Oper, Politik und nationale Bewegung. Mythen um das Werk Giuseppe Verdis[1]
Von Axel Körner
Die Geschichte der italienischen Oper ist voll wunderbarer Anekdoten, denen wir häufig mit wohlwollender Sympathie begegnen, die wir teilweise belächeln, denen wir jedoch auch allzu leicht Glauben schenken. Der folgende Beitrag beschäftigt sich mit der Beziehung zwischen Kunst und Politik, speziell der politischen Konnotierung von Oper im 19. Jahrhundert und der Inanspruchnahme Giuseppe Verdis als „Barde der italienischen Nationalbewegung“, ein Bild, das die Rezeption seiner Musik auch heute noch prägt.
Aufgrund der engen Verbindung zwischen aufsteigendem Bürgertum, nationalen Bewegungen und dem Kulturanspruch der entstehenden Nationalstaaten untersuchen Historiker das Musiktheater des 19. Jahrhunderts häufig in Hinsicht auf seine Funktion bei der Herausbildung national konstituierter Gesellschaften und nationaler Identitäten.[2] Dabei war Oper jedoch vor allem seit dem 18. Jahrhundert immer eine internationale Kunstform, die Opernindustrie ein internationales Geschäft. So machte der aus Halle stammende Händel in London mit italienischer Oper und dann mit englischen Oratorien Karriere. Mozarts Opern überlebten auf deutschen Bühnen den Tod des Komponisten dank einer in Prag ansässigen italienischen Operntruppe.[3] Der italienische romantismo entstand durch Auseinandersetzung mit englischer und schottischer Literatur.[4] Die so französische Gattung der grand opéra war ganz entscheidend vom preußischen Hofkomponisten Giacomo Meyerbeer bestimmt, prägte aber auch Giuseppe Verdi und Richard Wagner. Selbst transatlantische Ereignisse wie der amerikanische Unabhängigkeitskrieg hatten starke Auswirkungen auf die inhaltliche Entwicklung der europäischen Oper, während ein Roman wie Onkel Toms Hütte den Stoff für das vielleicht bedeutendste Ballett in der Geschichte des italienischen Tanztheaters lieferte.[5]
Trotz dieser transnationalen Bedeutung des Musiktheaters besteht kein Zweifel, dass der Musik des 19. Jahrhunderts, vor allem der des nach-klassischen Zeitalters und dabei ganz besonders der Oper, auch eine große Bedeutung im Prozess der Nationswerdung und der Definition bürgerlicher Nationalkultur zukommt. Was dabei jedoch gelegentlich übersehen wird, ist nicht nur die internationale Dimension der bürgerlichen Musikkultur des 19. Jahrhunderts sondern auch die Tatsache, dass Musik nicht unbedingt von sich aus Nationalkultur war. Vielmehr bedurfte es in der Regel komplizierter Konstruktionsprozesse, um Musik und Musiktheater im Sinne nationaler Ideologie oder der Politik bestehender Nationalstaaten zu deuten. Manchmal sind es die Schöpfer der Musik selbst, die diese national deuten, manchmal das politische und intellektuelle Umfeld der Rezipienten und Kommentatoren. Zahlreiche (vor allem der Romantik und Spätromantik zugeordnete) Komponisten haben sich explizit darum bemüht, nationale Idiome zu entwickeln, häufig durch Bezugnahme auf volkstümliche Traditionen, die wiederum selbst das Produkt kultureller Invention waren. Doch entsprach es durchaus nicht immer den ursprünglichen Intentionen der Komponisten, dass ihre Musik national verstanden wurde; gelegentlich kamen sie erst im Laufe späterer Ereignisse auf entsprechende Ideen. Und was dann eindeutig national konnotiert scheint, klang seinerzeit noch ganz anders. Zur semantischen Entschlüsselung bedürfen wir daher sorgfältig ausgesuchter Quellen der zeitgenössischen Rezeption. Im Folgenden geht es um ein solches Beispiel, in dem Musik erst später, im Rückblick auf den Verlauf politischer Ereignisse, gewissermaßen in teleologischer Perspektive, als Beitrag zur Nationswerdung interpretiert wurde. Jede Prozessgeschichte, auch die Musik betreffend, birgt die Gefahr, historische Entwicklungen auf spätere Ergebnisse hin zu deuten. In der Geschichte des 19. Jahrhunderts wird Kultur daher leicht national verklärt. Gerade darum ist es für Geschichtswissenschaft und historische Musikwissenschaft wichtig, solche Konstruktionsprozesse zu hinterfragen, Quellen der Rezeption genau zu erforschen und sich nicht im Netz romantischer Mythen zu verstricken. Der übereilige Rückgriff auf überlieferte Anekdoten und populärwissenschaftliche Darstellungen der Musikgeschichte kann dazu leicht verleiten.
