Antifaschistische Kämpfer und Opfer des Faschismus nach dem Zweiten Weltkrieg. Überlegungen zur historischen Semantik des Opferbegriffs[1]
Von Regula Ludi
Als Überlebende, als Identifikationsfiguren zeitgenössischer Erinnerungspolitik, als Protagonisten der Populärkultur sind Opfer die Helden und Heldinnen unserer Zeit.[2] Mit Rückgriff auf Max Weber könnte man ihre gesellschaftliche Position in der westlichen Welt am ehesten als Status bezeichnen: Dieser stattet Opfer mit anerkannten Ansprüchen aus; er ist mit Tabus belegt und verleiht moralische Autorität; er garantiert Prestige und verbürgt Unschuld. Diese Entwicklung stößt keineswegs auf ungetrübte Freude. Besorgte Stimmen warnen vor der „sentimentalen Solidarität erinnerter Viktimisierung“, und schon seit geraumer Zeit artikuliert sich ein Unbehagen ob der verbreiteten „Sehnsucht Opfer zu sein“.[3] Ihre Bestätigung haben Bedenken dieser Art Ende der 1990er Jahre im Skandal um die Holocausterinnerungen von Binjamin Wilkomirski gefunden. Die Enthüllung der hoch gelobten und mehrfach übersetzten Memoiren als Fiktion war zunächst vor allem eine Blamage für den Literaturbetrieb, der dem Schwindel fast geschlossen auf den Leim gegangen war: Der Respekt vor dem traumatisierten Autor hatte viele Kritiker und Kritikerinnen davon abgehalten, den Text der fachüblichen Überprüfung zu unterziehen. Darüber hinaus hat der Skandal aber auch Grundstrukturen kollektiver Opferphantasien und deren Verbindung zu populären Erinnerungspraktiken offengelegt.[4]
Im Rückblick betrachtet haben diese Ereignisse unser Bewusstsein für die Historizität von Opferstatus und Opferbegriff geschärft. Und auch dafür, dass Vorstellungen von unverdientem Leid kulturell bedingt und Ergebnis von gesellschaftlichen Aushandlungsprozessen sind. Desgleichen verweist der Skandal um Wilkomirski auf die zentrale Bedeutung des Holocausts – als Chiffre und moralische Referenz – für neuere Opferkonzeptionen und deren Sakralisierung in der westlichen Populärkultur.[5] Die Tragweite dieses Wandels wird offensichtlich, wenn wir die Vorstellungen unserer Zeit mit Opferbegriffen der unmittelbaren Nachkriegszeit konfrontieren. Am Ende des Zweiten Weltkriegs, im Anschluss an die Vernichtungspolitik des Dritten Reiches und die Brutalität der modernen Kriegführung, waren europäische Gesellschaften mit menschlichem Leiden in zuvor unbekanntem Ausmaß konfrontiert. Soziale und rechtliche Ansprüche der Betroffenen erforderten neue Kategorien. Diese sollten auch klare Grenzen setzten zwischen kriegsbedingtem Unglück, dessen Folgen in der Regel auf dem Weg der Fürsorge zu lindern waren, und Unrecht, das einen Anspruch auf Entschädigung begründete, also auch moralische Wertungen implizierte.[6] Bestimmungen der 1940er Jahre über die Anerkennung von Verfolgungsopfern geben auf exemplarische Weise Aufschluss über dominierende Opferkonzeptionen der unmittelbaren Nachkriegszeit.
