Srebrenica 1995: ein europäisches Trauma

Am Morgen des 11. Juli 1995 stürmten bosnisch-serbische Armee- und Polizeieinheiten nach tagelangem Beschuss die UNO-Schutzzone Srebrenica. Einen Tag später entstand ein Foto, das um die Welt ging: Es zeigt, wie der Kommandeur der niederländischen Blauhelmtruppe, Colonel Thom Karremans, dem serbischen General Ratko Mladic in die Augen sieht, beide ein Glas in der Hand. Man habe Sekt getrunken, sich zugeprostet, behauptete die Presse – was nicht stimmte. Mladic (zur Linken) blickt forsch und herausfordernd, Karremans (in der Mitte) eher unsicher und bange. [...]

Srebrenica 1995: ein europäisches Trauma[1]

VonMarie-Janine Calic

Am Morgen des 11. Juli 1995 stürmten bosnisch-serbische Armee- und Polizeieinheiten nach tagelangem Beschuss die UNO-Schutzzone Srebrenica. Einen Tag später entstand ein Foto, das um die Welt ging: Es zeigt, wie der Kommandeur der niederländischen Blauhelmtruppe, Colonel Thom Karremans, dem serbischen General Ratko Mladic in die Augen sieht, beide ein Glas in der Hand. Man habe Sekt getrunken, sich zugeprostet, behauptete die Presse – was nicht stimmte. Mladic (zur Linken) blickt forsch und herausfordernd, Karremans (in der Mitte) eher unsicher und bange.

Das Foto wurde zur Chiffre des Versagens der Staatengemeinschaft. Trotz internationaler Präsenz begannen serbische Streitkräfte und Spezialeinheiten kurz nach der Einnahme Srebrenicas das größte Kriegsverbrechen der europäischen Nachkriegsgeschichte, wo der UN-Sicherheitsrat 1993 eine Peacekeeping-Truppe stationiert hatte. Zwischen dem 13. und 19. Juli, in kaum einer Woche, ermordeten die bosnisch-serbische Armee sowie paramilitärische Spezialeinheiten planmäßig zwischen 7.000 und 8.000 muslimische Jungen und Männer. Etwa 25.000 Frauen, Kinder und Greise wurden aus der Enklave deportiert, die Stadt „ethnisch gesäubert“. Juristisch ist der Massenmord als Völkermord anerkannt. Insgesamt wurden während des mehr als dreijährigen Krieges in Bosnien-Herzegowina rund 2,4 Millionen Menschen vertrieben und etwa 100.000 getötet. Städte wurden belagert und mit Granaten beschossen, Moscheen und historische Architektur absichtsvoll zerstört.[2] Dokumentiert nicht das Foto die vermeintliche Verbundenheit, in jedem Fall empörende Nähe der Beschützer mit den Angreifern? In jedem Fall wurde es „Synonym für Feigheit, Untätigkeit und Komplizenschaft mit Kriegsverbrechern“, wie die Süddeutsche Zeitung zum fünften Jahrestag des Massakers schrieb. „In diesem Bild verdichtete sich so vieles aus der bosnischen Tragödie: Die Kapitulation vor den Tätern, der Hohn gegenüber den Opfern, die Schuld des Westens, nicht eingegriffen zu haben angesichts massenhafter Vertreibungen und massenhafter Morde.“ [3]


Quelle: Saint Anselm College, Europe since 1945 URL : <http://www.anselm.edu/academic/history/hdubrulle/europe1945/2009/grading/food/fdwk12a.htm> (04.04.2013).

Heute ist mehr bekannt über die Umstände, unter denen das Foto entstand. Unmittelbar nach den serbischen Sturm auf Srebrenica, am 11. und 12. Juli, hatte Karremans mit Mladic vergeblich im Hotel Fontana in Bratunac über die Modalitäten eines Rückzugs der rund 430 UNO-Blauhelme und die Evakuierung Tausender Flüchtlinge verhandelt. Der serbische General wandte eine aggressive Strategie der Erniedrigung, Einschüchterung und offenen Drohungen an: Erst wollte er nur mit Vorgesetzten Karremans sprechen, dann lehnte er Gespräche mit hochrangigen Abgesandten der UNO ab. Karremans warf er entgegen: „UNPROFOR … ist bislang noch kein Angriffsziel… Ich denke, Sie wollen Ihr Leben nicht verlieren.“[4] Als Karremans bat, mit den holländischen UN-Soldaten zu sprechen, die die Serben im Hotel als Geiseln hielten, stimmte Mladic plötzlich zu. Er bestellte Wein und Wasser, Karremans wurde ein Glas in die Hand gedrückt. Dies mag den verängstigten Blick des völlig überforderten und übermüdeten holländischen Kommandeurs erklären.[5]

