Das Europa der „äußeren Sieben“. Die „surcharge“-Krise der Europäischen Freihandelsgemeinschaft im Herbst 1964[1]
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Von Wolfram Kaiser
Als Resultat ihrer Erweiterung auf inzwischen 28 Mitgliedstaaten zum 1. Juli 2013 ist die heutige Europäische Union (EU) nahezu identisch mit einem geografisch definierten Europa. Das war in der frühen Nachkriegszeit keineswegs so. Vielmehr wurde das „Kerneuropa“ der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS, 1951/52) und der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG, 1957/58) von nur sechs westeuropäischen Staaten gegründet, nämlich Frankreich, Italien, der Bundesrepublik Deutschland, den Niederlanden, Belgien und Luxemburg. Andere demokratisch verfasste Staaten Westeuropas schlossen sich zunächst nicht an. Großbritanniens noch immer enge Wirtschaftsbeziehungen mit dem Commonwealth schienen die Teilnahme an einer europäischen Zollunion auszuschließen, die Schweiz, Schweden und (wenngleich weniger rigide) Österreich lehnten diese Option zunächst als nicht kompatibel mit ihrer Neutralität ab, und die sozialdemokratisch regierten Länder Dänemark und Norwegen entschieden sich gegen die Teilnahme, weil sie für zwischenstaatliche institutionelle Lösungen waren und das neue „Kerneuropa“ vielfach als katholisch und konservativ dominiert wahrnahmen.[2]
Noch während der Verhandlungen, die zur EWG-Gründung führen sollten, schlug die konservative britische Regierung zunächst im Rahmen der Organisation für Europäische Wirtschaftliche Zusammenarbeit (OEEC) vor, eine größere und institutionell strikt zwischenstaatliche Freihandelszone zu gründen.[3] Damit wollte sie vor allem die wirtschaftlichen Gefahren ihres Selbstausschlusses von der EWG abwenden. Die anschließenden Regierungsverhandlungen scheiterten jedoch endgültig Ende 1958 am ersten europäischen Veto des neuen französischen Präsidenten Charles de Gaulle. Daraufhin gründeten Großbritannien, Schweden, Norwegen, Dänemark, die Schweiz, Österreich und Portugal 1959/60 die Europäische Freihandelsgemeinschaft (EFTA).[4] Anders als die EWG war diese Organisation zwischenstaatlich organisiert und anfänglich ausschließlich auf den zollfreien Handel von Industrieprodukten ausgerichtet. Außerdem war der Vertrag informell mit bilateralen Konzessionen im landwirtschaftlichen Handel diplomatisch verbunden. Allerdings sah die EFTA durchaus Mehrheitsabstimmungen vor, und zwar in Abwesenheit eines supranationalen Gerichtshofs wie in der EWG durch die Mitgliedstaaten, um einen Vertragsbruch festzustellen und andere Mitgliedstaaten zu Gegenmaßnahmen zu autorisieren.
Mit der Ausnahme der Schweiz, Liechtensteins, Norwegens und Islands sind inzwischen (2016) alle früheren EFTA-Staaten der EU beigetreten. Norwegen und Liechtenstein sind immerhin über den Europäischen Wirtschaftsraum wirtschaftlich, rechtlich und institutionell eng mit der EU verbunden, allerdings ohne direkten Einfluss auf EU-Entscheidungen zu haben. Die Rolle der EFTA beschränkt sich daher inzwischen hauptsächlich auf die informelle Koordinierung der Außenhandelspolitik der Mitgliedstaaten, vor allem im Kontext der Welthandelsorganisation (WTO). Das sollte jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die EFTA nach ihrer Gründung wichtige Funktionen im europäischen Integrationsprozess hatte. Diese waren zunächst wirtschaftlicher Natur. So gelang es der EFTA anderthalb Jahre vor der EWG, alle Binnenzölle auf Industrieprodukte zum 31. Dezember 1966 abzuschaffen. Die industrielle Freihandelszone schuf indirekt erstmals einen weitgehend integrierten Wirtschaftsraum der nordischen Staaten, deren grenzüberschreitender Handel nach der EFTA-Gründung geradezu explodierte. Wie erst in Ansätzen erforscht worden ist, war die EFTA mit ihren Institutionen darüber hinaus nicht nur auf Regierungsebene, sondern auch für gesellschaftliche Organisationen wie politische Parteien und Gewerkschaften ein Forum für grenzüberschreitende Kontakte und Sozialisierung, zunächst im EFTA-Rahmen, aber später auch organisationsübergreifend mit staatlichen und nicht-staatlichen Akteuren aus der heutigen EU. Dies half wiederum, kulturelle Barrieren gegen eine Annäherung und einen möglichen Beitritt zur EWG/EU abzubauen.
