Vom Wechselkursverbund zur gemeinsamen Währung. Stufen und Probleme der europäischen Währungsintegration seit dem Zerfall des Bretton Woods-Systems fester Wechselkurse Anfang der 1970er-Jahre[1]
Von Dieter Lindenlaub
Am 1. Januar 1999 startete – in Verfolg des am 7. Februar in Maastricht vom EU-Rat unterzeichneten Vertrages zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft[2] – die dritte Stufe der Wirtschafts- und Währungsunion (im Folgenden: EWU = Europäische Währungsunion).[3] Elf Mitgliedsstaaten der Europäischen Union führten – zunächst nur als Buchgeld, am 1. Januar 2002 auch als Bargeld – den Euro als gemeinsame Währung ein, ohne gleichzeitig andere Politikbereiche, wie z.B. die Finanz- und Wirtschaftspolitik, zu vergemeinschaften; bis 2013 folgten sechs weitere Länder. Die nationalen Zentralbanken dieser Länder und die Europäische Zentralbank (EZB) bilden das Eurosystem, das für eine einheitliche Geldpolitik im Euroraum zu sorgen hat.
Die Einführung einer gemeinsamen Währung war das herausragende europäische Integrationsereignis nach den Römischen Verträgen von 1957. Seit etwas mehr als einem Jahrzehnt nach dem Start indessen macht die Gefahr Schlagzeilen, dass das Eurosystem wieder auseinanderbricht. Die Staatsschulden- und Wirtschaftskrise seit 2009 hat Misstrauen in die Leistungsfähigkeit des Eurosystems zur Krisenbewältigung erzeugt. In den Jahren 2011 und 2012 löste in acht der 17 Euroländer Uneinigkeit über zweckdienliche Reform- und Sparmaßnahmen vorgezogene Regierungswechsel aus;[4] in Deutschland wurde eine Partei (Alternative für Deutschland) pro Auflösung der Eurozone gegründet. Wie konnte es zu dem nahen Beieinander von Start und Überlebensdiskussion kommen? Der Schlüssel zur Erklärung liegt in der Unvollkommenheit der institutionellen Ausgestaltung der EWU. Sie ist ein Kompromiss unterschiedlicher Zielvorstellungen, Lagebeurteilungen und Einflussmöglichkeiten, welche die Geschichte der europäischen Währungsintegration von den frühen Währungsunionsplänen in den 1960er-Jahren über zwei Jahrzehnte Festkursvereinbarungen bis zur Errichtung der EWU durchziehen. Diese Geschichte erhellt daher auch die gegenwärtige Krisendiskussion.
Wirtschaftswissenschaft, Wirtschaftspolitik und Politikwissenschaft verwenden zur Erklärung von Problemen und Entwicklung der europäischen Währungsintegration unterschiedliche theoretische Konzepte, die (zumindest implizit) auch der Tagesdiskussion unterlegt sind. Ich möchte sie kurz vorstellen, weil sie notwendige Ordnungsgesichtspunkte für die nachfolgende Darstellung liefern, und um (am Ende) ein Urteil über ihre gegenseitige Abgrenzung und ihre Erklärungskraft zu ermöglichen. Die Wirtschaftswissenschaft stellt Nutzen und Kosten einer Währungsunion (und fester Wechselkurse zwischen verschiedenen Währungen) gegenüber. Der wohlfahrtssteigernde Nutzen liegt darin, dass im zwischenstaatlichen Güter- und Kapitalverkehr Verlustrisiken aus Wechselkursschwankungen verschwinden und (bei gemeinsamer Währung) Umtauschkosten entfallen und – wettbewerbsfördernd – Kosten und Preise transparent werden. Die Kosten liegen darin, dass ein Land z.B. einem „asymmetrischen“ Wirtschaftseinbruch nicht mehr mit expansiver Geldpolitik und Abwertung der eigenen Währung begegnen kann. Diese „Schwäche“ kann nur, sollen Arbeitslosigkeit und soziale Probleme vermieden werden, durch andere Anpassungsinstrumente (einzeln oder in Kombination) wettgemacht werden, vor allem: hohe Mobilität der Arbeitskräfte, flexible Löhne und Preise und finanzielle Hilfen von außen. Fehlen sie, ist die Produktionsstruktur der Länder wenig diversifiziert und fehlen generell gemeinsame geld-, wirtschafts- und sozialpolitische Leitvorstellungen, sind feste Wechselkurse bzw. Währungsunionen in ihrem Bestand gefährdet. Das sagt die seit Anfang der 1960er-Jahre entwickelte Theorie des optimalen Währungsraums (OWR).[5]
Parallel zur OWR-Theorie entstand eine wirtschaftspolitische Debatte über den zweckmäßigen Weg der Währungsintegration. Hier stehen sich Monetarismus (Vehikeltheorie) und Ökonomismus (Krönungstheorie) gegenüber. Die Monetaristen treten dafür ein, mit währungspolitischen Festlegungen (feste Wechselkurse bzw. gemeinsamem Geld) zu beginnen und die Vereinheitlichung der Geldpolitik bzw. der wirtschafts- und finanzpolitischen Rahmenbedingen der weiteren Entwicklung zu überlassen. Die Ökonomisten denken von der „Finalität“ der Integration her und wollen vor währungspolitischen Festlegungen deren Funktionsbedingungen sicherstellen. Der Monetarismus wurde bis zum Start der EWU z.B. von Frankreich, der Ökonomismus vor allem von Deutschland (und dort von der Geld- und Finanz-, weniger von der Außenpolitik) vertreten. Der deutschen Seite kam es darauf an, die Bedingungen, unter denen Festkurssysteme bzw. Währungsunion arbeiteten, von vornherein auf das – von der Deutschen Bundesbank traditionell verfolgte – Ziel stabiler Preise auszurichten; vom monetaristischen Vorgehen befürchtete man dagegen eine Entwicklung hin zu höheren, den Durchschnitt der Teilnehmerländer spiegelnden Inflationsraten.