Zur Quelle
Die Richtlinien für die Anerkennung als Opfer des Faschismus wurden am 3. Mai 1948 vom Bremer Bürgerausschuss für Wiedergutmachung verabschiedet. Sie erschienen in dem von Marcel Frenkel als Loseblattsammlung herausgegebenen Handbuch der Wiedergutmachung in Deutschland und waren Bestandteil jener Rechtslage, welche der deutsch-jüdische Wiedergutmachungsexperte Walter Schwarz einmal treffend mit den frühmodernen Rechtsverhältnissen im Deutschen Reich verglichen hat: Besondere Fürsorgeleistungen für ehemals Verfolgte, aus denen Ende der 1940er Jahre die ersten Entschädigungsansprüche für NS-Opfer hervorgingen, basierten im besetzten Deutschland auf zonalen oder länderrechtlichen Bestimmungen, die sowohl hinsichtlich der Leistungen als auch mit Bezug auf das Verfahren sehr stark variierten.[7]
Die vorliegenden Bremer Richtlinien legen fest, wer als NS-Opfer gilt und damit Anspruch auf besondere Fürsorgeleistungen hat. Zu diesem Zweck nehmen sie eine fein abgestufte, fast kasuistisch anmutende Aufteilung von Verfolgungstatbeständen vor: Die Liste beginnt mit der Gruppe der ehemaligen politischen Häftlinge, die sich selber auch als „Kämpfer gegen den Faschismus“ bezeichnen. Die nachfolgenden drei Kategorien umfassen Angehörige des politischen Untergrunds, des Widerstands im Exil und Verfolgte aus dem Umfeld des Hitler-Attentats vom 20. Juli 1944. Eine fünfte Gruppe bilden jene, welche aufgrund des „Heimtückegesetzes“ oder wegen Abhörens von verbotenen Radiosendern im Dritten Reich zu Freiheitsstrafen verurteilt worden sind.[8] Allerdings müssen sie, um Anerkennung als politisch Verfolgte zu erlangen, den Nachweis erbringen, dass sie aus Überzeugung – und nicht etwa aus einer Laune heraus oder aus reiner Opportunität – handelten. Der sechste Artikel regelt minutiös die Voraussetzungen, welche Hinterbliebene von verstorbenen Verfolgten zu erfüllen haben. Kinder ausgenommen, wird von ihnen erwartet, dass sie während der NS-Zeit stets eine politisch korrekte, sprich antifaschistische Haltung an den Tag gelegt haben. Es mag als Kuriosum erscheinen, dass an dieser Stelle auch Ehefrauen von Kriegsgefangenen als Anspruchsberechtigte erwähnt werden, ohne dass sie selbst verfolgungsbedingte Nachteile vorweisen müssten. An siebter Stelle folgen Angehörige des religiösen Widerstands und an achter Stelle schließlich die Opfer der Rassenverfolgung, hier legalistisch als „Opfer der Nürnberger Gesetze“ definiert. Unter einschränkenden Bestimmungen werden dieser Kategorie Juden, „Halbjuden“, nicht jüdische Ehepartner aus so genannten Mischehen und „Zigeuner“ zugerechnet. Sie alle sind nur unter Vorbehalt anspruchsberechtigt, nämlich nur dann, wenn sie die in den Richtlinien formulierten Verhaltensanforderungen erfüllen, namentlich indem sie sich „zu ihrer Rasse bekannten“ und sich „nicht im Dienst des Nationalsozialismus gebrauchen ließen“. Auch verwenden die Richtlinien hier zum Teil bedenkenlos und ohne merkliche Distanzierung typisch nationalsozialistische Terminologie, so etwa auch den Begriff „arisch“. Als letzte Kategorie von potentiell Anspruchsberechtigten führen die Richtlinien die Opfer von Zwangssterilisationen auf, sofern der Eingriff aus politischen oder rassischen, das heißt nicht aus medizinisch-eugenischen Gründen erfolgte. Die letzten vier Artikel regeln Verfahrensfragen, wobei Artikel zwölf noch zusätzliche Anforderungen an die Antragsteller formuliert: nämlich eine „einwandfreie antifaschistische und moralische Haltung“.