Die EFTA litt jedoch von Anfang an unter erheblichen strukturellen ökonomischen, politischen und institutionellen Schwächen, die in der sogenannten „surcharge“-Krise im Herbst 1964 auf das Schärfste deutlich wurden.[5] Dies war knapp ein Jahr bevor die EWG ihrerseits infolge der Politik des leeren Stuhls ihre größte Krise bis dato erlebte, als de Gaulle alle Sitzungen des Ministerrats durch französische Absenz boykottieren ließ. Die neue britische Labour-Regierung von Premierminister Harold Wilson löste die „surcharge“-Krise mit der Erhöhung aller Zölle auf industrielle Importe um 15 Prozent im Oktober 1964 aus, mit der sie das wachsende Zahlungsbilanzdefizit Großbritanniens kontrollieren wollte. Dieses war keinesfalls exorbitant hoch, aber aus britischer Sicht deshalb besorgniserregend, weil das Land eigentlich Zahlungsbilanzüberschüsse erwirtschaften musste, um weiterhin den Sterling-Währungsraum und seine verbliebene Großmachtrolle zu finanzieren. Anstatt binnenwirtschaftliche Maßnahmen wie eine Abwertung des Pfund Sterling oder die zeitweise Wiedereinführung von quantitativen Beschränkungen zur Begrenzung steigender Importe zu wählen, entschied sich die Regierung Wilson ausgerechnet für die einzige Politikoption, die im Rahmen des EFTA-Vertrags offensichtlich illegal war. Sie tat dies zunächst, ohne die Auswirkungen ihrer Entscheidung auf die EFTA überhaupt sorgfältig zu erwägen oder gar die anderen EFTA-Regierungen zu konsultieren. Als diese sehr scharf protestierten, bemühte sich die britische Regierung halbherzig, die EFTA-Staaten de facto von der Zollerhöhung auszunehmen, verzichtete darauf aber sofort, als deutlich wurde, dass die Vereinigten Staaten, Frankreich und die Bundesrepublik Deutschland unter diesen Umständen nicht bereit gewesen wären, Großbritannien dringend benötigte Kredite zur Verfügung zu stellen.
Vor diesem Hintergrund wurden die Auswirkungen der britischen Zollerhöhung auf die EFTA und deren Handel zunächst auf Beamtenebene diskutiert, bevor sich am 19.–20. November 1964 die Außen- und Handelsminister der EFTA-Staaten im Finnland-EFTA-Ministerrat trafen. Bei diesem Gremium handelte es sich zunächst um eine institutionelle Konzession an die Sowjetunion als Vorbedingung für deren Zustimmung zur Assoziierung Finnlands mit der EFTA im Jahr 1961. Nach und nach trafen sich die Vertreter der sieben EFTA-Regierungen jedoch nicht mehr separat – als EFTA-Ministerrat –, sondern nur noch mit den finnischen Vertretern in diesem Gremium. Insofern wurde Finnland bis 1964 de facto, wenngleich nicht de jure, ein gleichberechtigtes Mitglied der Organisation. Der Auszug aus dem Protokoll dieser Sitzung vom November 1964, der diesem Essay als Quelle beigefügt ist[6], verdeutlicht auf eindeutige Weise die Bedenken und Einwände der Partner Großbritanniens gegen die Zollerhöhung. Vor allem die Schweizer und schwedischen Minister kritisierten die britische Politik scharf und hielten ohne Wenn und Aber fest, dass die Maßnahme illegal war. Hans Schaffner, der Schweizer Handelsminister, stellte klar: „The 15 per cent charge was not compatible with the Stockholm Convention.“ Besonders die Schweden und Dänen verwiesen auch darauf, wie nachteilig die britische Maßnahme nicht nur für den EFTA-Handel war, sondern auch für den politischen Zusammenhalt der Organisation. Der schwedische Handelsminister Gunnar Lange warnte: „The measure itself and the way it had been handled contributed to the crisis of confidence in which EFTA now found itself. [...] Unintentionally it had dealt a severe blow to the Association which he could only hope would not be fatal“.