Verdi ist ein klassisches Beispiel für die Projektion national-ideologischer Entwicklungen und patriotischen Engagements auf die Werke des Komponisten. Verdi und das Risorgimento werden gemeinhin in einem Zug genannt, ohne viel Zeit auf die Quellenkritik zu verschwenden. Andere, in gewisser Hinsicht viel interessantere Dimensionen seines großartigen Werks verschwinden zuweilen vor diesem recht einfältigen Deutungshintergrund. Während für die Zeit um die Revolution von 1848 recht klare Bezugnahmen des Komponisten auf die politischen Ereignisse Italiens vorliegen, betrifft die national-romantische Verklärung vor allem dessen frühere Opern, mit Hilfe derer die nationale Idee in eine Zeit projiziert wird, als Verdi zum Risorgimento kaum Bezug hatte und die nationale Bewegung in Italien auch nur eine recht untergeordnete Rolle spielte. Gelegentlich wird sein gesamtes Leben in der Perspektive späterer politischer Ereignisse und Entwicklungen, vor allem der Einigung Italiens, gedeutet.
Insbesondere Verdis Oper Nabucco, im März 1842 in Mailand uraufgeführt, wird häufig als Beispiel für die patriotischen Überzeugungen des Komponisten gedeutet. Dabei wird die Rezeption der Uraufführung durch das Mailänder Publikum, vor allem die angebliche Reaktion auf den berühmten Va pensiero-Chor der von den Babyloniern versklavten und an den Ufern des Euphrats singenden Hebräer, als Schlüsselereignis der italienischen Nationalbewegung rekonstruiert. Vom Heimweh der Hebräer durch Verdis Chor zu Tränen gerührt, wird sich das Opernpublikum (und damit die Nation) ihres eigenen Schicksals bewusst: so oder so ähnlich geht die unzählige Male wiedererzählte Geschichte (Quelle 1). Im Chor der versklavten Hebräer aus dem dritten Akt der Oper ist tatsächlich vom süßen Boden der Heimat und der Erinnerung an das Vaterland, so schön und doch verloren, die Rede (Quelle 2). Doch was moderne Historiker und Historikerinnen leicht als Bezugnahme auf die damalige politische Situation Italiens und Zeichen nationaler Erregung deuten mögen, war für das Publikum der Uraufführung lediglich eine vertraute Geschichte aus dem alten Testament mit Bezug auf Psalm 137. Auch für Verdi selbst und seinen Librettisten Themistokles Solera klang das nicht nach einer Bezugnahme auf die derzeitige Situation Italiens. Zumindest gibt es in den Quellen aus den 1840er-Jahren keinerlei Hinweise darauf, dass Verdi seine Oper als Beitrag zur Nationalbewegung konzipiert hatte, oder dass sein Publikum das Werk entsprechend deutete. Die Legende, dass das Publikum der Mailänder Uraufführung spontan eine Wiederholung des Va pensiero-Chors eingefordert habe – ein Ritus der auch heute in vielen italienischen Opernhäusern anlässlich der Aufführung von Nabucco praktiziert wird – hat sich als Geschichtsklitterung herausgestellt: ein als Beweis zitierter Zeitungsausschnitt bezog sich auf einen ganz anderen Chor.[6] Trotzdem wirkt der Mythos des Va pensiero als nationales Erweckungserlebnis der Italiener oder gar Ursprung der revolutionären Bewegung bis heute nach und rührt patriotisch gesinnte Italiener zu Tränen. Verdi übrigens widmete die Oper einer Prinzessin des Hauses Habsburg, was wohl für eine anti-österreichische Nationaloper kaum angemessen wäre. Das Mailänder Teatro alla Scala wurde derzeit in einer Art joint-venture mit dem kaiserlichen Opernhaus in Wien betrieben. Falls die Uraufführung tatsächlich revolutionäre und nationale Gefühle erregt hätte, wäre die Oper wohl kaum zur Eröffnung der Herbstsaison wiederum auf den Spielplan gelangt; gleichfalls hätten die Behörden die Aufführungen im habsburgischen Venedig, in Wien und in zahlreichen anderen Theatern der Habsburger Monarchie und des Kirchenstaates nicht gestattet. Auch in Folge der kommenden Ereignisse änderte sich nichts an der politischen Harmlosigkeit Nabuccos: zur Zeit der Reaktion, nach der gescheiterten Revolution von 1848, stand die Operdirekt wieder auf den Spielplänen. Tatsächlich wurde der Mythos um Nabucco erst viel später, in den 1880er-Jahren, lange nach Vollendung der italienischen Einigung erfunden – und der Va pensiero Chor wurde zu einer inoffiziellen Nationalhymne. Verdi selbst wirkte daran mit. Seit 1848, und noch deutlicher um die Zeit des Zweiten Befreiungskriegs im Jahre 1859, identifizierte er sich mit der nationalen Bewegung und ließ sich sogar verschiedene politische Ämter antragen.