Zusammenfassend ist festzuhalten, dass die Richtlinien eine klare Rangfolge der Opfer festschreiben, die keineswegs zufällig ist, sondern sich an den Leistungen orientiert, die jemand im Kampf gegen den Nationalsozialismus erbracht hat. Die Anerkennung von Aktivisten basiert auf formalen und äußerlichen Kriterien. Die Opfer der Judenverfolgung hingegen sind nur dann anspruchsberechtigt, wenn sie sich auch durch Wohlverhalten ausgezeichnet haben. Anders ausgedrückt: Die Anerkennung des Opferstatus beruht auf dem individuellen Tatbeweis, während allein die Tatsache, Unrecht erlitten und unverdientes Leid erduldet zu haben, keinen Leistungsanspruch begründet. Zudem beruht die Rangfolge der Opferkategorien – deren graduelle Abstufung von den eigentlichen Widerstandskämpfern, den Aktivisten im Innern des Dritten Reiches, über die Feindsenderlauscher und Menschen mit losem Mundwerk bis hin zu den unbeteiligten Angehörigen und den Opfern der Rassenverfolgung – auf einem Aktiv-Passiv-Schema, dessen geschlechtliche Codierung die Hierarchie des Leidens noch zusätzlich unterstreicht. Die Nähe der Juden zu den Waisen, Witwen und Kriegsgefangenengattinnen – zu jenen also, welche traditionellerweise mit Schwäche und besonderer Schutzbedürftigkeit assoziiert werden – bringt die geringe soziale Achtung für „passive“ Verfolgte zum Ausdruck. Ihr Leiden erscheint dadurch mit dem Odium des wehrlosen Duldens, ja gar mit dem Verdacht behaftet, sie seien am eignen Unglück womöglich doch nicht ganz unschuldig. In der unmittelbaren Nachkriegszeit galt es folglich als eine Schmach, nur ein Opfer zu sein. Das zeigen auch die zahlreichen Proteste von jüdischen Überlebenden, welche gegen die Assoziation ihres Verfolgungsschicksals mit Passivität und Schwäche gerichtet waren, denn beides war kein Ausweis für die Integrität der Opfer und den gänzlich unverdienten Charakter ihres Leidens. „Es war mangelndes Verständnis, dass man die, denen das Naziregime schwerstes Unrecht zufügte, als ‚Opfer’ bezeichnete, denn dieser Begriff schließt den des Mitleids in sich“, monierte Hans-Erich Fabian, Vorsitzender der jüdischen Gemeinde zu Berlin, im Herbst 1947. Und er fügte an, dass auch die Juden, wie die Angehörigen des Widerstands, als „Vorkämpfer für eine neue Zukunft Europas“ gelten sollten.[9]
Das Festschreiben von Distinktionen in der europäischen Nachkriegszeit
Wie das Zeugnis des Berliners Hans-Erich Fabian erahnen lässt, sind die Bremer Richtlinien keineswegs einzigartig. Aus der Literatur sind ähnliche Regelungen vor allem für die sowjetische Besatzungszone bekannt und galten bislang als symptomatisch für die politische Instrumentalisierung der NS-Opfer im späteren Arbeiter- und Bauernstaat – zur Konstruktion eines antifaschistischen Gründungsmythos und zur Leugnung jeglicher Kontinuität mit dem Nationalsozialismus.[10] Ein Vergleich mit den Anerkennungsnormen, wie sie auch anderswo zur Anwendung kamen, zeigt jedoch, dass die Bremer Richtlinien ein typisches Produkt ihrer Zeit sind. In ähnlicher Form – mit analogen Formulierungen, Rangfolgen und Opferhierarchien – sind Bestimmungen aus allen vier Besatzungszonen Deutschlands überliefert. Auch die Berliner Richtlinien vom Mai 1946 unterschieden zwischen Kämpfern gegen den Faschismus und Opfer des Faschismus; in Bayern teilte man ehemals Verfolgte in drei Untergruppen ein, nämlich in „Opfer“, „Gelegenheitstäter“ und „Überzeugungstäter“. Mancherorts konnten Widerstandskämpfer überdies mit besonderen Auszeichnungen rechnen, so in Südbaden, in der französischen Besatzungszone, wo politische Aktivisten und „Überzeugungstäter“ eine „Ehrengruppe“ bildeten und sich durch den exklusiven Anspruch auf einen „Ehrenpass“ mit dem Aufdruck „Antifaschistischer Kämpfer“ von der Masse der übrigen NS-Opfer abhoben.[11]