Während Wirtschaftswissenschaft und -politik Leitvorstellungen über die zweckmäßige Währungsintegration entwarfen, entwickelte die Politikwissenschaft – vor allem zwei – Konzepte zur Erklärung der tatsächlichen europäischen (Währungs-)Integrationsvorgänge: Der Neofunktionalismus sagt, dass Sachzwänge einen integrierten Handel quasi automatisch in immer höhere, mit nationalem Souveränitätsverzicht verbundene Integrationsstufen (Systeme fester Wechselkurse/Währungsunion, dann Fiskal-, Wirtschafts- und politische Union) treiben; er erklärt – ähnlich wie der oben beschriebene Monetarismus, dem er verwandt ist – indessen nicht die stabilitätspoltische Ausgestaltung dieser Integrationsstufen. Als Mitte der 1960er-Jahre der europäische Integrationsprozess stockte, trat dem Neofunktionalismus der Intergouvernementalismus entgegen. Er erklärte die Integrationsvorgänge aus der Auseinandersetzung nationalstaatlicher Interessen; anders als eine spätere Ausformung des Neofunktionalismus misst er der Einflussnahme supranationaler Organisationen (z.B. der EU-Kommission) auf die Integration kaum Bedeutung bei. In seiner „liberalen“ Variante führt er die nationalen Interessen auf die Präferenzen der Wirtschaftsakteure zurück; (nur) in seiner „realistischen“ Variante räumt er auch politischen Faktoren (z.B. dem Widerstand einiger Länder gegen die deutsche Währungsdominanz) Bedeutung ein.[6]
Verfolgen wir die europäische Währungsintegration seit den 1960er-Jahren im Lichte der genannten Konzepte. Sie vollzog sich in drei Etappen: Auf das Scheitern eines frühen Währungsunionsplans und die Errichtung des Europäischen Wechselkursverbundes (EWV) Ende der 1960er-/Anfang der 1970er-Jahre folgte 1978 das Europäische Währungssystem (EWS), auf dieses 1992/99 die Wirtschafts- und Währungsunion. Schon in der ersten Etappe wird das Grundmuster auch der kommenden Integrationsvorgänge deutlich: die Mischung aus wirtschaftlichen und politischen Integrationsmotiven; die unterschiedlichen Integrationspositionen Deutschlands und Frankreichs, in denen die größere Wirtschaftskraft Deutschlands zum Ausdruck kam; die Bedeutung der internationalen Währungsentwicklung als Integrationsmotiv (jeder Dollarpreisverfall trieb das Anlage suchende Kapital in die starke D-Mark und schwächte damit den Kurs der anderen europäischen Währungen); Deutschland (meist z.B. mit den Niederlanden als Partner) und Frankreich (mit den romanischen Ländern im Gefolge) als Hauptakteure der Integrationsdiplomatie; als Ergebnis ein währungspolitischer Kompromiss, dessen Erfolgsbedingungen nur unzureichend erfüllt waren.
Das wirtschaftliche Motiv in der ersten Integrationsetappe lieferte der zum 1. Januar 1958 errichtete Gemeinsame Markt – aber nicht „zwangsläufig“. Ein Ausbau der multilateralen Kredite und Ausgleichzahlungen, mit denen das große währungspolitische Kooperationsunterfangen der 1950er-Jahre, die Europäische Zahlungsunion, zum 1. Januar 1959 die kommerzielle Konvertibilität ihrer Mitgliedswährungen hergestellt hatte, schien nicht notwendig.[7] Währungspolitische Kooperation wurde vor allem erst dann dringlich, nachdem 1962 die Gemeinsame Agrarpolitik der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) in Kraft getreten war. Sie gewährte den Landwirten – marktwidrig – einheitliche, in Dollar festgelegte Mindestpreise, die dann in die nationalen Währungen umgerechnet wurden. Schwankten die europäischen Wechselkurse zum Dollar uneinheitlich, so erlitten die Landwirte der Aufwertungsländer Einkommenseinbußen; in den Abwertungsländern stiegen die Lebenshaltungskosten. Die Gemeinsame Agrarpolitik war daher (bis 1973, als zur Kompensation dieser Schwankungen Grenzausgleichsabgaben eingeführt wurden) an festen Wechselkursen interessiert. Und für feste Wechselkurse suchte man eine innereuropäische Lösung, als das weltweite Bretton Woods-System fester Wechselkurse gegen Ende der 1960er-Jahre zu zerbröckeln begann. Die nationalen Inflationsraten liefen auseinander, Deutschland löste sich vom internationalen Inflationsgeleitzug; im August 1969 wertete der französische Franc ab, im Oktober die D-Mark auf. Zu den wirtschaftlichen traten politische Integrationsmotive: Frankreich wollte der Dominanz des Dollars (z.B. als Reservewährung) in der Welt, der D-Mark in Europa begegnen; Deutschland wollte sich in Europa einbinden, um Zustimmung zu seiner Ostpolitik zu gewinnen.
Am 1./2. Dezember 1969 setzten die Staats- und Regierungschefs der EWG-Staaten auf ihrer Gipfelkonferenz in Den Haag eine Kommission unter dem luxemburgischen Ministerpräsidenten Pierre Werner ein, welche die stufenweise Errichtung einer Wirtschafts- und Währungsunion prüfen sollte. In der Werner-Kommission prallten indessen die unterschiedlichen Grundpositionen aufeinander: Frankreich war vor allem an der raschen Festigung der Wechselkurse und der Bereitstellung von Finanzhilfen für Interventionen gelegen; Deutschland wollte währungspolitische Bindungen erst nach Harmonisierung der Geld-, Finanz- und Wirtschaftspolitiken (letztlich im Rahmen einer politischen Union) eingehen. Der Werner-Bericht (8. Oktober 1970) schlug als Kompromiss eine in drei Stufen zu verfolgende „effektive Parallelität“ von monetären, wirtschaftlichen und politischen Integrationsfortschritten vor. Der Ministerrat legte sich (am 22. März 1971) jedoch nur – ganz „monetaristisch“ – auf die erste Stufe fest, die Verringerung der zulässigen Wechselkursschwankungen; auf mehr Souveränitätsverzicht wollte sich vor allem Frankreich nicht einlassen.[8]
Am 24. April 1972 trat der Europäische Wechselkursverbund (EWV), zunächst mit sechs Mitgliedern, in Kraft. In ihm sollten die (anpassungsfähigen) Wechselkurse nach Möglichkeit nur um ±2,25 Prozent schwanken, bis zum endgültigen Zerfall des Bretton Woods-Systems innerhalb eines etwas breiteren Bandbreitentunnels („Schlange im Tunnel“). Die geldpolitische Disziplinierungswirkung der Wechselkursbindung erwies sich jedoch als zu schwach, die Inflationsraten gingen zu sehr auseinander und Währungsreserven und Finanzierungshilfen für Deviseninterventionen waren zu gering, als dass laufende Auf- und Abwertungen und Austritte vermieden worden wären. Ab März 1976 war auch Frankreich nicht mehr dabei; der EWV schrumpfte zu einer D-Mark-Zone.[9]
Auch das EWS, die zweite Etappe der Währungsintegration, scheiterte an der Unvollkommenheit seiner Voraussetzungen; aber dieses Scheitern gab die Anstöße zur späteren Währungsunion. Wie schon 1969 (Pompidou/Brandt) ging auch die zweite Integrationsinitiative von den französischen und deutschen Staatsspitzen aus: Staatspräsident Giscard d’Estaing und Bundeskanzler Schmidt (dem vorrangig an einer Einbindung Deutschlands in die Europäische Gemeinschaft gelegen war[10]) verabredeten zunächst im Frühjahr 1978 ein System fester, aber anpassungsfähiger Wechselkurse, das – anders als der EWV – den schwächeren Währungen, also auch dem französischen Franc, feste Wechselkurse auch ohne die Preisdisziplin der währungsstärkeren Länder ermöglichte. Zu diesem Zweck sollten die Währungsreserven umgehend vergemeinschaftet werden. Die Wechselkurse sollten stabilisiert werden, indem diejenige Währung intervenierte, die sich über die zugelassene Bandbreite hinaus vom Durchschnitt der Marktbewertungen aller Teilnehmerwährungen (der Korbwährung ECU) entfernte.