Der sozialdemokratische Außenminister Dänemarks, Per Haekkerup, verwies auf die parlamentarische Initiative der Konservativen und der rechtsliberalen Venstre-Partei, die nun zunehmend offen dafür plädierten, zur EWG überzulaufen, wozu Dänemark schon im Januar 1963 von de Gaulle eingeladen worden war, als dieser den Beitritt Großbritanniens erstmals blockierte.
Die Teilnehmer an der vertraulichen Sitzung äußerten sich sehr direkt. Die scharfe Kritik an der britischen Politik spiegelt nicht zuletzt die sich rasch verbreitende Wahrnehmung wider, dass Großbritannien als Führungsmacht innerhalb der EFTA und in der europäischen Politik sowohl wirtschaftlich als auch politisch zu schwach war und wegen seines ursprünglichen Selbstausschlusses vom „Kerneuropa“ der sechs Gründungsstaaten auch nicht über genügend Einfluss verfügte, um gegen die Präferenzen de Gaulles die handelspolitische Spaltung Westeuropas in die EWG und EFTA zu überwinden. Nach einem ersten vergeblichen Versuch 1960, ein handelspolitisches Arrangement zwischen den beiden Blöcken zu erreichen, hatte die konservative britische Regierung im Jahr 1961 den Beitritt zur EWG beantragt. Dieser Versuch, wirtschaftliche Kerninteressen und eine vermeintliche Sonderstellung in den transatlantischen Beziehungen zu sichern, scheiterte jedoch im Januar 1963 an dem Veto de Gaulles. Obwohl Premierminister Harold Macmillan den EFTA-Regierungen 1961 zugesagt hatte, ihre Kerninteressen in den Verhandlungen zu wahren, waren diese allerdings bis Januar 1963 über den Beginn von Beitrittsverhandlungen mit Dänemark hinaus noch nicht einmal thematisiert worden. Von der neuen Labour-Regierung, die 1964 gewählt wurde, hatten sich die EFTA-Staaten eher eine Stärkung des inneren Zusammenhalts der EFTA erwartet, sodass sie von der „surcharge“-Entscheidung besonders enttäuscht waren. Schließlich beantragte die Regierung Wilson 1967 sogar selbst den EWG-Beitritt, der allerdings erst Anfang 1973 erfolgen sollte.
Ob bürgerlich oder mehr sozialdemokratisch in ihrer politischen Orientierung, waren sich alle anderen EFTA-Regierungen einschließlich des portugiesischen Vertreters der Salazar-Diktatur einig, dass die britische Wirtschaftspolitik ungeeignet war, die immer deutlicher zu Tage tretenden strukturellen Probleme des Landes zu lösen. Außerdem hatte die britische Zollerhöhung massive Auswirkungen auf den Handel der kleineren EFTA-Staaten, die – vor allem im Falle der skandinavischen Länder – einen bedeutenden Teil ihres Außenhandels mit Großbritannien abwickelten. Zugleich blieben Staaten wie die Schweiz und Österreich in ihrem Handel stärker auf die Bundesrepublik Deutschland (und teilweise Frankreich und Italien) orientiert, da die Zollerleichterungen nicht die anderen Wettbewerbsvorteile wie geografische Nähe ausgleichen konnten.
