt der beiden Vertreter in Berlin und Ankara erwartet und beobachtet. Denn an ihrer Person und ihrem Erscheinen wurde nicht nur das künftige Verhältnis der beiden Staaten, sondern auch die Form und Intensität der gesellschaftlichen Beziehungen festgemacht.
Die beiden Männer, die von ihren Regierungen als Repräsentanten ausgetauscht wurden, hätten auf den ersten Blick kaum unterschiedlicher sein können: Rudolf Nadolny war ein etablierter Karrierediplomat, der seit 1902 zuerst im konsularischen, dann im diplomatischen Dienst des Deutschen Reiches gestanden hatte und vor seiner Berufung nach Ankara die Weimarer Republik als Gesandter in Schweden vertrat. Was ihn indes für den Posten in Ankara auszeichnete, war nicht so sehr sein gutes Verhältnis zum Reichspräsidenten Ebert, dem er als Bürochef gedient hatte, sondern seine Orienterfahrung: Durch seine Sondermissionen in Bosnien, Albanien, Ägypten und Persien vor und während des Ersten Weltkrieges gehörte Nadolny in der Weimarer Republik zu den wenigen erfahrenen Orientexperten, die im diplomatischen Dienst bereitstanden. Inwiefern Nadolny dem Orient „gegenüber unbelastet war“[10], wie er sich selbst bezeichnete, ist angesichts seiner Geheimdiensttätigkeit in Persien während des Krieges zwar fraglich, doch hatte er tatsächlich keine politisch verantwortlichen Posten im Auswärtigen Amt innegehabt. Und schließlich – auch das dürfte nicht ganz unwichtig gewesen sein – war die Türkeipolitik bisher über die deutsche Botschaft in Schweden gelaufen, das – wie gesagt – die Vertretung Deutschlands in der Türkei übernommen hatte.
Mustafa Kemal hingegen entschied sich für einen Offizier des Welt- und türkischen Unabhängigkeitskrieges, Mitte vierzig, unverheiratet, den selbst die ansonsten eher vorsichtigen Beamten des deutschen Auswärtigen Dienstes als „eine gerade, frische, ehrliche Soldatennatur“[11] bezeichneten, als „ein Mann zielbewusster Energie und selbstbewussten Charakters, der sich seine eigene Meinung bildet und an der einmal gewonnen Ueberzeugung mit eigensinniger Hartnäckigkeit festhält.“[12] Mit anderen Worten: Dieser Mann war alles andere als ein Diplomat, weder sein Habitus, noch sein Charakter wiesen ihn als sonderlich diplomatisch aus, und es war nicht zu erwarten, dass der Umgang mit ihm, weder politisch, noch persönlich, einfach sein würde. Was die deutsche Diplomatie und Politik indes zuversichtlich stimmte, war der Umstand, dass Kemaleddin als ausgesprochen deutschfreundlich galt. Er beherrschte nicht nur die deutsche Sprache, sondern trug, wie die deutschen Diplomaten befriedigt bemerkten, „im Gegensatz zu vielen anderen türkischen Offizieren an seiner Ordensschnalle das Band des Eisernen Kreuzes“[13]. Worauf es also in der Wahrnehmung der deutschen Diplomatie und Politik ankam, war das Bekenntnis zur zurückliegenden deutsch-türkischen Waffenbrüderschaft, die von Kemaleddin so paradigmatisch verkörpert wurde. Darauf spielte auch Reichspräsident Friedrich Ebert in seiner diesem Essay als Quelle 2 beigegebenen Erwiderungsansprache anlässlich der Akkreditierung Kemaleddins an, als er darauf hinwies, „dass die Wahl der Türkischen Regierung (...) in Deutschland besonders begrüßt worden“ sei, „da Sie in unserem Lande kein Unbekannter sind.“ Tatsächlich kannte Kemaleddin Deutschland durch einen längeren Aufenthalt während des Ersten Weltkrieges als Begleiter des osmanischen Prinzen Omar Faruk; wichtiger indes war seine Bekanntschaft und Zusammenarbeit als Brigade- und Divisionskommandeur der türkischen Armee mit den Mitgliedern der deutschen Militärmission und des deutschen Asienkorps während des Ersten Weltkrieges an den osmanischen Fronten. So wie Nadolny also über Orienterfahrung verfügte, verfügte Kemaleddin über Deutschlanderfahrung, die sich für beide auf das Engste mit der Erfahrung des deutsch-türkischen Weltkriegs-Waffenbündnisses verband; während Nadolny durch seinen Persieneinsatz indes während des Krieges kaum in näheren Umgang mit türkischen Kollegen gelangte, konnte Kemaleddin geradezu auf ein kleines Netz militärischer Ansprechpartner zurückgreifen. Insbesondere sein Kontakt zu Otto Liman von Sanders, dem Chef der letzten deutschen Militärmission, Generalinspekteur der Türkischen Armee und Oberbefehlshaber der 1. und 5. Türkischen Armee, blieb über den Krieg hinaus bestehen: Bei ihm holte sich Kemaleddin in München kurz vor seiner Ernennung zum türkischen Botschafter bei einem persönlichen Treffen Informationen über die politische Situation im neuen Deutschland.