Das EWS, wie es am 13. März 1979 in Kraft trat, war jedoch – auf Grund der massiven Einwände der Deutschen Bundesbank, denen sich Schmidt schließlich anschloss – ganz anders, nämlich stabilitätsorientierter, ausgestaltet: Wie im EWV wurden die zulässigen Bandbreiten zwischen den einzelnen Mitgliedswährungen festgelegt („bilaterales Paritätengitter“). Erreichte eine Währung gegenüber einer anderen die Bandbreitengrenze (wie bisher ± 2,25 Prozent), hatten beide Seiten, die Stark- und die Schwachwährungszentralbank, zu intervenieren. Die stärkste Währung, nicht eine Durchschnittswährung, blieb der Bezugspunkt für Interventionen. Ein gemeinsamer Europäischer Reservefonds wurde zurückgestellt, die Verpflichtung zu Währungsbeistandskrediten blieb begrenzt. Und die Bundesbank erhielt die mündliche Zusage des Bundeskanzlers, bei Gefährdung der Preisstabilität den (die Geldmenge erhöhenden) Ankauf anderer Währungen aussetzen zu können.
Das so konstruierte EWS hat im Zusammenspiel mit der fortgesetzten Stabilitätspolitik der Bundesbank den Schritt in die dritte Etappe der Währungsintegration, die Entstehung der EWU, in doppelter Weise beeinflusst: Es hat einerseits – anders als sein Vorgänger, der EWV – in Europa eine allgemeine Stabilitätsorientierung der Wirtschafts- und Währungspolitik befördert. Und es hat andererseits bei den Schwachwährungsländern das dringende Verlangen entstehen lassen, durch Errichtung eines Gemeinschaftsorgans dem Diktat der Geldpolitik der Bundesbank zu entkommen. Wie das?
In den ersten Jahren des EWS (sie fielen in die zweite Hälfte der sogenannten Großen Inflation in Europa und der Welt) taten sich im EWS deutliche Inflationsunterschiede auf. So stiegen die Verbraucherpreise in Deutschland im Durchschnitt der Jahre 1979–1982 um 5,3 Prozent, in Frankreich z.B. aber um 12,4 Prozent. Die Inflationsunterschiede schlugen sich in mehrfachen Neufestsetzungen der Wechselkurse nieder. Der französische Franc z.B. verlor 1979–1983 gegenüber der D-Mark ein Viertel seines Wertes. Wollten die währungsschwachen Länder nicht ihre Währungsreserven verlieren oder prestigemindernd ihre Währung abwerten, so mussten sie ihre Inflationsraten in die Nähe der deutschen hinunterbringen. Den dazu notwendigen (wenn auch nicht hinreichend nachhaltigen) Wechsel von einer expansiven zu einer restriktiven Haushalts- und Geldpolitik (einer Politik des „Franc fort“) vollzog Frankreich ab 1982; der politische Rang Frankreichs sollte durch wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit gestützt werden. Andere Länder taten ein Gleiches. Und tatsächlich gingen die Inflationsunterschiede zurück, die zwischen Deutschland und Frankreich 1983–1988 von 6,2 Prozent auf 1,6 Prozent. Die Neufestsetzungen der Wechselkurse innerhalb des EWS wurden dementsprechend seltener; 1988–1991 gab es gar keine mehr. Die D-Mark war im EWS ungeplant zu einer „Ankerwährung“ geworden, deren Stabilitätswirkungen die Konstruktion der EWU erheblich erleichtern sollten.
Die Disinflation musste allerdings mit hohen Zinssätzen bezahlt werden, die im Falle Frankreichs z.B. immer deutlich über den deutschen lagen; nur so war der Wechselkurs zur D-Mark zu halten. Politikwechsel, wie der 1982/83 vollzogene, benötigen offenbar lange Zeit, bis sie die Finanzmärkte von ihrer Nachhaltigkeit überzeugen. Die hohen Zinsen belasteten aber Wachstum, Konjunktur und Beschäftigung. Die Wechselkursstabilisierung war daher eine schwer erträgliche Bürde für die Schwachwährungsländer – sofern nicht die Starkwährungsländer durch ausgedehnte Währungsbeistandskredite und Niedrigzinspolitik zu ihr beitrugen; und dazu war die Bundesbank im Interesse einer preisstabilen D-Mark nicht bereit. Diese faktische „Asymmetrie“ in der Verteilung der Anpassungslasten sorgte für eine fortdauernde Labilität des Systems und Unzufriedenheit bei den Schwachwährungsländern. Labil zeigt sich das System, als 1986 ein Dollarkursverfall zu einer rasanten Nachfrage nach D-Mark führte und der Franc von April 1986 bis Januar 1987 in zwei „Realignments“ gegen die D-Mark erneut acht Prozent an Wert verlor. Und eine schwere Währungskrise entstand, als die Bundesbank 1991/92 zur Durchbrechung des durch Wiedervereinigungsboom und expansive Haushaltspolitik entstandenen Preisauftriebs ihren Leitzins bis auf 8,75 Prozent erhöhte: Währungen, die höhere Inflationsraten aufwiesen (wie 1992 Pfund, Lira, Escudo, Peseta) oder zumindest weniger Vertrauen als die D-Mark aufwiesen (wie 1993 der französische Franc), konnten den Wechselkurs zur D-Mark nicht halten; im September 1992 schieden Großbritannien und Italien aus dem Wechselkursmechanismus aus, im Juli 1993 wurden die Bandbreiten, innerhalb deren die Kurse schwanken durften, auf ±15 Prozent ausgeweitet.[11]
Die Wechselkursverschiebungen 1986/87 zeigten Frankreich, dass das deutsche „Währungsdiktat“ nicht zu mildern war, indem man die auf Preisstabilität bedachte Bundesbank um – hinreichende – wechselkursstützende Währungsbeistandskredite und Zinssenkungen anging. Trotz traditionell großer Vorbehalte gegen nationalen Souveränitätsverzicht gewann – langsam – die Überzeugung Oberhand, dass die deutsche Währungshegemonie nur gebrochen werden könne, wenn der Wechselkursmechanismus des EWS durch eine Währungsunion abgelöst würde, in der alle Länder an den geldpolitischen Entscheidungen beteiligt wären.[12] Zusätzlich motiviert wurde die Währungsunion dadurch, dass die Einheitliche Europäische Akte (in Kraft seit dem 1. Januar 1987) nationale geldpolitische Alleingänge im Festkurssystem unmöglich machten; Kapitalverkehrsbeschränkungen gegen Devisenabzug waren nicht mehr erlaubt. So begann – unter Rückgriff auf Überlegungen des Werner-Plans von 1969 – der Einstieg in die dritte Etappe der europäischen Währungsintegration; für Deutschland war dabei (wiederum auch) eine außenpolitische Erwägung wichtig, nämlich Europa im Verhältnis zur Sowjetunion zu stärken. Die gemeinsamen Beratungen über die stufenweise Einführung einer Wirtschafts- und Währungsunion begannen in einer Expertengruppe (das heißt der Zentralbankgouverneure) unter dem EG-Kommissionspräsidenten Delors, die der Europäische Rat am 27./28. Juni 1988 einsetzte und die ihren Bericht (mit einem Drei Stufen-Plan) am 17. April 1989 vorlegte; sie setzten sich fort in einer Reihe von Gipfeltreffen und zwei (im Gouverneursausschuss und im Währungsausschuss der EG vorbereiteten) Regierungskonferenzen auf Ministerebene, und sie gipfelten im Maastricht-Vertrag der Staats- und Regierungschefs am 9./10. Dezember 1991.[13] In den Beratungen trafen die – bekannten – unterschiedlichen Auffassungen vor allem Frankreichs und Deutschlands aufeinander, was die Ausgestaltung der Geldpolitik und die Harmonisierungssequenz der verschiedenen Politikbereiche anging. Der Maastricht-Kompromiss folgte im ersten Regelungsbereich deutschen, in Grundelementen des zweiten dagegen eher „monetaristischen“ Vorstellungen. Inwiefern?