Doch geht es hier nur indirekt um Verdis musikalische Intentionen oder seine Einstellung zur nationalen Bewegung. Von Interesse ist vielmehr, inwiefern seine Musik, und hier besonders die frühen Opern, einen Beitrag zum Nationalgefühl der Italiener geleistet hat, wie es der Mythos um den Barden des Risorgimento noch immer propagiert. Wurde Nabucco zur Zeit der Uraufführung und in den folgenden Jahren vom Publikum oder den Kritikern entsprechend rezipiert? Dazu gibt es in Quellen und Archiven keinerlei Hinweise. Die überlieferten Zeitungsnotizen zur Frühgeschichte der Oper schweigen sich diesbezüglich aus. Obwohl die Oper sehr erfolgreich war, wird insbesondere der Va pensiero-Chor nur selten erwähnt. Zwar wäre es durchaus denkbar, dass die Zensur Berichte über nationale Ausbrüche der Mailänder anlässlich des Nabucco unmöglich machte, doch auch die in der Stadt immer zahlreichen Ausländer schweigen sich diesbezüglich aus; und als die Oper kurze Zeit später im liberalen London aufgeführt wurde, wo viele italienische Patrioten (darunter der Musikenthusiast Mazzini) im Exil lebten und die italienische Nationalbewegung mit großer Sympathie und diplomatischem Eigeninteresse verfolgt wurde, erwähnt keiner der Rezensenten die nationale Erregung der Mailänder oder mögliche Vergleiche zwischen dem Chor der Hebräer und dem Schicksal der Italiener. Es gibt auch keinerlei Hinweis, dass die Zensoren am Libretto Nabuccos Anstoß nahmen; und das, obwohl bestimmte Verse oder manchmal auch nur einzelne Worte häufig aus den Libretti auf dem Spielplan stehender Opern gestrichen wurden. Später, seit 1846, gibt es vereinzelt politische Bezugnahmen auf Verdis Opern Ernani, I Lombardi und Attila, doch in den musikalischen Untermalungen patriotischer Veranstaltungen dieser Zeit glänzt der inzwischen auch international bekannte Verdi vor allem durch Abwesenheit. Seine angeblich so patriotischen Chöre erscheinen nicht auf den Programmen revolutionärer Konzerte und Festlichkeiten.[7] Der dritte Akt von Ernani wurde seit 1846 gelegentlich auf den „liberalen“ Papst Pius IX. bezogen, doch waren dies ausschließlich offizielle Feierlichkeiten für den weltlichen Herrscher im Kirchenstaat, keine spontanen Sympathiebekundungen des Volkes; und entsprechende Papst-Hymnen waren keine Ausnahmen und auch nicht auf Verdi beschränkt. La Battaglia di Legnano, im Januar 1849 in Rom uraufgeführt, war tatsächlich auf die politischen Ereignisse bezogen, doch sagt dies wenig bezüglich der Rezeption seiner früheren Werke. Als die Oper einige Jahre später im Zuge der Einigung in Bologna auf die Bühne kam, schrieb die Presse jedoch, dass sie nicht genügend den Patriotismus der literarischen Vorlage von Giovanni Berchet widerspiegele, die der Komponist zu einer „privaten Geschichte um Liebe und Eifersucht“ reduziert habe.[8]