Karremans hat – wie die gesamte UN-Präsenz im ehemaligen Jugoslawien – nicht vorhergesehen, was dann geschah: Serbische Streitkräfte nahmen alle Männer gefangen, derer sie habhaft werden konnten, darunter auch jene, die sich auf das Gelände der UNO in Potocari oder in die umliegenden Wälder geflüchtet hatten. Ahnungslose Blauhelmsoldaten assistierten, als Tausende in Bussen abtransportiert wurden, bevor man sie in leere Schulgebäude oder Lagerhallen pferchte und dann in Gruppen hinrichtete. Die Leichen wurden in Massengräbern verscharrt. Ein 17-jähriger Überlebender, der sich am Morgen des 15. Juli 1995 nach einer Massenerschießung schwer verletzt aus den Leichenbergen davonstehlen konnte, berichtete, dass bei den Exekutionen die Männer in Reihen hintereinander aufgestellt wurden. „Als wir ankamen, sagte einer ‚Legt Euch hin‘. Als wir uns dann nach vorne warfen, begannen sie zu schießen. Ich fühlte einen Schmerz in der rechten Brustseite […]. Ich wartete […], dass ich sterben würde […]. Ich weiß nicht, wie lange das dauerte. Sie schafften immer mehr Männer herbei… Als sie endlich fertig waren, sagte jemand, dass alle Toten kontrolliert werden sollten, und wenn sie noch einen Lebenden fänden, sollten sie ihm eine Kugel in den Kopf schießen.“[6] Wie durch ein Wunder wurde der spätere Zeuge übersehen.

Noch im Juli 1995 begann der Internationale Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien die Vorgänge zu erforschen. Exhumierungen und forensische Untersuchungen, die Befragung tausender Zeugen sowie die akribische Sichtung von Dokumenten bewiesen die Intention und Systematik des Tötens. An Massenexekutionen und „ethnischen Säuberungen“ bestand kein Zweifel. Auch die Beteiligung von Spezialeinheiten aus Belgrad ist durch zahlreiche Quellen belegt.

Im August 2001 wurde General Radislav Krstic, der Befehlshaber des Drina-Corps, das den Sturmangriff auf Srebrenica ausführte, wegen Völkermordes und anderer Vergehen zu 35 Jahren Gefängnis verurteilt. Die Prozesse gegen die Führer der bosnischen Serbenrepublik, Präsident Radovan Karadžic und General Ratko Mladic, sind noch im Gang. Sie müssen sich wegen Genozids, Menschheitsverbrechen und weiterer Anklagepunkte in Den Haag verantworten.[7]

Parallel zur juristischen Aufarbeitung begann die Suche nach den tieferen Ursachen des Desasters und der Rolle der politisch und militärisch Verantwortlichen vor Ort. Die UNO, der französische Oberkommandierende der im ehemaligen Jugoslawien stationierten Schutztruppe UNPROFOR sowie das holländische „Dutchbat“ unter Karremans standen besonders in der Kritik. Die schockierte Weltöffentlichkeit verlangte Aufklärung, wie unter Aufsicht der Staatengemeinschaft ein Völkermord geschehen konnte.