Der Maastricht-Vertrag lehnte die Verfassung der EZB eng an das „Modell Bundesbank“ an: Er setzte der EZB als vorrangiges Ziel die Gewährleistung der Preisstabilität, machte sie unabhängig von Weisungen politischer Stellen, strukturierte sie dezentral, verbot ihr Kredite an öffentliche Haushalte (Artikel 104, 105–109a) und setzte ihre Deviseninterventionen lediglich „allgemeinen Orientierungen“ des Ministerrates aus, die aber die Sicherung der Preisstabilität nicht beeinträchtigen durften; die Unabhängigkeit sollte vor wahltaktisch und konjunkturpolitisch motivierter Einflussnahme der Politik auf die Zinspolitik der Zentralbank, das Verbot monetärer Staatsfinanzierung vor dem direkten, inflationswirksamen staatlichen Zugriff auf die Geldemission schützen. Später erhielt die EZB ein weiteres „deutsches“ Element, als sie die Geldmengenentwicklung zu einer der beiden Orientierungssäulen ihrer geldpolitischen Strategie machte.[14] Darüber hinaus setzte Bundeskanzler Kohl 1993 Frankfurt als Sitz der EZB durch; und 1995 beschloss der EU-Rat auf deutschen Vorschlag, der neuen Währung den Namen „Euro“ und nicht den der inflationären Korbwährung „ECU“ zu geben. Der französischen Regierung widerstrebte die Orientierung am Modell der unpolitischen Bundesbank; sie hätte sich die Kontrolle der EZB durch eine demokratisch gewählte Wirtschaftsregierung und die Ergänzung des Preisstabilitätsziels durch ein gleichgewichtiges Wachstums- und Beschäftigungsziel gewünscht. Aber Deutschland hätte ohne Übertragung des Bundesbankmodells der Währungsunion nicht zugestimmt. Überdies hatte man sich in Europa – nach der Stagflation der 1970er-Jahre – mit der wirtschaftspolitischen Wende ab 1982 vom Glauben an positive realwirtschaftliche Inflationswirkungen zunächst einmal gelöst; und das Bundesbankmodell hatte durch den relativen Stabilitätserfolg der Bundesbank in den Nachkriegsjahrzehnten zumindest in Zentralbankkreisen Überzeugungskraft erworben.
Anders als für die institutionelle Fundierung sorgte der Maastricht-Vertrag nicht im notwendigen Ausmaß für die Rahmenbedingungen einer erfolgreichen gemeinsamen Geldpolitik. Weder etablierte er einen optimalen Währungsraum mit Arbeitsmobilität, Lohnflexibilität und zwischenstaatlichen Finanztransfers. Noch traf er Vorkehrungen für eine politische Union, die z.B. die Deutsche Bundesbank zur Sicherung von Arbeitsmarktflexibilität und Budgetdisziplin damals letztlich für notwendig hielt. Die Vorstellungen waren zu unterschiedlich und unscharf, der notwendige nationale Souveränitätsverzicht wog zu schwer. Vor allem die Schwierigkeit, unionstaugliche Rahmenbedingungen herzustellen, waren es auch, die in Deutschland, besonders in der Bundesbank, immer wieder vor einem zu raschen Start der Währungsunion warnen ließen. Die Beschleunigung des Unionsprozesses 1989/90 war ein Zugeständnis der „ökonomistischen“ deutschen an die französische Seite; sie (wenn auch nicht der – frühere – Beginn dieses Prozesses) war der Preis, den Deutschland für die Zustimmung Frankreichs zur deutschen Einheit zahlte. Und Bundeskanzler Kohl wollte in den gesamten 1990er-Jahren Verzögerungen des Unionsprojekts vermeiden, um sein vorrangiges Ziel, die Aussöhnung und Friedenssicherung in Europa, nicht zu gefährden.
Der Maastricht-Vertrag beließ die Wirtschafts- und Finanzpolitik in der ausdrücklichen Eigenverantwortung der Mitgliedsstaaten. Dabei war in den Beratungen die OWR-Debatte durchaus stets gegenwärtig. Man fand aber zwei andere Problemlösungen. Einerseits, so verbreitet auch in Deutschland, setzte man darauf, dass die Währungsunion das Verhalten der Wirtschaftsakteure ändere: Preistransparenz sorge zwischenstaatlich für Wettbewerb und Anpassung der Arbeitskosten an die Produktivität; und der Verlust der Möglichkeit nationaler Inflationserzeugung, das Verbot der monetären Staatsfinanzierung und der gegenseitige Haftungsausschluss (Artikel 104b) stabilisiere die Staatsfinanzen, sodass ausländische Finanzhilfen nicht benötigt würden. Andererseits erlegte der Vertrag den Staaten auf, zum (unwiderruflich auf den 1. Januar 1999 festgelegten) Eintritt in die dritte Stufe der EWU niedrige Inflationsraten, Zinsen, Wechselkursschwankungen, Haushaltsdefizite (maximal drei Prozent des BIP) und Schuldenstände (maximal 60 Prozent des BIP) nachzuweisen. Diese „Konvergenzkriterien“ (Artikel 104c, 109j) sollten das Fehlen der politischen Union ausgleichen und die Währungsunion möglichst nahe an einen optimalen Währungsraum heranbringen: die Verschuldungsgrenzen sollten den Staaten ein Motiv nehmen, die EZB zu einer inflationären Geldpolitik zu drängen, und einen zwischenstaatlichen Finanztransfer von vornherein unnötig machen; die anderen Kriterien sollten die wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit der Staaten dokumentieren.