Die meritokratische Opferhierarchie der frühen deutschen Wiedergutmachung honorierte die Opfer, welche jemand im Widerstand gegen den Nationalsozialismus erbracht hatte, und folgte der antifaschistischen Logik, wonach der Kampf für die richtige Sache als Inbegriff der „virilen Unschuld“ galt.[12] Zugleich verfolgte sie pädagogische Ziele bei der Entnazifizierung der politischen Kultur in Deutschland und markierte den Führungsanspruch der Gegner Hitlers, die sich selbst als „Vorhut“ der Demokratisierung verstanden, „weil sie auch in der schwierigsten Zeit keine Opfer scheuten“.[13] Aus diesem Grund schien eine Hintanstellung von Verfolgten ohne Widerstandsmeriten durchaus legitimiert und in den 1940er Jahren weitgehend konsensfähig. Denn diese Opfer hätten zwar „alle geduldet und Schweres erlitten“, sie hätten aber „nicht gekämpft“, wie der semi-offizielle Berliner Hauptausschuss Opfer des Faschismus verlauten ließ.[14]
Die Klassifikation der Verfolgten entlang einem Aktiv-Passiv-Schema war aber keineswegs eine deutsche Besonderheit. Analoge Opferhierarchien sind auch aus Österreich und aus den ehemals besetzten Staaten Westeuropas bekannt. Exemplarisch sei hier Frankreich erwähnt, das Deutschland in der Kodifikation der Wiedergutmachungsansprüche zeitlich voranging: 1948 erließ die französische Nationalversammlung Entschädigungsgesetze, welche gestützt auf die Kriegsopferversorgung der Zwischenkriegszeit ein System abgestufter Leistungen für Unrecht der deutschen Besatzer und des Vichy-Regimes einführten. Der Gesetzgeber glich die Rechtsstellung verfolgter Résistance-Kämpfer jener von ehemaligen Frontsoldaten an. Das umfasste die nachträgliche Verleihung von Offiziersrängen und weitere spezielle Privilegien, Ehrentitel und andere Auszeichnungen. Die übrigen Verfolgungsopfer wurden den Soldatenwitwen und Kriegswaisen gleichgestellt und hinsichtlich ihrer Renten- und Haftentschädigungsansprüche stark benachteiligt. Oftmals erhielten ehemalige Widerstandskämpfer doppelt so hohe Leistungen wie jüdische Überlebende oder politische Häftlinge. Die symbolische Feminisierung der letztgenannten Gruppen betraf auch die immaterielle Wiedergutmachung. Ihre offenkundige Diskriminierung hatte zwar einigen Widerspruch im Parlament und in der Verfolgtenpresse provoziert. Indessen versetzte die vorherrschende moralische Grammatik die Anhänger eines egalitären Wiedergutmachungsrechts, das die Entschädigungen nach dem Grad des Unrechts und des Leidens bemessen wollte, in einen Argumentationsnotstand. Die Widerstandskämpfer spielten erfolgreich mit der Dialektik des Opferbegriffs, indem sie den fundamentalen Unterschied betonten zwischen jenen, welche Opfer (sacrifices) erbracht hatten, und jenen, welche nur Opfer (victimes) waren. Auch wenn es keineswegs darum gehe, die Bedeutung zu leugnen, „que présente le cas des malheureuses victimes éprouvées d’une manière quelconque par la barbarie nazie, il est toutefois incontestable que, dans l’hiérarchie des urgences, les martyrs de la Résistance doivent occuper la première place,“ meinte der Protagonist der Gesetzgebung von 1948.[15] Die Gegenüberstellung von Märtyrern und Opfern, deren Passivität durch das weibliche Genus im Französischen noch akzentuiert wurde, verlieh den anvisierten Distinktionen eine bestechende Logik: Sie ließen sich durch den Rekurs auf die symbolische Geschlechterordnung gleichsam naturalisieren, zumal die Auseinandersetzung mit der jüngsten Vergangenheit in Frankreich hochgradig vergeschlechtlicht war, getragen vom Bestreben, mit viriler Rhetorik den Makel der historischen Erfahrung von Niederlage, Besatzung und Kollaboration auszumerzen, die als eine kollektive Entmannung empfunden wurde.[16] Weit entfernt davon, die dominierende moralische Grammatik aufzubrechen, bestätigten die Versuche von Anhängern egalitärer Entschädigungsmodelle, erlittenes Unrecht in ein Opfer (sacrifice) umzudeuten, letztlich nur die vorherrschenden Diskursregeln.