Trotz der intensiven Forschungsdiskussion der letzten Jahrzehnte findet sich das erst im späten 19. Jahrhundert konstruierte Cliché von Verdi als dem Barden des Risorgimento und der besonderen Funktion Nabuccos in dieser Entwicklung jedoch immer wieder: in der Populärkultur (Filmen zu Verdi oder zur Nationalbewegung; populärwissenschaftlichen Biografien; Schallplattenbeilagen oder Opernprogrammen); im politischen Diskurs (beispielsweise zur 150-Jahrfeier der italienischen Einigung 2011 oder dem zweihundertsten Geburtstag des Komponisten 2013); und in den noch immer mit großer Passion ausgefochtenen musikwissenschaftlichen Debatten.[9] Die Dekonstruktion der Legende wird dadurch kompliziert, dass sich zum einen in Verdis Briefen aus späterer Zeit, um 1848, tatsächlich Bezugnahmen auf die Nationalbewegung finden; zum anderen hat Verdi (unterstützt durch seinen Verleger Ricordi und seine frühen Biografen) nach Vollendung der italienischen Einigung am Mythos und der Konstruktion seiner patriotischen Lebensgeschichte selbst kräftig mitgebastelt.[10] Dabei rückten dann Nabucco und der Va pensiero-Chor plötzlich in den Fokus national inspirierter Biografik (Quelle 3.) Die spätere Identifizierung Verdis mit der nationalen Bewegung und die im Zuge der Ereignisse zunehmend national inspirierte Rezeption seiner Musik bedeuten jedoch nicht, dass die frühen Opern, insbesondere Nabucco, bereits Anfang der 1840er-Jahre als Beitrag zur nationalen Befreiung verstanden wurden. Auch bedeutete dies nicht, dass der Komponist schon in der Frühphase des Risorgimento als Fürsprecher der Nationalbewegung gefeiert wurde. Die berühmte Leseweise seines Namens als Akronym für den zukünftigen König Italiens auf Graffiti in den Straßen Mailands (Viva V.E.R.D.I = Vittorio Emanuele Re d’Italia / König Italiens) entstanden erst in den Monaten der Einigung um 1859.
Auch die historisch-politische Entwicklung Italiens in den frühen 1840er-Jahren legt die Hinterfragung des patriotischen Mythos um Verdi nahe. Bis Mitte der 1840er-Jahre war die italienische Nationalbewegung tatsächlich nur eine kleine Sekte von Aktivisten, Literaten und gesellschaftlichen Eliten, die kaum Einfluss auf breitere Bevölkerungsschichten hatte. Viele Anhänger lebten im Exil und ihre Schriften waren in den italienischen Staaten nur begrenzt verfügbar. Die Idee eines italienischen Nationalstaats erschien kaum plausibel: Italien hatte nie als Nationalstaat existiert und staatliche Herrschaft hatte mit Nation, wie sie von Propagandisten auf einmal definiert wurde, wenig zu tun. Auch Napoleons Königreich Italien umfasste nur einen Teil der Halbinsel. Nach anfänglicher Begeisterung unter den Jakobinern machte sich schnell Desillusionierung über den französischen Despotismus breit. Viele der Grenzen zwischen den Staaten Italiens waren Jahrhunderte alt und die Habsburger herrschten in Teilen des Nordens seit dem 16. Jahrhundert. Als Großherzoge der Toskana hatten sich aufgeklärte Habsburger zudem ausgesprochen progressiv gezeigt: der Verfassungsentwurf von Pietro Leopoldo, dem späteren Kaiser Leopold II., war gar von der Virginia Bill of Rights inspiriert. Die angebliche Rückständigkeit der alten Staatenwelt war vor allem ein ideologisches Argument der Nationalbewegung, wurde gelegentlich auch von internationalen Akteuren bemüht, die auf der italienischen Halbinsel eigene Interessen verfolgten. Die italienische Sprache, das heißt die Sprache der Toskana, beherrschten lediglich die gebildeten Oberschichten.
Infolge der Französischen Revolution und der napoleonischen Erfahrung zeigte die auf das Gedankengut der Aufklärung und dann der Romantik zurückgehende Idee der Nation und des Nationalstaats trotzdem auch in Italien ihre Wirkung, ohne damit jedoch zunächst breitere Bevölkerungsschichten anzusprechen. Die Geheimbünde der sogenannten Carbonari, häufig mit der entstehenden Nationalbewegung in Verbindung gebracht, hingen noch überwiegend einem früheren Begriff von politischer und individueller Freiheit an, der wenig mit Demokratie und Volkssouveränität gemein hatte. Die Aufstände und Revolutionen der 1820er- und 1830er-Jahre richteten sich zwar gegen die zunehmend als „ausländisch“ wahrgenommene Herrschaft in einzelnen Staaten und den Einfluss Österreichs, doch war es bislang schwierig, diese Proteste in nationalstaatliche Konzeptionen zu übersetzen. Gerade im Kirchenstaat, der sich seit dem frühen Mittelalter über große Teile Italiens erstreckte, stellte die Masse der Einwohner die päpstliche Herrschaft kaum in Frage. Vor diesem Hintergrund erscheint die nationale Deutung von Verdis Frühwerk also kaum plausibel.
Wie Alberto Banti in seiner bedeutenden Studie zum Begriff der Nation in der italienischen Nationalbewegung zeigen konnte, kam es in der zweiten Hälfte der 1840er-Jahre dann zu einer dramatischen Veränderung in der Massenwirksamkeit der italienischen Nationalbewegung.[11] Entscheidend war dabei 1846 die Wahl von Papst Pius IX., der zunächst als Liberaler und Anhänger der nationalen Idee galt. Die von Vincenzo Gioberti und anderen politischen Denkern propagierte Idee einer Föderation der italienischen Staaten unter Vorsitz des Papsts gewann so schnell eine neue Bedeutung und wurde in Folge weithin als mögliche Lösung der sich nun immer deutlicher stellenden nationalen Frage diskutiert. Im Vergleich dazu blieb Mazzinis Strategie einer republikanischen Volkserhebung eher unbedeutend, obwohl auch seine Ideen nun von immer weiter gefassten Bevölkerungsschichten rezipiert wurden. Als dann ausgehend von der Januar-Revolution in Sizilien die Europäischen Revolutionen von 1848 ihren Lauf nahmen, war es jedoch zunächst immer noch das Streben nach Unabhängigkeit von Neapel, das Palermo auf die Barrikaden trieb; und einer der bedeutendsten Protagonisten der Revolution in Mailand, Carlo Cattaneo, arbeitete noch in der Nacht vor dem Aufstand an einer Schrift zur Neuordnung der Lombardei innerhalb der Habsburgermonarchie, ohne dabei an die Einigung Italiens zu denken. Cattaneo war auch ein begeisterter Förderer eines bürgerlich-mittelständischen Bewusstseins in Mailand, unterstützt durch kulturelle Institutionen, Periodika, aber auch durch das Theater. Im Zuge der Ankündigung einer neuen Musikzeitschrift schrieb Cattaneo 1847 einen kurzen Artikel zu Italiens Musikleben.[12] Darin kommentiert er Bellini, Rossini und verschiedene gefeierte Sänger; und mehrmals erwähnt er in diesem Zusammenhang Italiens „sentimento nazionale“ (Nationalgefühl). Doch Verdi erscheint in seinem Aufsatz mit keinem Wort, obwohl der Verleger der Zeitschrift ein Bekannter des Komponisten war, der auch mit dessen Librettisten eng zusammenarbeitete.