Diese Konvergenzsicherung war jedoch lückenhaft. Die Kriterien mussten nur vor(!) Eintritt in die dritte Stufe erfüllt sein. Ihre Erfüllung, welche der EU-Rat am 2. Mai 1998 (nicht ganz konsequent) für elf EU-Staaten feststellte (außerdem für Großbritannien und Dänemark, die aber die ihnen im Vertrag eingeräumte Möglichkeit der Nichtteilnahme am Eurosystem nutzten), wurde durch besondere Umstände begünstigt: steigende Dollarkurse und sinkende Ölpreise, außergewöhnliche Anstrengungen (auch Einmalmaßnahmen) zur Beitrittserreichung und Vorabrückgang der Zinsen (und damit des staatlichen Schuldendienstes) in Erwartung der Währungsunion.[15] Nur für einen Bereich, den der Verschuldungsgrenzen, wurden (auf deutsches Drängen) die Konvergenzkriterien für die Zeit nach Eintritt fortgeschrieben: im 1997 (17. Juni) vom EU-Rat beschlossenen Stabilitäts- und Wachstumspakt (SWP). Der SWP ließ zwar den Ruf nach einer politischen Union zum guten Teil verstummen (eine wichtige offene Flanke der Währungsunion schien nun geschlossen); aber seine Sanktionsmöglichkeiten waren unzureichend (Sünder richteten über Sünder), und nach mehrjähriger Übertretung durch Deutschland und Frankreich wurde er 2005 weiter gelockert. Eine im Jahre 2000 zur Hebung der Wettbewerbsfähigkeit der Mitgliedsländer beschlossene Initiative (Lissabon-Agenda) verpuffte ohne Wirkung. Und schließlich spielte die (nicht zu den OWR-Bedingungen zählende!) Stabilität des Bankensystems, welche die Zentralbank zur Übertragung ihrer geldpolitischen Impulse benötigt, in den Maastricht-Planungen nur eine ganz untergeordnete Rolle; die Übertragung bankaufsichtlicher Aufgaben auf die EZB erschien im Vertrag nur als Möglichkeit, in Anlehnung an traditionelles Bundesbank-Denken befürchtete man davon einen Konflikt mit der Verfolgung des Preisstabilitätsziels.[16]
Wie hat sich die EWU bisher bewährt? Die Bilanz ist gemischt. Das Eurosystem war in mehrfacher Hinsicht erfolgreich: Das vorrangige Ziel, die Preise stabil zu halten, wurde erreicht; die Zielgröße, eine mittelfristige Inflationsrate von unter zwei Prozent (ab Mai 2003 unter, aber nahe zwei Prozent) wurde im Jahresdurchschnitt nur geringfügig verfehlt. Die Reputation des Euro zeigt sich unter anderem darin, dass 27 Prozent der Weltwährungsreserven in Euro gehalten werden; nur der Dollar hat einen (allerdings weit) größeren Anteil. Auch hat der Handel zwischen den Ländern des Euroraums nach dem Wegfall der Wechselkurse noch einmal zugelegt. Dieser handelsfördernde Einfluss des Euro wird auch nicht dadurch widerlegt, dass z.B. der Anteil des Euroraums an den deutschen Exporten 1999 bis 2011 von 46 auf knapp 40 Prozent zurück ging; der deutsche Export profitierte von der explodierenden Nachfrage der außereuropäische Wachstumsregionen, wobei ihm auch hier der Euro mit seinen moderaten Wechselkursschwankungen half.[17]
Es trat jedoch ein Problem auf, das die EZB einer ernsten Belastungsprobe aussetzte und die Unvollkommenheiten der 1991/97 festgelegten Rahmenbedingungen offenlegte. Die Wirtschaftsleistung der Eurostaaten entwickelte sich in den ersten zehn Jahren entgegen den „monetaristischen“ Erwartungen eher (weiter) auseinander als dass sie „konvergierte“. Die Divergenz war das Ergebnis zweier unterschiedlicher Nutzungsvarianten des Handlungsspielraums, den die Währungsunion bot. Als Exponent der einen Seite kann Deutschland gelten. Auf eine ausgesprochene Wachstums-, Investitions- und Beschäftigungsschwäche in den ersten Jahren nach der Euroeinführung reagierte Deutschland schließlich mit einer Politik der Lohnzurückhaltung und Arbeitsmarktflexibilisierung (Agenda 2010). Mit der – eurogetriebenen – Wiederherstellung der Wettbewerbsfähigkeit nahmen Leistungsbilanzüberschüsse, Wachstum und Beschäftigung ab 2006 wieder Fahrt auf; das war ein Anpassungsvorgang entsprechend den Spielregeln des optimalen Währungsraums.