Der Verlauf der „surcharge“-Krise verdeutlicht darüber hinaus auch eine gravierende institutionelle Schwäche der EFTA. Die britische Regierung versuchte gar nicht erst, ihre Zollerhöhung als mit dem EFTA-Vertrag vereinbar darzustellen. Sie stimmte vielmehr zu, dass diese eindeutig illegal war. Für diesen Fall hätte es jedoch die Option gegeben, dazu einen formellen Beschluss zu fassen und die anderen EFTA-Staaten zu ermächtigen, gleichwertige Gegenmaßnahmen gegen Importe aus Großbritannien zu ergreifen. Die EFTA-Partner entschieden sich jedoch dagegen. Für diesen Fall wäre die Organisation vermutlich zerbrochen. Großbritannien wäre öffentlich diskreditiert gewesen, während Finnland und Portugal, aber auch die Schweiz und Schweden andererseits keine Möglichkeit sahen, in einem solchen Fall der EWG beizutreten – dies abgesehen davon, dass gerade gegen die Assoziierung der Schweiz und Schwedens innerhalb der EWG große Vorbehalte bestanden, da erwartet wurde, dass beide Länder zwar die wirtschaftlichen Vorteile, aber ohne die rechtlich-institutionellen und finanziellen Verpflichtungen wählen wollten, sodass beide Länder in der Europäischen Kommission sogar als „les nations SS“ bekannt waren.[7] Innerhalb der EWG wäre hingegen die Kommission verpflichtet gewesen, einen so eklatanten Vertragsbruch durch einen Mitgliedstaat vor den Europäischen Gerichtshof zu bringen, und dieser, den Mitgliedstaat zu vertragskonformem Verhalten zu verpflichten. Diese supranationale rechtlich-institutionelle Organisation der heutigen EU reflektiert nicht nur die ursprünglichen tendenziell föderalistischen Präferenzen der Gründungsstaaten, sondern hat sich auch als insgesamt wirksamer konstitutioneller Rahmen erwiesen, um kleinere Mitgliedstaaten genauso wie schwächere gesellschaftliche Akteure und Interessen vor der Willkür der „Großen“ zu schützen.
[1] Essay zur Quelle: Finland-EFTA (European Free Trade Association), 25. Sitzung der Ministerkonferenz (19.-20. November 1964), [Transkript; Auszüge]. Die Druckversion des Essays befindet sich in: Hartmut Kaelble, Rüdiger Hohls (Hgg.): Geschichte der europäischen Integration bis 1989, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2016, S. 143—147, Band 1 der Schriftreihe Europäische Geschichte in Quellen und Essays.
[2] Zur Europapolitik der „latecomer“ siehe in vergleichender Perspektive: Kaiser, Wolfram; Elvert, Jürgen (Hgg.), European Union Enlargement. A Comparative History, London 2004.
[3] Kaiser, Wolfram, Großbritannien und die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft 1955–1961. Von Messina nach Canossa, Berlin 1996.
[4] af Malmborg, Mikael; Laursen, Johnny, The Creation of EFTA, in: Olesen, Thorsten B. (Hg.), Interdependence versus Integration. Denmark, Scandinavia and Western Europe, 1945–1960, Odense 1995, S. 197–212.
[5] Kaiser, Wolfram, The Successes and Limits of Industrial Market Integration. The European Free Trade Association 1963–1969, in: Loth, Wilfried (Hg.), Crises and Compromises. The European Project 1963–1969, Baden-Baden 2001, S. 371–390.
[6] Joint Council FINLAND-EFTA, 25. Sitzung, 19.–20.11.1964, EFTA-Archiv Genf, FINEFTA/JC.SR 25/64, 22.01.1965. Die folgenden Quellenzitate stammen, soweit nicht anders vermerkt, aus den hier mit veröffentlichten Quellenausschnitten.
[7] Laut dem französischen Botschafter in Schweden, de la Chauvinière. Zitiert nach af Malmborg, Mikael, Gaullism in the North? Sweden, Finland and the EEC in the 1960s, in: Loth, Wilfried (Hg.), Crises and Compromises. The European Project 1963–1969, Baden-Baden 2001, S. 489–508.
Literaturhinweise
Kaiser, Wolfram, Großbritannien und die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft 1955–1961. Von Messina nach Canossa, Berlin 1996.
Ders.; Elvert, Jürgen (Hgg.), European Union Enlargement.
Loth, Wilfried (Hg.), Crises and Compromises: The European Project 1963–1969, Baden-Baden 2001.
Zugehörige Quelle: