Die „Encyclopedia Americana“ und die Crux transnationaler Enzyklopädien[1]
Von Ines Prodöhl
Wer sollte in einer amerikanischen Enzyklopädie mehr gewürdigt werden: der General des amerikanischen Unabhängigkeitskrieges, Richard Montgomery, oder Niccolò Paganini, der italienische Violinist? 1832 beklagte ein Rezensent im „New-England Magazine“, dass sich die „Encyclopedia Americana“ für den Fiedler entschieden hatte und nicht für den Helden der Revolution. Letzterer hatte im Vergleich mit Paganini nur ein Drittel des Raumes zugesprochen bekommen. Nach Ansicht des Rezensenten, dessen Name nicht bekannt ist, geschah es häufiger, dass eine bedeutende Person der amerikanischen Öffentlichkeit in eben jenem Werk zu wenig berücksichtigt wurde. Er beklagte sich bitter darüber, dass die „Americana“ außerordentlich uninteressante und langweilige („exceedingly uninteresting and tiresome“) Einzelheiten zahlreicher europäischer Persönlichkeiten enthalte, die auf Grund einer seltsamen Trefflichkeit oder einer charakterlichen Abnormität („of any peculiar excellence or deformity of character“) für erinnerungswürdig befunden worden seien, die aber für die amerikanische Gesellschaft, für die die Enzyklopädie ja eigentlich gedacht sei, vollkommen uninteressant seien.[2]
Die „Enzyclopedia Americana“ geht auf die zwischen 1827 und 1829 entstandene siebte Auflage des Brockhaus’schen Konversations-Lexikons zurück.[3] Des Rezensenten Klage über eine allzu europäische Anbindung des Werkes erklärt sich also daraus, dass es sich um eine Adaption handelte, bei der viele Einträge aus dem Deutschen lediglich übersetzt wurden. Mit der Vermittlung übersetzten und dann als ‚national’ ausgewiesenen Wissens war die „Americana“ kein Einzelfall. Der grenzübergreifende Erfolg der Enzyklopädie als identitätsstiftendes Medium ist in den westlichen, industrialisierten Ländern des 19. Jahrhunderts genauso verblüffend wie die tatsächlichen Übernahmen zahlreicher Wissensinhalte aus Werken anderer Nationen des prinzipiell ähnlichen Kulturkreises. Textbausteine aus Enzyklopädien gingen innerhalb Europas und Nordamerikas gerne auf Wanderschaft, die Werke wurden oft übersetzt und an nationale Gegebenheiten angepasst. Die Crux war also, dass kaum eine Gesellschaft ihre Enzyklopädie selbst schrieb, ihr aber immer eine identitätsstiftende Funktion zuwies.
Der vorliegende Essay schlägt vor, allgemeine Enzyklopädien des 19. Jahrhunderts als ein transnationales Phänomen zu lesen: Die Werke hatten den Anspruch, Allgemeinwissen zu verbreiten, sie nahmen gleichzeitig eine nationale Ausrichtung vor, und schließlich war diese Mischung adaptionsfähig und eignete sich zur Übertragung auf andere Nationen. Insgesamt trugen Enzyklopädien in Europa und Nordamerika damit zur Herausbildung eines grenzübergreifend gültigen Allgemeinwissens bei. Das soll im Folgenden an den Übersetzungen und Adaptionen des Konversations-Lexikons des F. A. Brockhaus Verlages verdeutlicht werden.[4] Im Speziellen wird dafür die erste Auflage der „Encyclopedia Americana“ untersucht.[5] Wird der Fokus bei der Interpretation von Enzyklopädien auf die Verbreitung von Allgemeinwissen gelegt, ist es nebensächlich, mit welchem Titel die Werke sich im Einzelnen schmücken. Aus diesem Grund werden die Begriffe Enzyklopädie, Nachschlagewerk und Lexikon hier synonym verwendet.[6]
Der Begriff transnational ist in den westlichen Geschichtswissenschaften in den letzten Jahren ausführlich im Hinblick auf die Frage diskutiert worden, ob und inwiefern sich unter ihm ein neuer methodischer Zugang zur Beschreibung der Vergangenheit subsummieren lässt.[7] Oft ist dabei betont worden, dass den theoretischen Debatten eine empirische Untermauerung fehlt. Im Folgenden wird versucht, dies am Beispiel des deutschen Konversations-Lexikons zu leisten, weswegen der Begriff transnational bewusst auf die Enzyklopädien als Quelle angewandt wird. Transnational meint bezüglich des „Brockhaus“, dass er die Grenzen einer Nation überschreitet und offenbar problemlos auf andere Nationen übertragbar ist. Eine entsprechend transnationale Geschichtsschreibung gibt die Quelle damit vor.