Ein europäisches Muster – Die Transnationalisierung des antifaschistischen Modells und dessen Wandel seit den 1950er Jahren
Die erwähnten Beispiele lassen ansatzweise ein europäisches Muster erkennen, sowohl in der Definition des Opferstatus als auch in der Deutung der Verfolgungsgeschichte. Das mag überraschen, wenn man die beachtlichen Unterschiede in der historischen Ausgangslage zwischen dem besiegten Deutschland und den ehemals besetzten Staaten Westeuropas bedenkt. Auch angesichts der hinlänglich bekannten Nationalisierung des Gedenkens und der Verarbeitung von Besatzung, Kollaboration und Widerstand muten solche Überlappungen zunächst eher paradox an.[17] Durchwegs sind die frühen Formen der Entschädigung für NS-Opfer indes auf Initiativen der Verfolgten selbst zurückzuführen. Die politisch gut organisierten Widerstandskämpfer vermochten in den 1940er Jahren ihre Deutungshoheit in der Entschädigungspolitik durchzusetzen. Das zeigen exemplarisch die französischen Debatten ebenso wie die Entwicklung im besetzten Deutschland. Antifaschisten dominierten aber nicht nur den Diskurs und die Definition des Opferstatus, sondern wirkten anfänglich auch in der Umsetzung dieser Normen mit. In Deutschland waren es oft antifaschistische Komitees, welche die Anträge von Verfolgungsopfern prüften und darüber befanden, ob jemand entschädigungswürdig sei. Ihre Entscheide blieben für die spätere Wiedergutmachung in der Regel wegleitend. Auch in Frankreich waren Verfolgtenverbände in den Kommissionen vertreten, welche über die Anspruchsberechtigung entschieden, und ihre Vertreter wachten eifersüchtig darüber, dass der exklusive Résistants-Status zurückhaltend zugesprochen wurde.
Austauschprozesse, ermöglicht durch die Gründung internationaler Verfolgtenverbände, durch wissenschaftliche Kongresse und Erinnerungspraktiken der ehemaligen Konzentrationslagerhäftlinge, förderten die Verständigung über und Angleichung von Opferkonzeptionen über Landesgrenzen hinweg. In der Norm des antifaschistischen Kämpfers verdichtete sich eine verbindende Darstellung der Verfolgung als männliche Bewährungsprobe. Die historische Erfahrung von Konzentrationslagerhäftlingen, insbesondere die Entmenschlichung und die Schmach, den Verfolgern nackt und wehrlos ausgeliefert gewesen zu sein, ließ sich im Nachhinein zum aktiven Kampf umdeuten und überhöhen. Auch war eine solche Lesart der Verfolgungsgeschichte anschlussfähig an die militärischen Narrative, welche in ganz Europa die kulturelle und gesellschaftliche Bewältigung des Zweiten Weltkriegs und seiner Folgen bestimmten. Solche Deutungsmuster bedienten sich der klassischen Dichotomien – militärisch-zivil, Freund-Feind, männlich-weiblich, zugehörig-fremd –, um die von Besatzung und Kollaboration herrührenden Ambivalenzen aufzuheben. Die Zweiteilung der Verfolgten in Märtyrer und Opfer fügte sich somit auch perfekt in die binären Grundstrukturen der Auseinandersetzung mit der jüngsten Vergangenheit.