Sollte Cattaneo die nationale Erweckung seiner Heimatstadt anlässlich der Aufführung Nabuccos einfach nicht bemerkt haben? Auch Kaiser Franz-Josef, der in Folge der italienischen Einigung immerhin sein Königreich Lombardei verloren hatte, scheint die nationalbewegte Bedeutung Nabuccos entgangen sein. Der Kaiser war von Verdi so begeistert, dass er wenige Jahre nach dem Verlust der Lombardei gleich dreimal den Aufführungen seines Requiems beiwohnte.[13] Auch deshalb ist es naheliegend, dass es zu dem berühmten, mit Nabucco in Verbindung gebrachten nationalen Erweckungserlebnis erst viel später kam: lange nach der Einigung, im Zuge der Konstruktion nationaler Mythen. Nabucco war 1842 durchaus ein großer Erfolg, aber aus ganz anderen Gründen. Wichtig war dabei unter anderem ein bereits vor der Oper auf dem Programm der Scala stehendes, beliebtes Ballett zum gleichen Thema, welches dem Publikum durch die Bibel vertraut und daher leicht zugänglich war.[14] Auch ein französisches Theaterstück über König Nebukadnezar II war derzeit in Italien im Umlauf. Verdis Oper war gewissermaßen nur die musikalische Fassung eines ohnehin beliebten Sujets. Verdi integrierte zudem eine beim Publikum weitgehend auf Zuspruch stoßende neue Form des Chors in seine frühen Opern, doch bedeutete dies nicht, dass diese vom Publikum als Stimmen des (unterdrückten) Volkes verstanden wurden. Erst nach der (insgesamt kaum glücklich verlaufenen) Einigung wurde sich Italien des Bedürfnisses nach Ursprungsmythen und damit auch eines compositore nazionale bewusst, eines Komponisten, der den kulturellen Anspruch der Nation patriotisch vertreten konnte. Im Zuge dessen wurden Oper und Nationalbewegung immer enger zusammengerückt. Die Anhänger dieser Idee schrieben nicht nur Verdis Biografie entsprechend um, sondern auch die Geschichte des italienischen Musiktheaters im 19. Jahrhundert.
Noch zwei Punkte sollten im Zusammenhang mit der Dekonstruktion nationaler Mythen um Verdi Erwähnung finden. Gerade im Fall des italienischen Musiktheaters bemühen Kritiker und Kommentatoren häufig ein weiteres Cliché, das des unbedingt nationalen Charakters von Musik. In ihrer philosophischen und musikästhetischen Dimension gehen solche Ideen zurück auf Jean-Jacques Rousseau, dessen Oper Le Devin du village und die sogenannte Querelle des Bouffons in der französischen Aufklärung.[15] Dabei wird vergessen, wie stark gerade die italienische Oper seit dem 18. Jahrhundert von internationalen Einflüssen und vor allem von aus dem deutschen Sprachraum stammenden Komponisten geprägt war. Zu nennen wären hier der zum Katholizismus konvertierte Bachsohn Johann Christian, aber auch Georg Friedrich Händel, Johann Adolf Hasse, Adalbert Gyrowetz, Peter von Winter, Joseph Weigl und vor allem Johann Simon Mayr, der über 70 Opern für die Bühnen Italiens schrieb und zu dessen bekanntesten Schülern Donizetti zählt. Rossini wurde gelegentlich als „Tedeschino“ (kleiner Deutscher) beschimpft, nicht nur wegen seiner politischen Haltung sondern auch weil er im Stil angeblich zu stark von deutscher Musik geprägt war. Nabucco sollte ursprünglich von dem ebenfalls in Italien sehr beliebten preußischen Komponisten und Begründer der Wiener Philharmoniker Otto Nicolai in Musik gesetzt werden. Später machte sich der Einfluss des schon erwähnten Giacomo Meyerbeers in Italien bemerkbar. So wäre es auch vollkommen falsch, Verdi als den „italianissimo“ von internationalen Einflüssen freizusprechen. Seine Konzeption des musikalischen Dramas entstand in Auseinandersetzung mit Shakespeare, Schlegel und Schiller. In seiner ästhetischen Entwicklung nahm er zudem Elemente der französischen grand opéra auf, die selbst ein transnationales Phänomen war.[16] Verdi selbst schrieb nach der Einigung vor allem für ausländische Bühnen. Nur wenige seiner Opern blieben einzig in Italien im Repertoire. Sein Werk wurde zudem gerade in Italien, sowohl von der Presse als auch vom Publikum, häufig eher kritisch aufgenommen. Bezüglich Nabucco kritisierte die musikalische Presse den „ohrenbetäubenden Lärm“.[17] Die erste Venezianische La Traviata (1853) kommentierte der Komponist lediglich mit den Worten „Fiasco. Fiasco. Fiasco“. Auch die Mailänder Erstaufführungen von La Forza del destino, I Masnadieri,Un Ballo in maschera und Aida waren allesamt von Unmutsäußerungen des Publikums überschattet.[18] Der einflussreiche Kritiker des Universo Illustrato, Emilio Treves, bemerkte 1867, dass Verdi in seiner langen Karriere „mehr als nur ein fiasco zu erleiden hatte“ und „häufig seine Verdienste in Zweifel gezogen sah“.[19]