Die Transformation vom deutschen Konversations-Lexikon zur „Americana“ wurde durch den späteren Staatsrechtler Francis (Franz) Lieber (1800–1872) besorgt.[8] Lieber war in Preußen ein Anhänger von Friedrich Ludwig Jahn gewesen, doch repressive Maßnahmen führten ihn 1824 nach London, von wo aus er drei Jahre später nach Amerika auswanderte. Liebers erstes Projekt in der Neuen Welt bescherte der Stadt Boston eine Schwimmhalle; das zweite bestand in der Übertragung des Brockhaus’schen Konversations-Lexikons ins Englische. Diese Übersetzung erschien zwischen 1829 und 1932 als „Encyclopedia Americana“ beim renommierten Verlag Carey, Lea & Carey in Philadelphia. Franz Lieber sollte in den folgenden Jahren zu einem der bekanntesten Politikwissenschaftler Amerikas werden und an der Columbia University lehren.
Die „Americana“ war von Beginn an nicht als reine Übersetzung angelegt, sondern sie sollte insbesondere biographische, geographische und statistische Informationen über die USA enthalten. Da Lieber für die Bearbeitung vom Verlag lediglich eine Pauschalsumme erhalten hatte, mit der er nicht nur sich selbst sondern auch die Übersetzer und externe Beiträger finanzieren musste, schrieb er zahlreiche Artikel selbst und gab dem Lexikon damit eine persönliche Note.[9] Der eingangs geschilderte Ärger des Rezensenten betraf übrigens lediglich die europäische Schwerpunktsetzung. Dass es sich überhaupt um eine Adaption und nicht um ein genuin neues Werk handelte, störte ihn wiederum nicht. Das lässt vermuten, dass es sowohl in Nordamerika als auch in Europa eine ungefähr ähnliche Vorstellung darüber gab, welche Inhalte in einer allgemeinen Enzyklopädie enthalten sein sollten. In der Tat bildete die „Encyclopedia Americana“ ihrerseits wieder eine Vorlage, und zwar für eine britische Adaption unter dem Titel „The Popular Encyclopaedia“ (1833–1841), die in insgesamt vier Auflagen in Glasgow erschien. In diesem Fall strichen die Bearbeiter diejenigen Artikel wieder aus dem Lexikon heraus, die einen starken Bezug auf Amerika hatten, ließen aber solche mit deutschem Bezug und Ursprung stehen.[10]
Der F. A. Brockhaus Verlag hatte keinen geschäftlichen Anteil an der Adaption, aber Heinrich Brockhaus (1804–1874), der nach dem Tod des Firmengründers Friedrich Arnold Brockhaus 1823 die Geschäfte des Verlages übernommen hatte, war ihr nicht abgeneigt: „Das Unternehmen scheint sehr zweckmäßig eingerichtet zu sein. Freuen muß es einen, daß die Verdienste des Vaters willig anerkannt werden und nun der Name Brockhaus in Verbindung mit dem ‚Conversations-Lexikon’ auch in der Neuen Welt bekannt wird.“[11] Gut 30 Jahre später wurde die „Americana“ von deutscher Seite noch immer als ein löblicher Transfer deutscher Kultur nach Nordamerika gefeiert und zugleich das Fehlen ähnlicher Leistungen für die jüngste Zeit bedauert. Die Deutschen repräsentierten ihr Heimatland inzwischen nicht mehr so, „wie man es von den Angehörigen einer Nation zu erwarten und zu verlangen“ habe.[12] Während man sich im Alten Europa also wünschte, dass die – noch immer nicht geeinte – deutsche Nation stärker in Übersee zusammenhalte, zelebrierten die Amerikaner mit ‚ihrer’ Enzyklopädie genau das Gegenteil, nämlich Momente, die eine eigene Identität stifteten.