Im Gegensatz dazu wiesen Griechenland, Italien, Spanien, Portugal und Irland permanent (ab 2005 auch Frankreich) – zum Teil hohe – Leistungsbilanzdefizite auf: Diese Länder hatten mit der Euroeinführung billigen Kredit erhalten – billig, weil Wechselkurs- und Inflationsrisiko nun entfielen und der gegenseitige Haftungsausschluss offenbar nicht ernst genommen wurde. Dieser Kredit ging allerdings nicht in den Aufbau wettbewerbsfähiger Produktionsstrukturen, sondern in den privaten und staatlichen Konsum und (im Falle Spaniens und Irlands) in den Immobiliensektor; außerdem eilten die Löhne der Produktivitätsentwicklung voraus, sodass die Lohnstückkosten – anders als in Deutschland – deutlich anstiegen. Parallel zum Leistungsbilanzdefizit – und zum Teil als dessen Verursacher (im Jahre 2008 waren in einigen Ländern mehr als die Hälfte der Staatsanleihen im Auslandsbesitz) – blieb die Staatsverschuldung jenseits der vom SWP gesetzten Grenzen oder stieg über diese hinaus an. Sie hatte ihre Ursachen in staatlicher Ineffizienz und Wachstumsschwäche, in Spanien und Irland in den Aufwendungen zur Bankenrettung im Gefolge von (den USA herüberschwappender) Finanzkrise und geplatzter Immobilienblase ab 2007. Leistungsbilanz- und Haushaltsdefizite erschütterten das Vertrauen der Anleger. Der Kreditstrom in die Peripherieländer versiegte. Ab 2007 wurden die Leistungsbilanzdefizite zunehmend durch die EZB (statt über den Kapitalmarkt) finanziert; daraus entstanden dort die sogenannten Target-Salden. Die Renditen auf zehnjährige Staatsanleihen stiegen ab 2008 wieder drastisch an, in Italien und Spanien 2011/12 zeitweise über sieben Prozent, in Irland, Portugal und Griechenland weit darüber. Die hohen Schuldenstände schienen bei dieser Verzinsung nicht mehr finanzierbar. Ab 2009 sprach man daher von einer Staatschuldenkrise. Gleichzeitig minderte der Wertverlust der Staatsanleihen in den Bankbilanzen die Kreditfähigkeit und die Stabilität des Finanzsystems. Leistungsbilanz-, Staatsschulden- und Finanzkrise gefährdeten den Zusammenhalt des Eurosystems.[18]
Die zur Bewältigung der Krise ergriffenen Maßnahmen zeigen einmal, wie wenig die Kernfrage der 1970er- und 1980er-Jahre, wer die Anpassungslasten zu tragen habe, mit der Einführung der gemeinsamen Währung erledigt war, und zum anderen, wie löchrig die 1991/97 gelegten Fundamente der Währungsunion waren. Die Maßnahmen sind ein Kompromiss zwischen den Wünschen der Defizit- und der Überschussländer, zwischen Finanztransfers und wirtschaftspolitischen Reformen. Die Eurostaaten gewähr(t)en über die Europäische Finanzstabilitätsfazilität (EFSF; errichtet am 7. Juni 2010) und den diese ablösenden Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM; in Kraft getreten am 27. September 2012) nachsuchenden Krisenstaaten umfangreiche Kredite und Bürgschaften; im Gegenzug müssen sich diese „Programmländer“ (bisher Griechenland, Portugal, Irland, Zypern) zu Sparmaßnahmen und Strukturreformen verpflichten. Zur Förderung der Haushaltsdisziplin wurden der SWP gestärkt und schließlich ein Fiskalpakt geschlossen (in Kraft getreten am 1. Januar 2013), der feste „Schuldenbremsen“ im jeweils nationalen Recht verankern soll, allerdings ohne Durchgriffsrechte der Staatengemeinschaft bei deren Nichtbeachtung. Die (reaktionsschnelle) EZB führte den Banken – unter Absenkung der geforderten Sicherheiten – üppig Liquidität zu und kaufte ab Mai 2010 auch Staatsanleihen einzelner Krisenstaaten an. Schließlich entsteht seit 2013 zur Stabilisierung des Finanzsystems eine Europäische Bankenunion mit einer bei der EZB angesiedelten zentralen Bankenaufsicht, einer gemeinsamen Einlagensicherung und einem Abwicklungsmechanismus für insolvente Banken, in dem die Gemeinschaft nur an letzter Stelle Haftungsanteile übernimmt.
Tatsächlich hat die Mischung aus Finanzhilfen und Reformauflagen bis zur Stunde in Ansätzen in die gewünschte Richtung gewirkt. Die Renditen auf Staatsanleihen gingen im Laufe des Jahres 2012 – die Schuldenfinanzierung erleichternd – zurück. Und in den unter Auflagendruck stehenden Programmländern stieg die Wettbewerbsfähigkeit; Lohnstückkosten und Leistungsbilanzdefizite gingen wohl auch strukturell, nicht nur konjunkturell bedingt zurück.[19] Aber die Spar- und Reformmaßnahmen hatten auch – konfliktträchtig, wenn auch kurzfristig unvermeidlich – einen Rückgang des Sozialprodukts und eine (weiter) steigende Staatsverschuldung und Arbeitslosigkeit zur Folge. Und was das institutionelle Fundament betrifft: Die EFSF/ESM-Kredite und –Bürgschaften bedeuteten, auch wenn noch keine „Eurobonds“ (welche alle Staatsschulden auf einem durchschnittlichen Zinsniveau vergemeinschaften würden) eingeführt wurden, eine Durchbrechung des in Maastricht verabschiedeten Haftungsausschlusses; und die EZB setzte sich mit dem Ankauf von Staatsanleihen (wenn dessen bisheriges Volumen auch geldpolitisch beherrschbar war) über das Verbot monetärer Staatsfinanzierung hinweg.
Inwieweit erfassen die anfangs vorgestellten theoretischen Konzepte Funktionsbedingungen und Entwicklung der europäischen Währungsintegration? Fügt man für die gegenwärtige Krise Vorkehrungen zur Stabilisierung des Finanzsystems hinzu, so lassen sich die Krisen in EWV, EWS und (ab 2009) Eurosystem gut daraus erklären, dass die von OWR-Theorie und Ökonomismus geforderten Rahmenbedingungen nicht im notwendigen Umfang vorlagen.[20] Wirtschaft und Wirtschaftspolitik der Teilnehmerländer konvergierten eben nicht, wie Monetarismus und Neofunktionalismus (und eine neuere, nämlich die endogen/exogene Version der OWR-Theorie) annehmen, automatisch Sachzwängen folgend, die sich aus institutionellen Festlegungen bzw. der Handelsintegration ergaben. Und wenn sich solche Konvergenzen doch entwickel(te)n, dann bleibt offen, unter welchen Umständen und in welcher Richtung. Hier liegen die Stärken des Intergouvernementalismus, für den die nationalstaatlichen Interessen den Integrationsfortgang maßgeblich bestimmen; als supranationale Organisation spielte die EU-Kommission dabei eher „nur“ eine koordinierende Rolle, erst die politisch unabhängige EZB setzte auch inhaltlich eigene Vorstellungen durch. Der Intergouvernementalismus hat jedoch Erklärungskraft nur in seiner realistischen Variante, die auch den – in den anderen Theorien vernachlässigten – politischen Motiven Einfluss einräumt: Für Frankreich z.B. war die Überwindung der deutschen geldpolitischen und wirtschaftlichen Dominanz ein zentraler Gesichtspunkt bei allen Integrationsinitiativen; für die deutschen Bundeskanzler Brandt, Schmidt, Kohl und Merkel (wenn der Euro fällt, fällt Europa) war der Aufbau Europas für sich genommen verschiedentlich ein Beweggrund, ökonomische Schwachstellen des Währungsarrangements zu akzeptieren.