Liman von Sanders steht indes stellvertretend für diejenigen in der Weimarer Republik, denen Kemaleddin kein Unbekannter war: Es handelte sich dabei im wesentlichen um die ehemaligen Asienkämpfer in Militär und Zivilleben, die ihre Kriegsjahre in der Türkei verbracht hatten und nun auch unter den neuen Bedingungen der Republik für ein Zusammengehen mit der Türkei eintraten: Durchaus als Fortsetzung der Kriegskoalition gegen England verstanden sie diese Option politisch als Kritik an der Westorientierung und Alternative zur offiziellen Erfüllungspolitik. Auch dem Reichspräsidenten Friedrich Ebert wird diese Konnotation der neuen deutsch-türkischen Beziehungen nicht entgangen sein, wie die subtile sprachliche Distanzierung in seiner Erwiderungsrede deutlich macht; um so aufmerksamer wurde von den Diplomaten des Auswärtigen Amtes registriert, dass er den vorbereiteten Text seiner Rede spontan variierte und Kemaleddin ausdrücklich „besonders herzlich willkommen“ hieß. Auch Ebert war sich bewusst, dass Deutschland jede moralische wie politische Unterstützung in der Auseinandersetzung mit den Siegermächten brauchen konnte, und diese Freundschaftsgeste schien ihm, nachdem die Briten die kemalistische Regierung anerkannt hatten, politisch nicht kompromittierend, zumal sie zeitgenössisch nicht an die Öffentlichkeit drang.
Mit dem Beglaubigungsschreiben und seiner Ansprache vor den Mitgliedern der deutschen Regierung im Oktober 1924, die diesem Text als Quelle 1 beigegeben ist, nährte Kemaleddin nun tatsächlich vordergründig die deutsche Illusion, im deutsch-türkischen Verhältnis habe sich seit dem Krieg weder politisch, noch emotional etwas geändert. Ausdrücklich hatte der neue türkische Staatspräsident Mustafa Kemal Deutschland seiner „Gefühle vollkommener Freundschaft“[14] versichert, und Kemaleddin unterstrich diese Formel nun, indem er von den „Beziehungen der Freundschaft“ sprach, „die zu allen Zeiten zwischen der Türkei und Deutschland bestanden haben.“ Damit griffen Mustafa Kemal wie sein Gesandter jenen Begriff von der „deutsch-türkischen Freundschaft“ auf, der bereits vor, erst recht aber während des Weltkrieges vor allem von deutscher Seite propagiert wurde, um eine enge, exklusive und emotionale Verbindung zwischen Deutschen und Türken zu suggerieren, die über das außenpolitische Interesse und die staatliche Zweckgemeinschaft hinausging.