Die eingangs geschilderte Episode um Montgomery verdeutlicht, dass allgemeine Enzyklopädien und damit die Vorstellung von allgemeinem Wissen ein gesellschaftliches Konstrukt sind. Es ist Verhandlungssache derjenigen Gesellschaft, in der eine Enzyklopädie produziert wird, was für erinnerungswürdig befunden wird und Eingang in das Medium findet. Im 19. Jahrhundert wurde Enzyklopädien explizit die Aufgabe zugesprochen, durch die Inklusion und Exklusion von Personen, Ereignissen, Lebensweisen und Gewohnheiten, einer Gemeinschaft Sinn und Identität zu geben.[13] So wurde die „Americana“ auf dem amerikanischen Markt auch von anderen Rezensenten prinzipiell begrüßt und zwar deswegen, weil sie ein Identifikationsangebot für die Gesellschaft darstellte.[14] Der bereits zitierte Rezensent im „New-England Magazine“ sprach sogar von „unserer“ Enzyklopädie und betrachtete damit sich selbst sowie jeden Amerikaner als Adressaten und Schöpfer des Werkes. Dieses zugleich inklusive wie exklusive „wir“ ist ein zentraler Hinweis darauf, dass Enzyklopädien ein Instrument gesellschaftlicher, in dem Fall nationaler Identitätsfindung waren, auch wenn ihr Ursprung jeweils nicht originär war. Mit den Werken verband sich die Vorstellung, alles zu einer Nation bzw. zu einer Gemeinschaft[15] Gehörende festzuhalten, egal ob dieser Anspruch eingelöst werden konnte oder nicht: „At least every thing American“ sollte gemäß dem Rezensenten in „our American Encyclopedia“ enthalten sein.[16] Diese Formulierungen bringen zum Ausdruck, dass er stolz auf das Werk war. Gleichwohl wurde diese nationale Ausrichtung unter dem Deckmantel des Allgemeinwissens dargeboten, was wiederum im Vorwort zum ersten Band der „Americana“ besonders deutlich wird. Danach sollte sie sowohl eine umfassende Sammlung von Informationen zu Amerika enthalten als auch die verschiedenen Zweige des Allgemeinwissens berücksichtigen.[17] Eine andere Rezension, die 1832 im renommierten „North American Review“, der ersten amerikanischen Literaturzeitschrift, erschien, veranschaulicht diesen Zusammenhang zwischen Allgemeinwissen und Identitätsbildung ebenfalls. Danach war die „Americana“ „adapted to the use of the many“ und zugleich für „the wants of our people“ geschrieben worden.[18] Die „Americana“ ist ein typisches Beispiel für Enzyklopädien, die unter dem Label Allgemeinwissen nationales Orientierungswissen bereithalten.
Doch wie passen die nationalen Zuschreibungen, wie die eingeforderte Stilisierung von Montgomery zur Identifikationsfigur, auf die herumwirbelnden Textbausteine? Wie lässt sich die Internationalisierung eines nationalen Produktes erklären? Zunächst einmal ist festzustellen, dass die „Americana“ keineswegs eine Ausnahme war. Vielmehr war das Ausmaß der Übersetzungen und Adaptionen des „Brockhaus“ in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts enorm. Nicht ohne Stolz verkündete der F. A. Brockhaus Verlag schon 1823 im Vorwort zur sechsten Auflage des Konversations-Lexikons, dass es Editionen in dänischer, schwedischer und niederländischer Sprache gebe.[19] Wie eine Quelle aus den 1830er Jahren bestätigt, war es weithin bekannt, dass das Brockhaus’sche Lexikon zahlreich übersetzt wurde.[20] 1872 schließlich bibliographierte das Werksverzeichnis für die Jahre seit Gründung des Unternehmens auch Bearbeitungen in ungarischer, russischer, polnischer, tschechischer, französischer, italienischer, spanischer, englischer, portugiesischer und sogar bengalischer Sprache und will glauben machen, dass es sich dabei jeweils um Adaptionen des Brockhaus’schen Konversations-Lexikons handelte.[21] Es ist zugleich festzustellen, dass sich die allgemeine Begeisterung für die Enzyklopädien nicht auf die Werke aus dem F. A. Brockhaus Verlag beschränkte, auch das Bibliographische Institut pflegte weitreichende Geschäftskontakte innerhalb Europas. So verkaufte es gegen Ende des 19. Jahrhunderts die Übersetzungsrechte der fünften Auflage von „Meyers Lexikon“ (1893–1897) nach London an die „Times“, nach Holland und nach Schweden, und die Übersetzungsrechte der sechsten Auflage (1902–1908) vermarktete der Verlag in Italien, Spanien und Polen.[22] Ganz offensichtlich zogen sich also Enzyklopädien nach deutschem Vorbild als Erfolgsmodell durch das 19. Jahrhundert. Sie kannten innerhalb Europas und Nordamerikas kaum geographische oder sprachliche Grenzen. Liebers Idee einer englischen Übersetzung war daher nicht so originär wie sie zunächst scheinen mag, er folgte vielmehr einem generellen Trend.