Zu Beginn der 1950er Jahre zeichnete sich indessen in Deutschland erstmals eine Wende hin zu einem neuen Ideal des NS-Opfers ab. Dies im Gegensatz zu den übrigen europäischen Staaten, wo sich die antifaschistische Norm bis in die 1960er Jahre, teils auch noch länger zu halten vermochte. Dass das weniger mit dem Ansehen der Résistance zu tun hatte als mit dem raschen Wertverlust der Résistance-Erinnerung, zeigt wiederum das französische Beispiel auf exemplarische Weise. Entgegen allen Grundannahmen koinzidierte das Festschreiben von antifaschistischen Opferhierarchien hier mit dem Niedergang der Résistance als politischer Kraft, die – so Tony Judt – im Zuge der heftigen Auseinandersetzungen um die Deutungshoheit über die Vichy-Zeit schon Ende der 1940er Jahre zu einem Klischee verkommen war.[18] Im aufkommenden Kalten Krieg, der die moralische Autorität der Antifaschisten einem raschen Erosionsprozess aussetzte, kam der Auszeichnung der Widerstandskämpfer schon weitgehend eine kompensatorische Funktion zu, gleichsam als eine Entschädigung für deren politische Marginalisierung im Gefolge der raschen Rehabilitation von kompromittierten Eliten seit Beginn der 1950er Jahre.
Das Aufkommen einer neuen Norm, welche den fehlenden antifaschistischen Tatbeweis gerade zum Ausweis der Integrität des Opfers machte und ihre ideale Verkörperung daher in den jüdischen Verfolgten fand, war auch in der BRD gewissermaßen ein Nebenprodukt des Kalten Krieges. Die politische Neutralität der jüdischen Opfer bzw. die völlige Irrelevanz der politischen Gesinnung im Hinblick auf die Rassenverfolgung, verbürgte Reinheit und machte das neue Opferideal zur universell übertragbaren Chiffre – auch im Kampf gegen den Kommunismus. Der Antitotalitarismus, als neue Staatsideologie der jungen BRD, beschleunigte mit seiner Verklammerung von Nationalsozialismus und Kommunismus den Zerfall des Antifaschismus. Er unterminierte die moralische Autorität des kommunistischen Widerstands. Innert kürzester Zeit versanken die kommunistisch dominierten Opferorganisationen, wie die deutsche Vereinigung der Verfolgten des Nationalsozialismus oder die Fédération Internationale des Anciens Prisonniers Politiques, in die Bedeutungslosigkeit. Der Triumph des neuen Opferideals zehrte in Deutschland aber auch von den Wiedergutmachungsskandalen der frühen 1950er Jahre. Die Gefahr eines völligen Fiaskos der bundesdeutschen Entschädigungspolitik alarmierte das westliche Ausland und die internationalen jüdischen Organisationen. Diese erhoben den deutschen Umgang mit den jüdischen Anspruchsberechtigten zunehmend zum Gradmesser für die Überwindung des Nationalsozialismus, dies auch nach dem Debakel der Entnazifizierung und der weitgehenden Rehabilitation ehemaliger Nazis in der Adenauer-Ära. Höhepunkt dieser Entwicklung war das Luxemburger Abkommen zwischen der BRD, Israel und der Claims Conference von 1952. Weniger dessen konkreter Inhalt als dessen Rezeption rückte die jüdischen Opfer klar ins Zentrum und stützte auch jene Sichtweisen, welche das eigentliche Wesen des Nationalsozialismus im Holocaust erblickten, „weil das ganze Dritte Reich doch im Grunde in seinem Kern aufgerichtet wurde, um die Juden zu vernichten“, wie der deutsche Sozialdemokrat Carlo Schmid 1951 verkündete.[19] Im Zuge dieser semantischen Verschiebung erfuhr das feminisierte und verachtete „passive Leiden“ eine Aufwertung als Ausweis für die (politische) Unschuld der Verfolgten. Und umgekehrt sahen sich die Aktivisten, die Helden der Nachkriegszeit, wachsendem Misstrauen ausgesetzt. Vielerorts gingen sie phasenweise sogar ihrer Ansprüche auf Entschädigung verlustig. Die Wiedergutmachung, und mit ihr verbunden die Norm des Verfolgungsopfers, wurde generell zu einem der heißen Schlachtfelder des Kalten Krieges.