Mittlerweile liegen verschiedene umfängliche Untersuchungsberichte vor, die die Ereignisse detailreich aufarbeiten und vor allem die Entscheidungsprozesse auf internationaler Seite rekonstruieren. Wenngleich sie unterschiedliche Akzente legen und in den Schlussfolgerungen voneinander abweichen, gibt es gemeinsame Elemente der Erklärung. Übereinstimmend kommen sie zu dem Schluss, dass der Fall der ostbosnischen Enklaven von der UNO nicht gewollt war und die weiteren Ereignisse auch nicht vorhergesehen wurden.[8]

Um das Geschehen in Srebrenica zu verstehen, muss man etwas weiter ausgreifen, als es die genannten Berichte tun. Denn Srebrenica war nur der Kulminationspunkt einer von Beginn an planlosen Jugoslawienpolitik, an der viele Akteure mitwirkten. Seit dem Zerfall Jugoslawiens im Frühsommer 1991 war die Staatengemeinschaft uneins, wie sie mit dem heraufziehenden Konflikt umgehen wollte. Unterschiedliche Wahrnehmungen und Bewertungen der Krise, vor allem aber divergierende Interessen waren ursächlich dafür, dass auch die europäischen Staaten lange Zeit keine gemeinsame Linie finden konnten. Fehleinschätzungen und Uneinigkeit führten zu Handlungsunfähigkeit, widersprüchlichen Signalen – und schließlich einem massiven Ansehensverlust europäischer Politik.[9]

Anfangs sahen weder die europäischen Staaten noch die USA ihre außen- und sicherheitspolitischen Interessen durch den Zerfall Jugoslawiens bedroht. Dies erklärt das lange Zögern, eine aktivere Rolle bei der Befriedung des Konflikts einzunehmen. Für die Amerikaner war Jugoslawien zunächst ein rein europäisches Problem. Aber die Europäer setzten andere Prioritäten. In der Europäischen Politischen Zusammenarbeit (EPZ) standen die Vorbereitung des Vertrages von Maastricht, die Golfkrise und die Folgen der Auflösung der Sowjetunion im Vordergrund. Ein ausgefeiltes Instrumentarium internationaler Friedenssicherung (von präventiver Diplomatie über Krisenmanagement bis zum Peacekeeping) gab es noch nicht. Erst im Zuge des Jugoslawienkrieges wurde es weiter entwickelt, nicht zuletzt durch die Glaubwürdigkeitskrise, die europäische Politik erfahren musste.

Für die deutsche Politik stellten sich bei dem Zerfall Jugoslawiens besondere Herausforderungen. Einerseits strebte sie nach der Wiedervereinigung nach einer Reformulierung ihrer außenpolitischen Rolle und größerer Verantwortung im internationalen Kontext. Mit Jugoslawien war Deutschland durch geografische Nähe, gut entwickelte bilaterale Beziehungen und mehr als 700.000 Gastarbeiter verbunden. Krieg und Zerstörungen wühlten die deutsche Öffentlichkeit auf: Sie wollte Taten sehen. Jedoch waren Deutschland durch das Grundgesetz Beschränkungen auferlegt, die andere Staaten nicht besaßen. Das Grundgesetz verbot in Artikel 87a militärische Einsätze, die nicht der reinen Landesverteidigung oder der Beteiligung an NATO-Missionen innerhalb ihres Vertragsgebietes dienten. Umstritten war sogar, ob die Mitwirkung an Peacekeeping-Missionen der UNO gestattet war. Aus diesen Gründen entschloss sich Deutschland zu einer später schwer kritisierten politischen Maßnahme. Gegen den Willen seiner europäischen Partner entschied die Bundesregierung, Kroatien und Slowenien am 23. Dezember 1991 als unabhängige Staaten anzuerkennen. Außenminister Hans-Dietrich Genscher glaubte, die jugoslawische Volksarmee durch die Internationalisierung des Konflikts von weiteren Militäraktionen abschrecken zu können. Dies erwies sich allerdings als eine gravierende Fehleinschätzung.[10]

Briten und Franzosen waren über den deutschen Alleingang empört und überschütteten den Partner mit Kritik, als sich der Krieg im Frühjahr 1992 ausweitete und Nachrichten über schlimmste Kriegsverbrechen bekannt wurden. Selbst mit Minderheitenproblemen und ethnonationalistischen Bewegungen konfrontiert, waren sie gegen die Unabhängigkeit der Teilrepubliken. Man fürchtete eine Kettenreaktion weiterer Sezessionsforderungen und weitere Gewalteskalation. Außerdem stand zu befürchten, früher oder später in einen militärischen Einsatz hineingezogen zu werden.