So zahlreich die enzyklopädischen Unternehmungen in Form von Übersetzungen und Adaptionen innerhalb und außerhalb Europas auch waren, das Konzept herumschwirrender Textbausteine hatte Grenzen. Diese lagen vor allem darin begründet, dass aufmerksame Leser eine zu vorbehaltlose Übersetzung von Wissen mit wenig einheimischen Bezugspunkten bemängelten. Neben der „Americana“ ist dies für die russische Adaption dokumentiert. Zwischen 1890 und 1904 erschien im eigens gegründeten Brockhaus & Efron Verlag in St. Petersburg die 86 Bände umfassende „Encyklopediceskij slovar“, die auf der 13. Auflage des Konversations-Lexikonsberuhte.[23] Obwohl an der Adaption zahlreiche russische Wissenschaftler mitarbeiteten, sah sich die Redaktion einer starken Kritik ausgesetzt. Diese richtete sich sowohl gegen den deutschen Ursprung als auch gegen die offenbar wenig an die russische Kultur, Wissenschaft, Politik, Literatur usw. angepassten Wissensinhalte.
Zwar wurde die „Americana“ nicht wegen ihres deutschen Ursprungs kritisiert, ansonsten aber ähnelten sich die Vorwürfe. Der Rezensent im „New-England Magazine“ kritisierte hauptsächlich die unzureichende Berücksichtigung von Personen, Ereignissen und Orten, die er als zentral für die amerikanische Geschichte und Kultur betrachtete. Daneben lagen die Mängel der Enzyklopädie seiner Ansicht nach an den zahlreich enthaltenen obskuren und absurden Dingen. Bezüglich der Darbietung mancher Wissensinhalte sprach er sogar von Quacksalberei („quackery“).[24] Allerdings pickte er sich diese Absonderlichkeiten auch genüsslich heraus, wenn er Stichworte wie „Palmetto“ oder „Pastinake“ analysierte. Spezifisch identitätsstiftende Stichworte, wie Einträge zu Geschichte und Kultur Amerikas, schaute er hingegen kaum genauer an. Er musste übrigens – wie viele andere Lexikonleser auch – feststellen, dass man in der Regel nicht das jeweils eigentlich Gesuchte findet. Vielmehr könne es passieren, dass man bei einem späteren Blick in die Enzyklopädie zu einem völlig anderen Thema plötzlich doch zum vormals Gesuchten fündig werde. Trotz seiner teilweise harten Worte kam er abschließend zu dem positiven Urteil, dass seine Kritikpunkte den Wert der „Americana“ letztlich nur geringfügig schmälerten.[25] Er hielt daran fest, das Werk als Identifikationsangebot für die amerikanische (weiße) Gesellschaft zu betrachten.
Trotz der dauerhaften Kritik an der mangelhaften nationalen Ausrichtung der Enzyklopädien blieben die „Americana“ ebenso wie die anderen Adaptionen ein Erfolgsmodell. Und damit ist noch immer fraglich, wie die nationalen Zuschreibungen zu den losen, transferfähigen Textbausteinen passen. Eine Möglichkeit, dies zu erklären, ist, die Werke als Medien zur Angleichung von Normen und Werten in den westlichen Gesellschaften zu betrachten. Die Enzyklopädie wäre dann wie ein Kleidungsstück von der Stange, das zur Ausstattung einer Nation und ihrer Identität einfach dazu gehört. Dieses Kleidungsstück war nicht maßgeschneidert, es bedurfte lediglich ein paar Abänderungen. Die verschiedensten Stichworte von Anton bis Zylinder sowie die Zeilen eines anonymisierten Wissens und einer neutralisierten Sprache sind dann wie die Facetten eines Mantels, der aus den ähnlichen Kernvorstellungen des gesellschaftlichen Miteinanders geschneidert ist. Mit dieser Herangehensweise steht die Beobachtung von einer Übersetzung und Anpassung des Wissens vor allem innerhalb Europas aber auch Nordamerikas dann nicht mehr der Behauptung entgegen, dass Enzyklopädien im 19. Jahrhundert zu Bestandteilen einer zunehmend national konnotierten Identitätsbildung wurden.[26] Und damit eignen sich Enzyklopädien auch als Quelle für die Aushandlung und Herausbildung von nationenübergreifenden Wertvorstellungen; ihre Textsegmente sind dann Bestandteil einer fließenden Annäherung sozialer Praktiken.[27]
Es ist ideengeschichtlich reizvoll, allgemeine Nachschlagewerke als Quelle für die Angleichung von Normen und Werten zu betrachten. Eine derartige Sichtweise wird auch davon getragen, dass Enzyklopädien Wissen auf eine demokratische Weise verbreiten. Der Zugang zu Wissen war dank der Enzyklopädien nicht mehr durch den Obrigkeitsstaat limitiert oder auf gelehrte Kreise begrenzt, sondern er war offen und bedurfte lediglich der Selbstorganisation der Zivilgesellschaft. Nebenbei bemerkt erschwerte diese Art der Wissensaufbereitung tatsächlich Eingriffe seitens der Zensur. Genau dies war etwa ein Grund, warum der streitbare Liberale Joseph Meyer 1839 überhaupt damit begann, ein allgemeines Lexikon herauszugeben. Am bekanntesten ist in diesem Kontext der vermutlich von ihm selbst verfasste Eintrag im Stichwort „Adel“. Hier schrieb er, dass „auch der bis zum Schurken herabgesunkene immer von Adel“ bleibe. Er überstand mit dieser Aussage unbeschadet die Zensur.[28]
Nicht zu vergessen ist bei einer kultur- und ideengeschichtlichen Perspektive allerdings, dass die erfolgreichen Adaptionen und damit der freie Zugang zum Allgemeinwissen auch handfeste, nämlich pekuniäre, Ursachen hatten. Die 12 Bände der „Americana“ sollten 30 Dollar kosten, was zeitgenössisch im Vergleich mit anderen Nachschlagewerken als preiswert empfunden wurde. Ein Rezensent betonte beispielsweise immer wieder, dass der Vorzug der „Americana“ neben der umfassenden Art der Wissensvermittlung vor allem darin liege, dass das Lexikon vergleichsweise günstig sei.[29] Das heißt aber keineswegs, dass das Lexikon generell erschwinglich war. Um 1830 kostete die Gallone Whiskey in Philadelphia, dem Entstehungsort der „Americana“, 28,4 Cents.[30] Das Lexikon war also so teuer wie 106 Gallonen Whiskey, was umgerechnet mehr als 400 Liter sind! Wenn die Enzyklopädie dennoch als erschwinglich bezeichnet wurde, verdeutlicht dies, wie teuer qualitativ hochwertige Druckwerke waren, und es vermittelt eine Vorstellung davon, wie waghalsig es gewesen sein muss, ein mehrbändiges Werk zu erstellen. Es ist kaum auszudenken, wie hoch die Kosten und wie groß das Risiko gewesen sein müssen. Somit war es preiswerter – wenn auch noch immer teuer genug – eine Übersetzung vorzunehmen und den Inhalt leicht anzupassen, als eine genuin neue Enzyklopädie zu entwerfen. Ein Nebeneffekt dieses Vorgehens war dann die Entstehung eines transnationalen Allgemeinwissens, das grenzübergreifend als gültig betrachtet wurde.