Wie soll – nach den bisherigen Erfahrungen – die europäische Währungsintegration ausgestaltet werden und unter welchen Umständen kann sie voranschreiten? Diese Fragen werden weder durch das augenblickliche Arrangement noch durch die genannten Konzepte hinreichend beantwortet, beherrschen aber die höchst kontroverse öffentliche, politische und wissenschaftliche Debatte im Grunde seit den 1960er-Jahren. Die Ausgangsfrage in den letzten zwei Jahrzehnten lautet: Sollen die Teilnehmerländer, indem sie ihre Konsumansprüche nach ihrer Produktionsleistung (z.B. die Lohn- nach der Produktivitätsentwicklung) ausrichten, mittelfristig für stabile Beschäftigung, Leistungsbilanzen und Haushalte sorgen? Oder sollen Verletzungen dieses Prinzips permanent geduldet und durch finanzielle Transferleistungen (im EWV/EWS waren das Devisenkredite) von außen ausgeglichen werden (die OWR-Theorie lässt beide Optionen zu)? Und: Soll die EZB beim Vorrang für Preisstabilität bleiben oder amerikanischem Beispiel folgend – gegebenenfalls inflationsträchtig – auch kurzfristige Wachstums- und Beschäftigungsziele verfolgen und außerdem eventuell, dazu demokratisch nicht legitimiert, fiskalische Umverteilungsaufgaben wahrnehmen? Deutschland hat die vorrangige Betonung der jeweils ersten Position der permanente Vorwurf mangelnder europäischer Solidarität eingetragen. Diese Position beruht aber eher auf einem Grundsatz mit durchaus übernationaler Gültigkeit, nämlich dem der Solidität; es ist schwer vorstellbar, dass ein Einvernehmen auf Dauer ohne überwiegende Verfolgung des Leistungsgerechtigkeits- und Preisstabilitätsziels erreicht werden kann. Auf der anderen Seite kennt die Geschichte keine stabilen Währungsunionen (auch nicht die oft als Gegenbeispiel zitierten USA), die nicht in der einen oder anderen Form finanzielle Ausgleichsmechanismen zur Überwindung zeitweiser regionaler Schwächeperioden besessen hätten.
Die gegenwärtige Krise hat die Frage wieder aktuell werden lassen, ob zur Herstellung einer solchen Ordnung eine politische Union notwendig ist; die Geschichte kennt bisher keine stabile Währungsunion ohne politische Union. In Deutschland war die politische Union als Forderung in den späteren 1990er-Jahren zurückgetreten, als man sich klar machte, dass sie nicht zwangsläufig eine Verkörperung liberaler Ordnungspolitik und solider Staatsfinanzen sein würde, sondern eine Transferunion zur ständigen Kompensation beträchtlicher Leistungsdifferenzen (und zur Kontrolle der bislang unabhängigen EZB) werden könne. Aber die Euro-Länder haben in der Eigenverantwortung, in welcher der Maastricht-Vertrag ihre Wirtschafts- und Finanzpolitik beließ, die schwere Systemkrise ab 2009 nicht verhindert. So ist auch in Deutschland die politische Union wieder in den Zielekanon der Europapolitik gerückt – z.B. mit einer nun demokratisch legitimierten Vergemeinschaftung der Staatsschulden, aber mit scharfen Durchgriffsrechten in die jeweilige nationale Wirtschafts- und Finanzpolitik.
Kann das notwendige dauerhafte Einvernehmen über die Rahmenbedingungen der Währungsunion (aber auch über die Ausgestaltung der EZB-Politik), mit oder ohne politische Union, nach den bisherigen Erfahrungen zustande kommen? Für den Zusammenhalt der Währungsunion ist wichtig, dass die Teilnehmerländer Ähnlichkeit zwar nicht unbedingt in der Wirtschaftskraft, aber doch im Anspruchsverhalten der Akteure aufweisen. Viele Stimmen in Wissenschaft und Öffentlichkeit halten es für unmöglich, dass solche Ähnlichkeiten unter den augenblicklichen Euro-Ländern erzeugt werden können; die gewachsenen nationalen Lebensformen und wirtschaftlichen Präferenzen seien zu unterschiedlich. Dem steht neben allgemeinen Einsichten in die Wandelbarkeit von Einstellungen und Verhaltensweisen die Beobachtung entgegen, dass sich im Laufe der europäischen Währungsintegration das wirtschaftspolitische Verhalten etwa der Defizitländer durchaus, wenn auch nur langsam und partiell, geändert hat. Dies allerdings nur, wie beschrieben, unter besonderem – meist krisenbedingtem – Druck, so 1982ff. zur Vermeidung der misslichen Abwertungen, 1995ff. zum Erreichen der Maastricht-Kriterien und 2009ff. zur Krisenbewältigung im Eurosystem; die Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit mancher Defizitstaaten in den letzten Jahren ist eine Leistung der viel kritisierten „Konditionalität“, mit der die Gemeinschaft ihre Finanzhilfen versah. Die Gläubigerländer hat die Krise bewogen, gegen den Maastricht-Grundsatz des Haftungsausschlusses die Risiken aus den Finanzhilfen für ihre Steuerzahler zu akzeptieren. Wachsende Neigung zu weiterer Schuldenentlastung der Defizitländer ist zu erwarten; für Deutschland könnte dabei die Erinnerung an das Londoner Schuldenabkommen von 1952 hilfreich sein, das die deutschen Auslandschulden der Vor- und Nachkriegszeit halbierte und im Verbund unter anderem mit einer disziplinierten Haushalts- und Tarifpolitik zum wirtschaftlichen Wiederaufschwung beitrug.
Der Zusammenhalt des Eurosystems gewinnt mit der mangelnden Attraktivität der Alternativen. So wäre z.B. die viel empfohlene Rückkehr zum stufenflexiblen EWS-System nur eine Rückkehr in die zur EWU führenden Konfliktlagen; und ein Ausstieg der Defizitländer unterläge unter anderem der Illusion, als ließe sich nachhaltige Wettbewerbsfähigkeit ausschließlich durch kurzfristig wirksame Abwertungen, ohne harte Strukturreformen, erzielen. Der Zusammenhalt hängt aber ganz wesentlich von der Änderung der wirtschaftspolitischen Präferenzen, nicht nur, aber vor allem der augenblicklichen Defizitländer, ab. Die Krise bietet die außergewöhnliche Chance, hier ein festeres Fundament zu legen.
[1] Essay zur Quelle: Die Errichtung der Wirtschafts- und Währungsunion. Auszüge aus dem Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft – Maastrichter Fassung (7. Februar 1992).
[2] Auszüge aus dem Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft – Maastrichter Fassung (7. Februar 1992), in: Khan, Daniel – Erasmus (Hg), Vertrag über die Europäische Union mit sämtlichen Protokollen und Erklärungen. Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft (EG-Vertrag) in den Fassungen von Maastricht und Amsterdam. Textausgabe. 4. aktualisierte und erweiterte Auflage, Stand: Januar 1998, München 1998, S. 68–70, 106–110, 112, 114, 117–120.
[3] In der ersten Stufe (1. Juli 1990) war der Kapitalverkehr in der EG vollständig liberalisiert worden, in der am 1. Januar 1994 beginnenden zweiten Stufe hatte ein Europäisches Währungsinstitut technisch-organisatorische Vorbereitungen für die Endstufe getroffen.
[4] Vgl. Staatsschuldenkrise im Euroraum, in: Wikipedia, URL: <http://de.wikipedia.org/wiki/Staatsschuldenkrise_im_Euroraum>, S.13f. (27.09.2013).