Erst nach und nach näherten sich die Sichtweisen der europäischen Staaten an. Gewalteskalation, Flüchtlingselend und Massenverbrechen machten deutlich, dass die internationale Gemeinschaft gemeinsame Interessen besaß, die es zu vertreten galt. Erstens wurden im ehemaligen Jugoslawien völkerrechtliche und humanitäre Mindeststandards und europäische Werte verletzt. Uneinigkeit und Handlungsunfähigkeit bewirkten einen Verlust an Ansehen und Glaubwürdigkeit. Zweitens wuchsen die Kosten durch Flüchtlingsfürsorge, humanitäre Hilfe und andere Begleiterscheinungen des Krieges. Es war vorherzusehen, dass Europa für den Wiederaufbau der zerstörten Region würde aufkommen müssen. Drittens wurde klar, dass eben doch die regionale Stabilität und Sicherheit zur Debatte stand, da sich der Konflikt immer mehr ausweitete. Der Krieg kam Regionen näher, die wie die Türkei zum Bündnisgebiet der NATO gehörten. Es standen weitere „spill-over“-Effekte zu befürchten.

Als sich seit 1992 die Einsicht in den Hauptstädten verdichtete, dass Europa und die Welt dem Morden nicht weiter tatenlos zusehen könne, blieb doch umstritten, mit welchen Mitteln man dem Problem beikommen sollte. Während die westliche Öffentlichkeit, aufgerüttelt durch die abendlich über die Fernsehschirme flimmernden Horrorbilder, nach militärischem Eingreifen rief, warnten Politiker und Militärexperten vor den Risiken eines Einsatzes von Bodentruppen. In der Tat war vorerst kein Staat bereit, das Leben seiner Soldaten auf dem Balkan für einen undurchschaubaren Krieg zu riskieren.

UNO und Europäische Gemeinschaft hatten bereits zu Beginn der Krise internationale Vermittler in die Region entsandt, um eine politische Lösung zu suchen. Aber die Kriegsparteien verwarfen einen Friedensplan nach dem anderen, während sie mit militärischen Mitteln vollendete Tatsachen schufen. Hunderte Waffenstillstände wurden gebrochen, Millionen Menschen wurden unterdessen vertrieben, um ethnisch homogene Regionen zu schaffen.

Weil kein Staat zum Einsatz militärischer Mittel bereit war, auch die USA zunächst nicht, beschränkte man sich auf eine Politik der Schadensbegrenzung. Die UNO verhängte ein Waffenembargo über dem ehemaligen Jugoslawien und baute eine humanitäre Luftbrücke. Eine internationale Peacekeeping-Truppe, die UNPROFOR, flog Lebensmittel und Medikamente in das belagerte Sarajevo. Konvois der UNO versorgten auch entlegenere Regionen mit dem Nötigsten. Serbien und Montenegro, die sich zur Bundesrepublik Jugoslawien zusammengeschlossen hatten und als Hauptschuldige im Konflikt identifiziert wurden, belegte der Sicherheitsrat im Mai 1992 mit umfassenden wirtschaftlichen und diplomatischen Sanktionen. Die massenhaften Kriegsverbrechen sollten nicht ungesühnt bleiben. Im Februar 1993 gründete der UNO-Sicherheitsrat den Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien, um die politische und militärisch Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen.

Vor diesem Hintergrund entstand Anfang 1993 das sich später als fatal erweisende Schutzzonen-Konzept. Weil sich Zehntausende vor brutalen „ethnischen Säuberungen“ in die Städte flüchten, nahm die humanitäre Lage katastrophale Ausmaße an. Der UN-Sicherheitsrat erklärte im April und Mai 1993 die Städte Srebrenica, Sarajevo, Tuzla, Žepa, Goražde und Bihac zu so genannten „sicheren Zonen“. Das Mandat war ein rein humanitäres: Leicht bewaffnete Blauhelm-Soldaten sollten unter dem Schutz möglicher Luftangriffe der NATO Lebensmittel und Medikamente verteilen und durch ihre Präsenz dafür sorgen, dass diese Orte militärisch nicht angegriffen wurden.

Das Konzept der „sicheren Zonen“ sollte durch klassische Mittel des Peacekeeping umgesetzt werden, das eigentlich für Situationen geschaffen worden war, in denen nicht mehr gekämpft wurde. Obwohl sich Bosnien-Herzegowina noch in der Phase des heißen Krieges befand, galten die gängigen Einsatzregeln. Die Blauhelme waren nur leicht bewaffnet, mussten sich neutral verhalten und durften Gewalt nur zur Selbstverteidigung einsetzen. Für einen Kampfeinsatz waren sie weder personell noch militärisch ausgerüstet. UN-Generalsekretär Kofi Annan erklärte später: „Weil wir wussten, dass alles andere das Leben unserer Truppen gefährden würde, versuchten wir, ein Umfeld zu schaffen – oder es uns einzubilden – in dem die Peacekeeping-Prinzipien […] funktionierten“.[11]

Weil es immer offensichtlicher wurde, dass das gar nicht möglich war, versuchte der UN-Sicherheitsrat mit ständig neuen Resolutionen das Mandat nachzubessern. So entstand ein komplexer und widersprüchlicher Auftrag, von dem niemand wusste, wo er anfing und wo er endete, geschweige denn, wie er durchzusetzen war. Nur wenige Staaten waren überhaupt bereit, Soldaten in diesen gefährlichen Einsatz zu entsenden. Am Ende fehlten beträchtliche personelle Ressourcen. Nach Berechnungen der UNO waren 34.000 Blauhelm-Soldaten nötig, um das Schutzzonenkonzept umzusetzen. Es kamen durch Entsendung der Mitgliedsstaaten dann aber nur 7.500 zusammen.[12]

Die Entmilitarisierung der Schutzzonen – eine wichtige Voraussetzung des Konzepts – stand ebenfalls nur auf dem Papier. In der Enklave Srebrenica hielten sich bosnische Truppen auf, die sogar aus dem Schutzzone heraus Angriffe auf das von Serben gehaltene Umland ausführten.

Eine besondere Tragik lag darin, dass der Begriff Schutzzone (safe area) die Vorstellung von Sicherheit vermittelte, die nie bestand. Seit Mitte 1993 stand die NATO bereit, zur Sicherung des humanitären Auftrags begrenzte Luftschläge durchzuführen. Eine klassische Militärintervention sollte daraus aber nicht werden. 1994 flog die Allianz erstmals Angriffe gegen serbische Stellungen bei Sarajevo. Die Bereitschaft, Luftunterstützung anzufordern war auf Seiten der UNO gering, seit die Serben in Vergeltung Blauhelmsoldaten als Geiseln nahmen. Das war dann später auch in Srebrenica der Fall. Fünf Mal forderte der holländische Colonel Karremans seit dem 11. Juli 1995 Luftunterstützung an: vergeblich. Das UN-Hauptquartier und der niederländische Verteidigungsminister fürchteten Repressalien gegen die Blauhelme, die sich in den Händen der Serben befanden.

Abgesehen davon befand sich die niederländische UN-Truppe „Dutchbut“ in einer psychologisch und materiell schwierigen Situation. Seit Monaten blockierten die Serben die Konvois der UNPROFOR, die Benzin und Lebensmittel liefern sollten. Von 430 Mann waren überhaupt nur 150 bewaffnet. Beim Sturm der Enklave wurden sie von serbischen Truppen umzingelt, beschossen, einige gefangen genommen und weiter bedroht.

Richtig ist aber auch, dass die UNO-Aufklärung und auch das Personal vor Ort, zumal Kommandeur Karremans, die konfuse Lage in der Enklave, in der sich 40.000 Flüchtlinge drängten, völlig falsch einschätzten. Nach den Verhandlungen mit General Mladic kümmerten sie sich nicht um den Verbleib der Gefangenen, die die Serben mit Hilfe der UN-Soldaten in Busse verfrachteten und zu den Erschießungsorten transportierten. Von den Massenexekutionen erfuhren sie angeblich erst später.

Durch das Foto ist Karremans zur Symbolfigur einer verfehlten, halbherzigen und unaufrichtigen Politik geworden, die möglicherweise gut gemeint war, aber zum Schrecklichsten einlud. Karremans, der zu seiner Verteidigung ein Buch geschrieben hat, sieht die Verantwortung vor allem bei den Befehlshabern von außen, sich selbst hingegen als Opfer. Zwischen den Zeilen liest man, die Welt habe Srebrenica (und die dort stationierten UN-Truppen) um höherer Ziele willen preisgegeben.[13] Tatsächlich kontrollierten Mladics Truppen im Sommer 1995 bis auf wenige Enklaven das gesamte Ostbosnien, das sie als serbisches Territorium betrachteten. Seit März 1995 schwadronierte Radovan Karadžic öffentlich von der Eroberung des Gebiets.[14] Indessen zog die bosnische Armee Soldaten aus Srebrenica ab, um die Rückeroberung der Hauptstadt Sarajevo vorzubereiten. Ernsthaft verteidigen wollten sie die ostbosnischen Enklaven offenbar nicht. Manche mutmaßten, es habe im Interesse von Amerikanern und Europäern gelegen, die Enklaven preiszugeben, um eine einfachere Grundlage für einen neuen Friedensplan zu haben. Bewiesen ist dies bis heute allerdings nicht.

In all dem ist wichtig zu betonen, dass die wirkliche Verantwortung für die Verbrechen nicht bei der UNO, sondern bei den Akteuren vor Ort lag, und zwar in erster Linie bei den Serben. Militärische Planungen, nationalistische Aufhetzung und blinde Rachsucht spielten zusammen, als General Mladic den Befehl gab, alle wehrfähigen Männer zu ermorden. Nach tagelanger serbischer Belagerung Srebrenicas versuchten Soldaten der bosnischen Armee in der Nacht zum 11. Juli mit einem Teil der männlichen Bevölkerung aus der Stadt auszubrechen – der Anlass zum serbischen Sturm auf die Enklave. Rache für die gelegentlichen Angriffe der NATO auf serbische Stellungen sowie frühere Überfälle muslimischer Milizen spielten auch eine Rolle. Am orthodoxen Weihnachtsabend 1993 hatten sie in den Dörfern Glogova und Kravica ein Blutbad unter serbischen Zivilisten angerichtet.[15] Noch agierten die serbischen Truppen aus einer Situation der Stärke, was nach Srebrenica nicht mehr lange so blieb. Denn das Massaker von Srebrenica wirkte im Westen als Weckruf. Die NATO ging zu massiven Bombardements serbischer Stellungen über und bereitete so das militärisch-politische Patt vor, das zur Beendigung des Krieges nötig war. Im November 1995 wurde der Bosnien-Krieg durch den Dayton-Vertrag beigelegt.[16] Seither steht das Land unter internationaler Verwaltung.

Das Massaker von Srebrenica wurde zum Trauma europäischer und internationaler Politik. Es hat die zahlreichen strukturellen Defizite in emblematischer Weise offengelegt, unter denen diese in den 1990er-Jahren litt. Das waren Informations- und Verfahrensmängel, Bewertungs- und Interessenkonflikte, unzureichende Instrumente und fehlender politischer Wille zum gemeinsamen Handeln. Hinzu kamen Missverständnisse und Rivalitäten im transatlantischen Verhältnis. Vor allem offenbarte der Fall die grandiose Selbstüberschätzung, unter denen das sich vergemeinschaftende Europa nach Ende des Kalten Krieges litt. 1995 wollte niemand mehr an die großspurigen Worte des luxemburgischen Außenministers Jacques Poos im Sommer 1991 erinnert werden, Jugoslawien offenbare die „Stunde Europas“.[17] Nach Srebrenica klang dies wie Hohn. Europäische Politik hat deswegen viel Häme und sogar Hass einstecken müssen.

Der Jugoslawienkrieg im Allgemeinen, und Srebrenica im Besonderen, haben gleichwohl auf tragische Weise dazu beigetragen, dass sich die Europäische Union über ihre gemeinsamen Werte und Identitäten, über nationale Interessen der Mitgliedsstaaten und kollektive Handlungsspielräume der Gemeinschaft klarer wurde und schließlich auf neue Verfahren und Instrumente im Bereich Gemeinsamer Außen- und Sicherheitspolitik verständigte. In den europäischen Hauptstädten besann man sich, dass die Europäische Union zuallererst eine Wertegemeinschaft darstellte, deren Grundlagen es zu verteidigen galt und man erkannte, dass dies nur durch gemeinsames Handeln möglich war.