Während die Deutschen mit der Freundschaftsbekundung in den zurückliegenden Jahren des Krieges indes aber das Ungleichgewicht in den wechselseitigen politischen Beziehungen propagandistisch geschickt zu verdecken suchten, diente der offensive Gebrauch der Freundschaftsformel den Türken nun dazu, das darin enthaltene Postulat einer partnerschaftlichen Gleichberechtigung endlich real einzufordern. Deswegen war der Nachsatz, den Kemaleddin im Namen seines Staatspräsidenten hinzufügte, von größter Wichtigkeit: Die freundschaftlichen Beziehungen, die von diesem Zeitpunkt an von beiden Seiten als Tradition begriffen wurden, wollte Kemaleddin den Worten seiner Antrittsrede entsprechend “entwickeln“, um sie „unter den durch die großen Umwälzungen, die in den beiden Ländern stattgefunden haben, neugeschaffenen Verhältnissen auf noch festerer und verlässlicherer Grundlage zu befestigen“. Deutlich brachte Kemaleddin damit den Systembruch und die politischen und gesellschaftlichen Veränderungen zur Sprache, auf die sich die deutsch-türkischen Beziehungen einzustellen hatten. Auch eine subtile Kritik an der deutschen Arroganz und Unzuverlässigkeit während des Krieges konnte, wer es vermochte, heraushören; und dabei bedarf es nicht einmal der vielfach belegten persönlichen Distanz Mustafa Kemals zum zurückliegenden Kriegsbündnis mit dem Deutschen Reich als Argument: Das schon während des Krieges zu beobachtende militärische und nationalistische Selbstbewusstsein und politische Misstrauen gegen Deutschland war durch den erfolgreichen Unabhängigkeitskrieg gegen Griechen und Briten bei praktisch allen türkischen Militärs und Politiker stark gewachsen. Ob dies von den deutschen Diplomaten, Politikern und Türkeifreunden indes vollständig erfasst wurde, muss fraglich bleiben. Zahlreicher als die Einsichten in diese mentalen und damit auch politischen Veränderungen im deutsch-türkischen Verhältnis sind in den Akten des deutschen Auswärtigen Amtes jedenfalls die Hinweise darauf, dass Politik und Diplomatie bevorzugt nach Anzeichen für die anhaltende Sympathie der Türken suchten und jene Äußerungen bevorzugt und enthusiastisch registrierten, die diese Hoffnungen bestätigten. Die Aufnahme der diplomatischen und konsularischen Beziehungen zwischen der deutschen und der Türkischen Republik erfolgte so also nicht nur im Schatten des Versailler Vertrages, sondern auch im Schatten des verdrängten türkischen Wandels und Neubeginns.
Darüber konnte auch die eingängige Formulierung Nadolnys in seiner Antrittsrede in Ankara 1924 nicht hinwegtäuschen. Er sprach zwar davon, er komme „von einem neuen Deutschland zu einer neuen Türkei“[15]. Trotzdem galt ihm der diplomatische Akt nur als Wiederaufnahme einer alten Freundschaft, die „geblieben (war) wie früher.“ So sehr er sich daher um eine Formulierung bemühte, die Gleichberechtigung im gegenseitigen Verhältnis ausdrücken sollte, so deutlich hielt er letztlich doch an der Vorstellung einer Juniorpartnerschaft fest, in der Deutschland das moralisch-politische Ziel vorgab: Nadolny machte es sich zur Aufgabe, „unsere Völker in offener und ehrlicher Freundschaft und in gegenseitiger Achtung zusammenzuführen, auf dass es ihnen beiden gelinge, vorwärts und aufwärts zu schreiten zum Wohle der Menschheit.“ Wenn auch gebrochen, sprach hier noch immer die unerschütterliche Zuversicht, dass die Welt ohne eine starke politische Rolle Deutschlands und ohne seinen kulturellen Beitrag allein dem nivellierenden und gewalttätigen britischen und französischen Einfluss ausgesetzt sei. Wer indes im deutsch-türkischen Verhältnis zum Wohle der Menschheit vorangehen sollte, benannte er zwar nicht; doch wer Ohren hatte, konnte auch das heraushören.
Die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen der Weimarer und der Türkischen Republik markierte den Punkt, wo von der „traditionellen deutsch-türkischen Freundschaft“ zu sprechen begonnen wurde. Die beiden Parlamente übernahmen indes in der Formulierung wie in der späteren Ausgestaltung dieser Beziehungen keine besondere Rolle. Die politische Funktion der „deutsch-türkischen Freundschaft“ wurde vielmehr nach wie vor von den Interessen der Regierungsverantwortlichen und Diplomaten definiert und bestimmt. Diejenigen, die sich dabei in Deutschland für intensive Beziehungen zur Türkei einsetzten, fanden in erster Linie im geteilten Kampf gegen das System der Pariser Vorortverträge und die Siegermächte des Ersten Weltkrieges den legitimierenden Erklärungsansatz. Der Zusammenarbeit mit der Türkei kam damit die Funktion eines Widerstandes gegen Versailles zu, der Deutschland zum politischen Wiederaufstieg als souveräne Großmacht verhelfen sollte. Für die türkischen Politiker und Diplomaten, die sich über den Bruch des Krieges hinweg zum ehemaligen Waffenbruder bekannten, stand außenpolitisch ein ähnliches Interesse im Mittelpunkt: die Anerkennung durch Deutschland und dessen Hilfe beim Aufbau der türkischen Wirtschaft wie dessen Hinzuziehung der Türkei zu den europäischen und internationalen Konferenzen und Institutionen, wie dem Völkerbund oder den Abrüstungskonferenzen, sollte die Souveränität, die territoriale Integrität und die politische Gleichberechtigung der neuen Türkischen Republik in der internationalen Staatengemeinschaft stützen und stärken. Hinter dem Sprechen von der traditionellen Freundschaft verbarg sich also letztlich eine außenpolitische Zweckgemeinschaft, der es um die Stärkung der jeweiligen eigenen nationalen Ansprüche ging. Das bedeutet nun aber nicht, dass es sich bei den immer wiederkehrenden Freundschaftsbekundungen lediglich um eine Politikfloskel handelte: Das Sprechen von der Freundschaft war selbst ein Teil der Politik, ja wurde geradezu zu einem eigenständigen politischen Argument, das sich zwischen den beiden Beteiligten wie nach außen einsetzen ließ. Die Formel von der deutsch-türkischen Freundschaft – und darin bestand ihr eigentlicher Erfolg – diente nicht nur der Werbung um den Partner oder dazu, Forderungen in der jeweiligen nationalen Innenpolitik oder in den Internationalen Beziehungen durchzusetzen, sondern sie half ebenso aufkeimende deutsch-türkische Konflikte immer wieder zu überbrücken. Diese Funktion allerdings konnte nur solange wirksam bleiben, wie es im Ringen um die eigene Souveränität genug politische Interessensübereinstimmungen gab.