Verglichen mit dem Preis für Whiskey war die „Americana“ reichlich teuer und fraglich ist, wer sich so ein Werk dann überhaupt leisten konnte. War die Rede von „the use of the many“ letztlich nur eine lose Versprechung, da der Zugang zu Wissen zwar gegeben, aber letztlich doch auf die begüterten Bevölkerungsschichten begrenzt war? Ganz so kann es nicht gewesen sein, auch wenn die genaue Auflagenhöhe nicht bekannt ist. Carey, Lea und Carey wurden in der Finanzkrise von 1837 stark beschädigt und konzentrierten sich in der Folgezeit auf medizinische Fachliteratur. Sie vermieteten und verkauften aber mehrfach die Klischees für die „Americana“, sodass die erste, von Lieber erstellte, Auflage bis 1858 immer wieder nachgedruckt wurde. Drake De Kay hat in den 1960er Jahren versucht, nachzuvollziehen, welche amerikanischen Colleges und Universitäten die Enzyklopädie bis 1860 gekauft hatten und kam auf 41 Bibliotheken[31] – eine Zahl, die sicherlich erst im Kontext weiterer Untersuchungen zur Gesamtauflage des Lexikons, zu den vorhandenen öffentlichen Bibliotheken, zur Lesefähigkeit in der Bevölkerung und zahlreicher weiterer Faktoren aussagekräftig wird. Gleichwohl gibt sie zumindest Auskunft darüber, dass die „Americana“ zum Bestand jeder damals namhaften Collegebibliothek gehörte.
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass enzyklopädische Wissensvermittlung in Europa und Nordamerika im 19. Jahrhundert maßgeblich von deutschen Werken und ihren Verlegern geprägt wurde, wobei vor allem die Werke aus dem F. A. Brockhaus Verlag als Vorlage dienten. Sie wurden mit oder ohne Zustimmung des Verlages übersetzt, adaptiert und angepasst, und fanden auf Grund ihrer leicht zugänglichen Inhalte eine große Verbreitung. Offen bleibt bislang, warum es Werke deutschen Ursprungs waren, die so unermüdlich im Einsatz waren. Es muss Gegenstand weiterer Untersuchungen sein, herauszufinden, ob dies dem Inhalt der Werke, der Praktikabilität der Darbietungsweise oder der Findigkeit des Verlages zuzuschreiben ist.
Die Enzyklopädien hielten trotz der zahlreichen Veränderungen im Prozess der Übersetzung und Anpassung jeweils ähnliche Inhalte bereit. Sie boten Orientierungswissen an, das zumeist rechtsstaatlich und national geprägt war. Die Attraktivität des Wissens lag darin, kostengünstig die kulturpolitische Aushandlung von Identitäten und Gemeinschaften voranzutreiben. Davon fasziniert waren in erster Linie bürgerliche Schichten, die in ‚ihrer’ jeweiligen Enzyklopädie den Grundkonsens des gesellschaftlichen Miteinanders aushandelten. Das Wissen erwies sich wegen seiner zerstückelten Art der Darbietung als veränderbar, es wurde von Auflage zu Auflage und von Adaption zu Adaption modifiziert, und es verwob Universalität mit einer national konnotierten Deutungshoheit über die Zeitgeschichte. Und damit bestätigt sich die eingangs geschilderte Episode um General Montgomery. Denn zum einen sollen die Enzyklopädien die Geschichte und Kultur einer Zeit und Gesellschaft dokumentieren, zum anderen legen sie damit aber natürlich auch fest, wer und was erinnerungswürdig ist.
[1] Essay zur Quelle: Rezension der „Encyclopedia Americana“, in: New-England Magazine Vol. 2, Issue 5 (15. Mai 1832); [Transkript].
[2] Encyclopedia Americana vol. ix, in: New-England Magazine Vol. 2, Issue 5, May 1832, S. 438. Gemeint ist: Encyclopædia Americana, a popular Dictionary of arts, sciences, literature, history, politics and biography. On the basis of the 7th edition of the German Conversations-Lexikon, hg. von Francis Lieber, 13 Bde., Philadelphia 1829–1832. Im Folgenden wird auf das „æ“ aus dem Originaltitel verzichtet, im Laufe der Zeit setzte sich ein einfaches „e“ durch.
[3] Der Einfachheit halber werden im Folgenden alle allgemeinen Lexika aus dem F. A. Brockhaus Verlag mit „Konversations-Lexikon“ bezeichnet. Tatsächlich variierten die Titel.
[4] Zur kulturpolitischen Bedeutung von allgemeinen Enzyklopädien siehe Prodöhl, Ines, Die Politik des Wissens. Allgemeine deutsche Enzyklopädien zwischen 1928 und 1956, Berlin 2010; Spree, Ulrike, Das Streben nach Wissen. Eine vergleichende Gattungsgeschichte der populären Enzyklopädien in Deutschland und Großbritannien im 19. Jahrhundert, Tübingen 2000. Zur Geschichte des F. A. Brockhaus Verlages im 19. Jahrhundert vgl. Brockhaus, Heinrich Eduard, Die Firma F. A. Brockhaus von der Begründung bis zum hundertjährigen Jubiläum 1805–1905, Leipzig 1905. Für das 20. Jahrhundert siehe die aktuelle Festschrift: Keiderling, Thomas (Hg.), F. A. Brockhaus 1905–2005, Leipzig, Mannheim 2005.