Während Verdi also durchaus gelegentlich in der Kritik stand und sich die italienische Oper in den Jahren nach der Einigung überhaupt in einer Krise befand, sah sich das italienische Musiktheater selbst einer bemerkenswerten Internationalisierung ausgesetzt. So machte die Einigung das Theater nicht nationaler, sondern internationaler. Besonders Wagner erhitzte die italienischen Gemüter, fand dabei aber auch eine bemerkenswerte Anhängerschar. In Bologna wurde Lohengrin, nach der Premiere 1871, zur meistgespielten Oper des legendären Teatro Comunale, gefolgt von La Traviata, aber mit Tristan und Isolde auf dem dritten Platz.[20] Für Italien war das „musica del futuro“,[21] der Aufbruch in die Moderne, die über die Ästhetik des legendären compositore nazionale hinausging. Gleichzeitig begann die internationale Verdi-Renaissance des 20. Jahrhunderts ausgerechnet im deutschen Sprachraum, wobei vor allem die Begeisterung Franz Werfels für den Komponisten den Ausschlag gab.[22] Diese transnationalen Vernetzungen wiesen Versuche zur nationalen Vereinnahmung von Oper immer wieder in die Schranken. Denken wir beim Thema Oper im „Dritten Reich“ schnell an Wagner, war der meistgespielte Opernkomponist Nazi-Deutschlands Giuseppe Verdi.
Moderne Musik half, die Erfahrung sozialen Wandels zu verarbeiten; und die internationale Dimension dieser Moderne wurde zu einer Strategie, die sich verändernde Semantik historischer Zeit zu entschlüsseln.
[1] Essay zu den Quellen: Oper und Mythos am Beispiel Giuseppe Verdis „Nabucco“.
[2] Siehe beispielsweise die aufschlussreiche Studie von Ther, Philipp, In der Mitte der Gesellschaft. Operntheater in Zentraleuropa 1815–1914, München 2006.
[3] Woodfield, Ian, Performing Operas for Mozart. Impresarios, Singers and Troupes, Cambridge 2012.
[4] Jahrmärker, Manuela, Themen, Motive und Bilder des Romantischen. Zum italienischen Musiktheater des 19. Jahrhunderts, Berlin 2006.
[5] Polzonetti, Pierpaolo, Italian Opera in the Age of the American Revolution, Cambridge 2011; Körner, Axel, Uncle Tom on the Ballet Stage. Italy’s Barbarous America, 1850–1900, in: The Journal of Modern History, 83 (2011), H. 4, S. 721–752.
[6] Parker, Roger, ‚Arpa d’or dei fatidici vati‘. The Verdian Patriotic Chorus in the 1840s, Parma 1997, S. 23.
[7] Siehe z.B. die “Grande Accademia per Argomento di Patria e Cittadina Carità” im Dezember 1848 in Venedig: Parker, ‚Arpa d’or dei fatidici vati‘, S. 129.
[8] Monitore di Bologna, 28. Dezember 1860.
[9] Siehe dazu insbesondere die Beiträge in Opera and Nation in Nineteenth-Century Italy, Journal of Modern Italian Studies, Sonderheft 12 (2012), H. 3. Ein Beispiel für die traditionelle Sichtweise ist die ansonsten sehr informative Biografie von Mary Jane Philips-Matz, der zufolge Verdi mit den Opern Nabucco, Ernani und Attila Waffen für die Revolution von 1848 geschmiedet hätte: Verdi. A Biography, Oxford 1993, S. 50f. Ähnlich Martin, George, Verdi and the Risorgimento, in: Weaver, William; Chusid, Martin (Hgg.), The Verdi Companion, New York 1979, S. 13–41; Gossett, Philip, Becoming a Citizen. The Chorus in Risorgimento Opera, in: Cambridge Opera Journal, 2 (1990), H.1, S. 41–64.
[10] Wegweisend für die Revision des traditionellen Verdibilds war Roger Parkers Einleitung zu der kritischen Edition von Nabucco: The Works of Giuseppe Verdi, Reihe 1, Bd. 3, Chicago 1987. Weiterhin Parker, ‚Arpa d’or dei fatidici vati‘; ders., Leonora’s Last Act. Essays in Verdian Discourse, Princeton 1997; Smart, Mary Ann, Liberty On (and Off) the Barricades: Verdi's Risorgimento Fantasies, in: Russell, Albert Ascoli; von Henneberg, Krystyna (Hgg.), Making and Remaking Italy. The Cultivation of National Identity around the Risorgimento, Oxford 2001, S. 103–118. Auch Budden, Julian, The Operas of Verdi, Bd. 1. London 1973, S. 61–96.