Seit Ende der 1950er Jahre setzte im Zuge der „Wiedergutmachungsdiplomatie“ eine graduelle Europäisierung des deutschen Modells ein, mit der Folge, dass sich auch in den westeuropäischen Staaten die Distinktionen zwischen antifaschistischen Aktivisten und passiven Opfer sukzessive abschliffen.[20] In Frankreich erfolgte die Verteilung der deutschen Globalzahlungen zu Beginn der 1960er Jahre erstmals nach egalitären Kriterien und setzte so eine Dynamik in Gang, welche sukzessive die Stellung der gewöhnlichen Opfer an diejenige der verfolgten Résistance-Kämpfer anglich. Und schließlich kam der Wiedergutmachung auch eine wichtige Rolle bei der Verwandlung von Opfern in Überlebende und Zeugen des menschlichen Grauens zu. Die Überprüfung von Entschädigungsansprüchen erwies sich gewissermaßen als ein offizielles Beglaubigungsverfahren für Opfernarrative. Der erfolgreiche Abschluss eines Wiedergutmachungsantrags bestätigte die Wahrhaftigkeit der Darstellung und bekräftigte den Wahrheitsanspruch der ehemals Verfolgten. Er stattete die Überlebenden mit Glaubwürdigkeit und Authentizität aus. Ihre erste öffentliche Inszenierung sollte diese neue Subjektposition des Opfers schließlich im Eichmann-Prozess von 1961 finden.
[1] Essay zur Quelle: Richtlinien für die Anerkennung als Opfer des Faschismus (3. Mai 1948).
[2] Mit besonderem Bezug auf medial vermittelte Opfernarrative der Gegenwart auch Rothe, Anne, Popular Trauma Culture. Selling the Pain of Others in the Mass Media, New Brunswick 2011. Siehe auch kritisch Dean, Carolyn J., Against Grandiloquence, in: History and Theory 45 (2006), S. 276–287, hier S. 286, und Goldberg, Amos, The Victim’s Voice and Melodramatic Aesthetics in History, in: History and Theory 48 (2009), S. 220–237. Mit Blick auf die „Grundkonfiguration“ „opferzentrierter Erinnerungskultur“ in Deutschland Jureit, Ulrike; Schneider, Christian, Gefühlte Opfer. Illusionen der Vergangenheitsbewältigung, Stuttgart 2010.
[3] Dazu exemplarisch Buruma, Ian, The Joys and Perils of Victimhood, in: The New York Review of Books 46, 6 (1999). Diekmann, Irene; Schoeps, Julius H. (Hgg.), Das Wilkomirski-Syndrom. Eingebildete Erinnerungen oder Von der Sehnsucht, Opfer zu sein, Zürich 2002.
[4] Dazu insb. Mächler, Stefan, Der Fall Wilkomirski. Über die Wahrheit einer Biographie, Zürich 2000.
[5] Dazu die Pionierstudie von Novick, Peter, The Holocaust and Collective Memory. The American Experience, London 2000. Erhellend ferner Alexander, Jeffrey C., On the Social Construction of Moral Universals. The ‘Holocaust’ from War Crime to Trauma Drama, in: European Journal of Social Theory 5 (2002), S. 5–58.
[6] Aufschlussreich Shklar, Judith N., The Faces of Injustice, New Haven 1990.
[7] Schwarz, Walter, Ein Baustein zur Geschichte der Wiedergutmachung, in: Tramer, Hans (Hg.) In zwei Welten. Siegfried Moses zum fünfundsiebzigsten Geburtstag, Tel Aviv 1962, S. 218–231, S. 224. Für einen Überblick zur Rechtslage in Deutschland siehe Goschler, Constantin, Schuld und Schulden. Die Politik der Wiedergutmachung für NS-Verfolgte seit 1945, Göttingen 2005. Für eine Kopie der Loseblattsammlung von Marcel Frenkel siehe World Jewish Congress Collection, New York Office Records, Series C: Institute of Jewish Affairs, 251/4-6, United States Holocaust Memorial Museum (Im Folgenden: WJC Collection, C, USHMM).
[8] „Gesetz gegen heimtückische Angriffe auf Staat und Partei und zum Schutz der Parteiuniformen, vom 20. Dezember 1934“. Das „Heimtückegesetz“ stellte Äusserungen unter Strafe, welche dem Ansehen der Reichsregierung oder der NSDAP schadeten, so beispielsweise auch politische Witze. Siehe Münch, Ingo von, Gesetzes des NS-Staates. Dokumente eines Unrechtssystems, Paderborn 1994, S. 72-74.