Für Deutschland bewirkten die Ereignisse im ehemaligen Jugoslawien zweierlei: Erstens wurde klar, dass auch das wiedervereinigte, mächtigere Deutschland seine außenpolitische Rolle nur im multilateralen Rahmen wahrnehmen sollte. Alleingänge wie die Anerkennung Sloweniens und Kroatiens zu Beginn des Jugoslawienkrieges sollte es nicht mehr geben. Heute findet deutsche Balkanpolitik überwiegend im europäischen Rahmen statt, bilaterale Aktivitäten sind demgegenüber zweitrangig. Zweitens stießen die massiven Menschenrechtsverletzungen eine intensive Debatte über den Einsatz militärischer Mittel an. Aber welche historische Lehre war die richtige? War Deutschland aufgrund seiner Verantwortung für die Vernichtungspolitik im Zweiten Weltkrieg zu militärischer Abstinenz verpflichtet? Oder war es nicht gerade deswegen geboten, schwere Menschenrechtsverletzungen mit allen, auch militärischen Mitteln zu verhindern? Allmählich begannen sich die Argumente zu verschieben, wozu Srebrenica einen wichtigen Anstoß gab. Aus der Maxime „Nie wieder Krieg“, die die alte Bundesrepublik regierte, wurde in der zweiten Hälfte der 1990er-Jahre das Gebot „Nie wieder Auschwitz“. Im Juli 1994 urteilte das Bundesverfassungsgericht, dass deutsche Soldaten an Missionen der NATO (Mandatierung durch die UNO vorausgesetzt) auch ohne Grundgesetzänderung außerhalb ihres Vertragsgebietes teilnehmen durften. Jeder Einsatz müsse aber zuvor durch den Deutschen Bundestag mit einfacher Mehrheit genehmigt werden. Schrittweise wurde der Einsatz militärischer Mittel als außenpolitischem Instrument rehabilitiert, frühere außenpolitische und verfassungsrechtliche Beschränkungen wurden überwunden. Deutschland war bereit, an friedensschaffenden und -sichernden Militäreinsätzen der NATO “out of area” teilzunehmen und tat dies 1999 im Kosovo-Krieg erstmals offen und selbstbewusst. Die Befürworter militärischer Interventionen sahen hierin einen wichtigen Schritt der Normalisierung. Heute werden Friedens- bzw. Kriegseinsätze der Bundeswehr kaum mehr in Frage gestellt.

Zudem hat die Jugoslawienkrise für viele andere Politikfelder auf europäischer Ebene wichtige Anstöße gegeben, insbesondere in Hinblick auf die Fortentwicklung des Multilateralismus, die der deutschen Außenpolitik besonders am Herzen lag und immer noch liegt. Die Europäische Union entwickelte und testete auf dem Balkan ihre gemeinsame Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Heute besitzt sie einen gemeinsamen diplomatischen Dienst und führt gemeinsame Militäroperationen durch – nicht zuletzt eine Konsequenz aus den Entscheidungs- und Handlungsblockaden während der Jugoslawienkrise. Das Versagen in Srebrenica bewirkte grundlegende Veränderungen der deutschen, europäischen und internationalen Politik, wenngleich – wie die jüngsten Debatten über Militäreinsätze in Libyen, Mali und Syrien zeigen – Interessenkonflikte immer wieder am konkreten Fall diskutiert werden müssen.



[1] Essay zur Quelle: Foto von Colonel Thom Karremanns und General Ratko Mladic (12. Juli 1995).

[2] Vgl. dazu ausführlich Calic, Marie-Janine, Geschichte Jugoslawiens im 20. Jahrhundert, München 2000, S. 308ff.

[3] Münch, Peter, Reise rückwärts ohne Ziel, in: Süddeutsche Zeitung, 10. Juli 2000, S. 3.

[4] Netherlands Institute for War Documentation, Srebrenica: a “Safe” Area. Part IV – The Repercussion and the Aftermath until the End of 1995, Amsterdam 2002, S. 136, online abrufbar unter der URL: <http://www.srebrenica.nl/Content/NIOD/English/srebrenicareportniod_en_part04.pdf> (04.04.2013).