[5] Ein jüngerer Überblick über die Theorie des optimalen Währungsraums ist: Mongelli, Francesco Paolo, European Economic and Monetary Integration, and the Optimum Currency Area Theory (European Economy, Economic Papers 302), Brüssel 2008.
[6] Eine Einführung in die politikwissenschaftlichen Integrationstheorien geben z.B.: Bieling, Hans-Jürgen; Lerch, Marika (Hgg.), Theorien der europäischen Integration, Wiesbaden 32012 (dort vor allem die Beiträge über Neo-Funktionalismus, Supranationalismus und Liberalen Intergouvernementalismus); Rittberger, Berthold; Schimmelfing, Frank, Integrationstheorien. Entstehung und Entwicklung der EU, in: Holzinger, Katharina et al. (Hgg), Die Europäische Union. Theorien und Analysekonzepte, Paderborn 2005, S. 19–80; Polster, Werner, Europäische Währungsintegration. Von der Zahlungsunion zur Währungsunion, Marburg 2002, vor allem S. 444–464.
[7] Vgl. dazu: ebd., S. 95–132.
[8] Zu Motiven, Beratungen und Folgen des Werner-Plans vgl. Hoffmeyer, Erik, Decisionmaking for Economic and Monetary Union (Occasional Papers/Group of Thirty, 62), Washington 2000, S. 8–27; Polster, Währungsintegration, S. 296–313, 327–334, 401–409; Tietmeyer, Hans, Herausforderung Euro: Wie es zum Euro kam und was er für Deutschlands Zukunft bedeutet, München 2005, Kapitel 4 und 5; Marsh, David, Der Euro. Die geheime Geschichte der neuen Weltwährung, Hamburg 2009, S. 82–85, 105–107; James, Harold, Making the European Monetary Union. The Role of the Committee of Central Bank Governors and the Origins of the European Central Bank, Cambridge. 2012, S. 63–96.
[9] Zur Schlange vgl. etwa Bernholz, Peter, Die Bundesbank und die Währungsintegration in Europa, in: Deutsche Bundesbank (Hg.), Fünfzig Jahre Deutsche Mark. Notenbank und Währung in Deutschland seit 1948, München 1998, S. 773–833, hier S. 793–797; Marsh, Euro, S. 125–129; James, Making, S. 143–145.
[10] Für Schmidt war diese Einbindung ein unerlässlicher Pfeiler der deutschen Außenpolitik: als Rückendeckung für die Ost- und Berlinpolitik, und um die Erinnerung an Auschwitz in den Hintergrund treten zu lassen. Vgl. die Ausführungen Schmidts im Zentralbankrat der Deutschen Bundesbank am 30. November 1978, Historisches Archiv der Deutschen Bundesbank N2/269; auch im Auszug abgedruckt in: Marsh, Euro, S.68f.
[11] Zum EWS vgl. – ausführlich (und zum Teil auf früherem Schrifttum aufbauend), aber mit Unterschieden in Schwerpunktsetzung und Beurteilung – Bernholz, Bundesbank, S.797–815; Hoffmeyer, Decisionmaking, S.43–64; Tietmeyer, Herausforderung, S.66–109, 173–196; Marsh, Euro, S.130–175, 195–241; James, Making, S. 146–210, 324–381.
[12] Exemplarisch das Urteil des französischen Premierministers Beregovoy über die Zinserhöhung der Deutschen Bundesbank am 17. Juli 1992 (auf 8,75 Prozent), die zur nachfolgenden Währungskrise mit beitrug: „Gäbe es schon eine gemeinsame Zentralbank für die zwölf Länder der Gemeinschaft, wäre eine Entscheidung, wie sie die Bundesbank gerade getroffen hat, nicht möglich.“ Zitiert nach Marsh, Euro, S. 213.
[13] Die Beratungen im Vor- und Umfeld des Maastricht-Vertrages sind – wiederum mit Unterschieden in Gewichtung und Urteil – ausführlich dargestellt in: Köhler, Horst; Kees, Andreas, Die Verhandlungen zur Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion, in: Waigel, Theo, Unsere Zukunft heißt Europa. Der Weg zur Wirtschafts- und Währungsunion, Düsseldorf 1996, S. 145–174; Polster, Währungsunion, S. 334–401; Hoffmeyer, Decisionmaking, S. 65–101; Tietmeyer, Herausforderung, S. 116–171; Marsh, Euro, S. 175–211; James, Making, S. 210–323.
[14] Zu den Elementen des Bundesbankmodells vgl. zuletzt: Lindenlaub, Dieter, Die Errichtung der Bank deutscher Länder und die Währungsreform von 1948. Die Begründung einer stabilitätsorientierten Geldpolitik, in: ders.; Burhop, Carsten; Scholtyseck, Joachim (Hgg.), Schlüsselereignisse der deutschen Bankengeschichte, Stuttgart 2013, S. 297–319. Zur Entwicklung von Strategie und Instrumentarium der EZB-Geldpolitik vgl. Issing, Otmar, Der Euro. Geburt–Erfolg–Zukunft, München 2008.
[15] Zum Konvergenzprozess vgl. etwa Issing, Euro, S. 10–17; Marsh, Euro, S. 250–262; Sinn, Hans-Werner, Die Target-Falle. Gefahren für unser Geld und unsere Kinder, München 2012, S. 75–103.
[16] Vgl. Marsh, Euro, S.18–20, 313–317, 393–396.
[17] Vgl. Euro im Faktenscheck, in: Wirtschaftswoche (2012) H. 22, S. 20–27.
[18] Datenreihen zu den verschiedenen ökonomischen Größen bis zum aktuellen Rand bei Eurostat, Statistik nach Themen, URL: <http://epp.eurostat.ec.europa.eu/portal/page/portal/eurostat/home/> (27.09.2013).
[19] Vgl. Zum Abbau der Leistungsbilanzdefizite in den Peripherieländern des Euro-Raums, in: Deutsche Bundesbank, Monatsbericht November 2012, S. 22–27; Stand der Anpassungen in den Ländern des Euro – Währungsgebietes, in: EZB, Monatsbericht Mai 2013, S. 93–111.
[20] Vgl. auch Eichengreen, Barry, European Monetary Integration with Benefit of Hindsight, in: Journal of Common Market Studies 50 (2012) H. S1, S. 123–136.
Literaturhinweise
Hoffmeyer, Erik, Decisionmaking for European Economic and Monetary Union (Occasional Papers/Group of Thirty, 62), Washington 2000.
James, Harold, Making the European Monetary Union. The Role of the Committee of Central Bank Governors and the Origins of the European Central Bank, Cambridge 2012.
Marsh, David, Der Euro. Die geheime Geschichte der neuen Weltwährung, Hamburg 2009.
Sinn, Hans Werner, Die Target-Falle. Gefahren für unser Geld und unsere Kinder, München 2012.
Tietmeyer, Hans, Herausforderung Euro: Wie es zum Euro kam und was er für Deutschlands Zukunft bedeutet, München 2005.