[9] Hans-Erich Fabian, Fehlendes Verständnis, in: Der Weg, 21.11.1947.
[10] Vgl. dazu Hölscher, Christoph, NS-Verfolgte im ‘antifaschistischen Staat’. Vereinnahmung und Ausgrenzung in der ostdeutschen Wiedergutmachung (1945–1989), Berlin 2002.
[11] Auszüge aus dem Handbuch der Wiedergutmachung in Deutschland, hg. von Marcel Frenkel, WJC Collection, C251,4, USHMM. Zum Kontext siehe auch Goschler, Constantin, Schuld und Schulden. Die Politik der Wiedergutmachung für NS-Verfolgte seit 1945, Göttingen 2005, S. 65-99; Nieden, Susanne zur, Unwürdige Opfer. Die Aberkennung von NS-Verfolgten in Berlin 1945 bis 1949, Berlin 2003.
[12] Vgl. dazu Rabinbach, Anson, Begriffe aus dem Kalten Krieg. Totalitarismus, Antifaschismus, Genozid, Göttingen 2009, S. 35.
[13] Franz Heitgres Ansprache, 4. November 1945 und Heitgres, Franz; Schwarz, Hans, „Wir stellen fest (Kritisches über wichtige Fragen), 10. Oktober 1945, in: 612. Komitee ehemaliger politischer Gefangener, Wiener Library London.
[14] Zitiert nach Hölscher, Christoph, NS-Verfolgte im ‘antifaschistischen Staat’. Vereinnahmung und Ausgrenzung in der ostdeutschen Wiedergutmachung (1945–1989), Berlin 2002, S. 45.
[15] Emile-Louis Lambert, zitiert nach einem Memo, 18.02.1948, in Législation ACVG – Statuts DIR/DIP, Centre de documentation de la Fédération Nationale des Déportés et Internés Résistants et Patriotes, Paris. Siehe zum Kontext auch mein demnächst erscheinendes Buch Reparations of Nazi Victims in Postwar Europe, Cambridge University Press. Zum Kontext auch Lagrou, Pieter, The Legacy of Nazi Occupation. Patriotic Memory and National Recovery in Western Europe, 1945-1965, Cambridge 2000.
[16] Dazu exemplarisch Virgili, Fabrice, La France ‘virile’. Des femmes tondues à la Libération, Paris 2004.
[17] Dazu die vergleichenden Darstellungen Deák, István; Gross, Jan T.; Judt, Tony (Hgg.), The Politics of Retribution in Europe. World War II and Its Aftermath, Princeton 2000;. Lebow, Richard Ned; Kansteiner, Wulf; Fogu, Claudio (Hgg.), The Politics of Memory in Postwar Europe, Durham 2006.
[18] Judt, Tony, Past Imperfect. French Intellectuals, 1944–1956, Berkeley 1992, S. 45-74.
[19] Zitiert nach: Allgemeine Wochenzeitung der Juden in Deutschland 47, 02.03.1951.
[20] Für Hinweise siehe die Beiträge in Hockerts, Hans Günter; Moisel, Claudia; Winstel, Tobias (Hgg.), Grenzen der Wiedergutmachung. Die Entschädigung für NS-Verfolgte in West- und Osteuropa 1945–2000, Göttingen 2006.
Literaturhinweise
Hockerts, Hans Günter; Moisel, Claudia; Winstel, Tobias (Hgg.), Grenzen der Wiedergutmachung. Die Entschädigung für NS-Verfolgte in West- und Osteuropa 1945–2000, Göttingen 2006.
Lagrou,Pieter, The Legacy of Nazi Occupation. Patriotic Memory and National
Recovery in Western Europe, 1945-1965, Cambridge 2000.
Ludi, Regula, Reparations of Nazi Victims in Postwar Europe, Cambridge (im Druck).
Nieden, Susanne zur, Unwürdige Opfer. Die Aberkennung von NS-Verfolgten in Berlin 1945 bis 1949, Berlin 2003.
Wieviorka, Annette, Déportation et génocide. Entre la mémoire et l’oubli, Paris 1992.