[5] Zur Entstehungsgeschichte vgl. Belgum, Kirsten, Translated Knowledge in the Early Nineteenth Century: Jews and Judaism in Brockhaus’ Conversations-Lexikon and the Encyclopaedia Americana, in: Jahrbuch des Simon-Dubnow-Instituts 9 (2010), S. 303–322; De Kay, Drake, Encyclopedia Americana. First Edition, in: The Journal of Library History 3/3 (Juli 1968), S. 201–220; Weiss, Gerhard, The Americanization of Franz Lieber and the „Encyclopedia Americana“, in: Tatlock, Lynne; Erlin, Matt (Hgg.), German Culture in Nineteenth-Century America. Reception, Adaption, Transformation, Rochester, NY 2005, S. 273–287.
[6] Eine umfangreiche Liste allgemeiner Enzyklopädien ist auf der Website des Projektes „Allgemeinwissen und Gesellschaft“ unter der URL <http://www.enzyklopaedie.ch> abrufbar (08.08.2011).
[7] Die Diskussion wurde kürzlich aufgearbeitet von Tyrrell, Ian, Reflections on the Transnational Turn in United States History: Theory and Practice, in: Journal of Global History 4 (2009), S. 453–474. Der Bezug zur amerikanischen Historiographie im Titel des Beitrags wird selbigem nicht gerecht, denn Tyrrell berücksichtigt die gesamte Debatte.
[8] Becker, Peter Wolfgang, Francis Liebers wissenschaftliche Leistungen in den USA, in: Schäfer, Peter; Schmitt, Karl (Hgg.), Franz Lieber und die deutsch-amerikanischen Beziehungen im 19. Jahrhundert, Weimar u. a. 1993, S. 31–43.
[9] Vgl. Weiss, Americanization of Franz Lieber.
[10] Spree, Streben nach Wissen, S. 289–293.
[11] Aus den Tagebüchern von Heinrich Brockhaus, 5 Bde., Leipzig 1884–1887, hier Bd. 1, S. 144.
[12] Marggraf, Hermann, Deutsche Literatur, Wissenschaft und Kunst im Auslande, in: Die Gegenwart 12 (1856), S. 216–288, hier S. 284f.
[13] Zu Funktionsweisen von Enzyklopädien vgl. Michel, Paul; Herren, Madeleine, Unvorgreifliche Gedanken zu einer Theorie des Enzyklopädischen – Enzyklopädien als Indikatoren für Veränderungen bei der Organisation und der gesellschaftlichen Bedeutung von Wissen, in: Michel, Paul; Herren, Madeleine; Rüesch, Martin (Hgg.), Allgemeinwissen und Gesellschaft. Akten des internationalen Kongresses über Wissenstransfer und enzyklopädische Ordnungssysteme, vom 18. bis 21. September 2003 in Prangins, Aachen 2007, S. 9–74.
[14] Im New-England Magazin erschienen insgesamt drei Rezensionen. Die hier im Zentrum des Interesses stehende ist die ausführlichste Besprechung des Werkes (vgl. daneben New-England Magazine 2/2 (Feb. 1832), S. 173f. sowie ebd. 3/2 (Aug. 1832), S. 170). Eine weitere Besprechung erschien in: The North American Review 34/74 (Jan. 1832), S. 262–268. Bei keiner Rezension wird der Autor namentlich genannt.
[15] Der Zusammenhang zwischen Identität und Allgemeinwissen ist auch bei Gemeinschaften gegeben, die sich nicht national konstituieren, wie etwa den Juden. Vgl. die Beiträge zum Themenschwerpunkt Kaleidoscopic Knowledge, On Jewish and Other Encyclopedias, in: Jahrbuch des Simon Dubnow Instituts Leipzig, 9 (2010).
[16] Encyclopedia Americana vol. ix, in: New-England Magazine Vol. 2, Issue 5, May 1832, S. 439.
[17] Lieber, Francis, Preface, in: Encyclopedia Americana, Vol. I (1829), S. III–VIII, hier S. V.