[1] Essay zu den Quellen: Kemaleddin Samy Pascha, Ansprache anlässlich seiner Beglaubigung als Botschafter der Türkischen Republik in Deutschland / Friedrich Ebert, Erwiderungsansprache des Reichspräsidenten (beide gehalten am 7. Oktober 1924); [Auszüge].
[2] Rede von Bundespräsident Christian Wulff vor der Großen Nationalversammlung der Türkei in Ankara am 19. Oktober 2010, einsehbar unter der URL: http://www.bundespraesident.de/-,2.667851/Rede-des-Bundespraesidenten-in.htm (09.03.2011).
[3] Ebd.
[4] Reichsgesetzblatt 1926, Teil II, S.175f., das Zitat: S. 176.
[5] ADAP, Serie A, Bd. VIII, Nr. 57: Stresemann an Gesandtschaft in Stockholm, 15.12.1923, S. 143f., das Zitat S. 144.
[6] Vgl. z. B. Akten der Deutschen Auswärtigen Politik (ADAP), Serie A, Bd. VIII, Nr. 203, S. 535 und Nr. 241, S. 630.
[7] ADAP, Serie A, Bd. VIII, Nr. 88: Stresemann an Freytag, 10.1.1924, S. 220-223, das Zitat S. 221.
[8] ADAP, Serie A, Bd. IX, Nr. 241: Maltzan an deutsche Gesandtschaft Stockholm, 2.4.1924, S. 630f., das Zitat S. 630.
[9] Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes (PAAA), R 78542, Beglaubigungsschreiben des Türkischen Gesandten, Botschafters Kemaleddin Samy Pascha – Übersetzung – Ghazi Mustapha Kemal, Präsident der Türkischen Republik an Herrn Friedrich Ebert, Präsident der Deutschen Republik, 2. September 1340.
[10] Rudolf Nadolny, Mein Beitrag. Erinnerungen eines Botschafters des Deutschen Reiches, hrsg. und eingel. von Günter Wollstein, Köln 1985, S. 162.
[11] PAAA, R 78542, Aufzeichnung für die Unterhaltung des Herrn Reichspräsidenten mit dem Türkischen Gesandten, Botschafter Kemaleddin Samy Pascha.
[12] Ebd.
[13] Ebd.
[14] PAAA, R 78542, Beglaubigungsschreiben des Türkischen Gesandten, Botschafters Kemaleddin Samy Pascha – Übersetzung – Ghazi Mustapha Kemal, Präsident der Türkischen Republik an Herrn Friedrich Ebert, Präsident der Deutschen Republik, 2. September 1340.
[15] Rede des deutschen Gesandten Nadolny am 17.6.1924, in: Zur Wiederaufnahme der deutsch-türkischen Beziehungen, in: Der Asienkämpfer v. 1.7.1924, S. 83. Dort auch die nachfolgenden Zitate.
Literaturhinweise
Cemil Kocak, Türk-Alman Iliskileri (1923-1939). Iki Dünya Savasi arasindaki dönemde siyasal, kültürel, askeri ve ekonomik Iliskiler, Ankara 1991.
Dorothee Guillmare-Acet, Impérialisme et nationalisme L’Allemagne, l’Empire ottoman et la Turquie (1908).
Sabine Mangold, Deutschland und die Türkei 1918-1933, Manuskript, Wuppertal 2011.