[5] Ebd., S. 136f.

[6] Zeuge O gegen Radislav Krstic v. 13.04.2001, online abrufbar unter der URL: <http://www.icty.org/x/file/Voice%20of%20Victims%20Support%20Docs/Witness%20O/Krstic-Witness%20O-Full%20Testimony_EN.doc> (04.04.2013).

[7] Umfangreiche Dokumentation der UN verfügbar in: International Criminal Tribunal for the former Yugoslavia, URL: <www.icty.org> (04.04.2013).

[8] Report of the Secretary-General Pursuant to General Assembly Resolution 53/55. The Fall of Srebrenica. 15 November 1999, online abrufbar unter der URL: <http://www.un.org/ga/search/view_doc.asp?symbol=A/54/549> (04.04.2013); Netherlands Institute for War (Hg.), Srebrenica – a “Safe” Area: Reconstruction, Background, Consequences and Analyses of the Fall of a Safe Area, Amsterdam 2002, der vollständige Bericht ist abrufbar unter der URL <http://www.srebrenica.nl/Content/NIOD/English/srebrenicareportniod_en.pdf>. Zur Quellenkritik der Reports vgl. Delpla, Isabelle; Bougarel, Xavier; Fournel, Jean-Louis (Hgg.), Investigating Srebrenica. Institutions, Facts, Responsibilities, New York u.a. 2012.

[9] Vgl. dazu ausführlich Calic, Marie-Janine, Krieg und Frieden in Bosnien-Hercegovin, Frankfurt am Main 1996, S. 218ff.

[10] Vgl. Calic, Geschichte, S.308ff.

[11] Report of the Secretary-General Pursuant to General Assembly Resolution 53/55. The fall of Srebrenica. 15 November 1999, S. 105.

[12] Ebd.

[13] Karremans, Thom, Srebrenica: Who Cares? Een puzzel van de werkelijkheid, Nieuwegein 1998.

[14] IT-05-88-T. Anklage gegen Vujadin Popovic et. al. v. 04.08.2006, online abrufbar unter der URL: <http://www.icty.org/x/cases/popovic/ind/en/popovic-060804.pdf> (04.04.2013).

[15] Sudetic, Chuck, Blood and Vengeance, London 1998.

[16] Marie-Janine Calic, Krieg und Frieden in Bosnien-Hercegovina, Frankfurt am Main 1995.

[17] Wolfgang Wagner, Falsche Vorbilder: Das europäische Außenpolitikregime braucht keine Vergemeinschaftung, in: Andreas Hasenclever, Klaus-Dieter Wolf, Michael Zürn (Hg.), Macht und Ohnmacht internationaler Institutionen, Frankfurt am Main 2007, S. 61.



Literaturhinweise

  • Calic, Marie-Janine, Geschichte Jugoslawiens im 20. Jahrhundert, München 2000.
  • Delpla, Isabelle; Bougarel, Xavier; Fournel, Jean-Louis (Hgg.), Investigating Srebrenica. Institutions, Facts, Responsibilities, New York u.a. 2012.
  • Duijzings, Ger, Commemorating Srebrenica: Histories of Violence and Politics of Memory in Eastern Bosnia, in: Bougarel, Xavier; Helms, Elissa; Duijzings, Ger (Hgg.), The New Bosnian Mosaic. Identities, Memories and Moral Claims in a Post-war Society, S. 141­–166.
  • Netherlands Institute for War (Hg.), Srebrenica – a “Safe” Area: Reconstruction, Background, Consequences and Analyses of the Fall of a Safe Area, Amsterdam 2002, URL: <http://www.srebrenica.nl/Content/NIOD/English/srebrenicareportniod_en.pdf>.
  • Rohde, David, A Safe Area: Srebrenica, Europe’s Worst Massacre since the Second World War, New York u.a. 1997.

Für das Themenportal verfasst von

Marie-Janine Calic

( 2013 )
Zitation
Marie-Janine Calic, Srebrenica 1995: ein europäisches Trauma, in: Themenportal Europäische Geschichte, 2013, <www.europa.clio-online.de/essay/id/fdae-1597>.
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