[18] The North American Review 34/74 (Jan. 1832), S. 264f.
[19] Vorrede, in: Allgemeine deutsche Real-Encyclopädie für die gebildeten Stände (Conversations-Lexicon), 10 Bde., Leipzig: F. A. Brockhaus 61824, hier: S. XXIVf.
[20] The North American Review 34/74 (Jan. 1832), S. 262–268.
[21] Brockhaus, Heinrich (Hg.), F. A. Brockhaus in Leipzig. Vollständiges Verzeichnis der von der Firma F. A. Brockhaus in Leipzig seit ihrer Gründung durch Friedrich Arnold Brockhaus im Jahre 1805 bis zu dessen hundertjährigem Geburtstage im Jahre 1872 verlegten Werke. In chronologischer Folge mit biographischen und literaturhistorischen Notizen, Leipzig 1872–1875, S. XXXII–XXXVI.
[22] Menz, Gerhard, Hundert Jahre Meyers Lexikon. Festschrift anläßlich des hundertjährigen Jubiläums von Meyers Lexikon am 25. August 1939, Leipzig 1939, S. 55; vgl. auch Castellano, Philippe, Enciclopedia Espasa. Historia de una aventura editorial, Madrid 2000.
[23] Zum Folgenden vgl. Hexelschneider, Erhard, Der „Brockhaus“ erobert den russischen Markt. Zur Entstehungsgeschichte des „Brockhaus-Efron“, in: Keiderling, F. A. Brockhaus 1905–2005, S. 207–218 u. 401 sowie Rumjanceva, Tamara Nikolaevna, Die Firma F. A. Brockhaus und ihre Verbindungen nach Russland. Zur Geschichte der russisch-deutschen Beziehungen auf dem Gebiet des Buchwesens um die Jahrhundertwende, in: Zentralblatt für Bibliothekswesen 102 (1988), S. 491–496.
[24] Encyclopedia Americana vol. ix, in: New-England Magazine Vol. 2, Issue 5, May 1832, S. 439.
[25] Ebd. S. 440.
[26] Das ist insbesondere für die jüdischen und australischen Enzyklopädien aufgearbeitet, vgl.: Engelhardt, Arndt, Die „Encyclopaedia Judaica“. Verhandlungen von Deutungshoheit und kollektiver Zugehörigkeit in jüdischen Enzyklopädien der Zwischenkriegszeit, in: Michel; Herren; Rüesch, Allgemeinwissen und Gesellschaft, S. 225–246; Kavanagh, Nadine, Conjuring Australia. Encyclopedias and the creation of nations, Saarbrücken 2009.
[27] In Anlehnung an Appadurai, Arjun: Modernity at Large. Cultural Dimensions of Globalization, Minneapolis, MN 2005 [Erstauflage 1996]. S. 27–47.
[28] Stichwort „Adel“, in: Das grosse Conversations-Lexicon für die gebildeten Stände. In Verbindung mit Staatsmännern, Gelehrten, Künstlern und Technikern, hg. v. Joseph Meyer, 46 Bde., Hildburghausen u. a.: Bibliographisches Institut 1839–1852, S. 321
[29] North American Review, S. 262, 264
[30] Douglass C. North, The Economic Growth of the United States, 1790-1860, New York 1966, S. 260.
[31] De Kay, Americana, S. 212.
Literaturhinweise
Belgum, Kirsten, Translated Knowledge in the Early Nineteenth Century: Jews and Judaism in Brockhaus’ Conversations-Lexikon and the Encyclopaedia Americana, in: Jahrbuch des Simon-Dubnow-Instituts 9 (2010), S. 303–322.
Brockhaus, Heinrich Eduard, Die Firma F. A. Brockhaus von der Begründung bis zum hundertjährigen Jubiläum 1805–1905, Leipzig 1905 (Nachdruck Leipzig, Wiesbaden 2005).
De Kay, Drake, Encyclopedia Americana. First Edition, in: The Journal of Library History 3/3 (Juli 1968), S. 201–220.
Michel, Paul; Herren, Madeleine; Rüesch, Martin (Hgg.), Allgemeinwissen und Gesellschaft. Akten des internationalen Kongresses über Wissenstransfer und enzyklopädische Ordnungssysteme, vom 18. bis 21. September 2003 in Prangins, Aachen 2007.