[11] Banti, Alberto M., La nazione del Risorgimento. Parentela, santità e onore alle origini dell'Italia unita, Turin 2000.
[12] Cattaneo, Carlo, Programma al giornale L'Italia musicale (1847), in: ders., Scritti letterari (herausgegeben von Piero Treves), Florenz 1981, S. 422–428.
[13] Zur Verdi Rezeption Deutschland und Österreich siehe Kreuzer, Gundula, Verdi and the Germans. From Unification to the Third Reich, Cambridge 2010.
[14] New York Public Library, Walter Toscanini Collection, Libretti di ballo, Nr. 432.
[15] Blanning, Timothy, The Culture of Power and the Power of Culture. Old Regime Europe 1660–1789, Oxford 2002, S. 356–427; Charlton, David, Genre and form in French opera, in: Del Donna, Anthony R.; Polzonetti, Pierpaolo (Hgg.), The Cambridge Companion to Eighteenth-Century Opera, Cambridge 2009, S. 155–183; Launay, Denise (Hg.), La Querelle des bouffons, 3 Bde., Genf 1973.
[16] Hierzu vor allem Gerhard, Anselm, Die Verstädterung der Oper. Paris und das Musiktheater des 19. Jahrhunderts, Stuttgart 1992.
[17] Zum Beispiel La Farfalla und Teatri Arti e Letteratura, zitiert in Verdi, Luigi (Hg.), Le opere di Giuseppe Verdi a Bologna (1843–1901), Lucca 2001, S. 3f.; auch Mondo Illustrato, zitiert in Tedeschi, Rubens, L'Opera italiana, in: Storia d'Italia, Bd. 5/2, Turin 1974, S. 1141–80, 1171.
[18] Phillips-Matz, Verdi, S. 158f., 179; Gatti, Carlo, Il Teatro alla Scala nella storia e nell’arte (1778–1963), Mailand 1964, S. 101. Budden, The Operas of Verdi, Bd. 2, S. 339.
[19] L’Universo Illustrato. Giornale per tutti, 1 (1867), H. 36, S. 577. Zu Verdis Kritikern siehe auch Körner, Axel, Ein soziales „Dramma in musica“? Verdi, alte Notabeln und neue Eliten im Theater des liberalen Italiens, in: Historische Zeitschrift, (2008), H. 287, S. 61–89.
[20] Körner, Axel, Music of the Future: Italian Theatres and the European Experience of Modernity between Unification and World War One, in: European History Quarterly, 41 (2011), H. 2, S.189–212.
[21] „Zukunftsmusik” ist ein allgemeiner Hinweis auf zukünftige musikästhetische Entwicklungen, war aber auch ein direkter Hinweis auf Wagners theoretische Schriften, die in Italien (wie auch in anderen Teilen Europas) schon vor dem Bekanntwerden seiner Musik rezipiert wurden.
[22] Kreuzer, Gundula, Verdi and the Germans. From Unification to the Third Reich, Cambridge 2010.
Literaturhinweise
Anselm, Gerhard; Schweikert, Uwe (Hgg.), Verdi-Handbuch. Zweite überarbeitete Auflage, Stuttgart 2013.
Körner, Axel, The Risorgimento's Literary Canon and the Aesthetics of Reception. Some Methodological Considerations, in: Nations and Nationalism, 15 (2009), H. 3, S. 410–418.
Opera and Nation in Nineteenth-Century Italy, Journal of Modern Italian Studies, Sonderheft 12 (2012), H. 3.
Parker, Roger, ‚Arpa d’or dei fatidici vati‘. The Verdian Patriotic Chorus in the 1840s, Parma 1997.
Smart, Mary Ann, Liberty On (and Off) the Barricades. Verdi's Risorgimento Fantasies, in: Russell, Albert Ascoli; von Henneberg, Krystyna (Hgg.), Making and Remaking Italy. The Cultivation of National Identity around the Risorgimento, Oxford 2001, S. 103–118.