Die Eisenbahn erreicht Venedig[1]
Von Michael Pammer
Im Jahr 1841 stach ein Medailleur, dessen Name auf seinem Werk nicht angegeben ist, eine Bronzemedaille, 51 Millimeter im Durchmesser und knapp 43 Gramm schwer. Sie zeigt auf der Vorderseite eine Brücke, von der sechzehn Bogen zu sehen sind, auf die gerade ein von einer Dampflokomotive gezogener Zug auffährt.[2] Darüber stehen die Worte: COMMERCIIS TERRA MARIQUE AUGENDIS (Zur Förderung des Verkehrs zu Land und zu Meer). Darunter steht: FUGIT OCIOR VENTIS (Schneller als der Wind flieht sie dahin). Die Unterschrift spielt wahrscheinlich auf die „Punica“ an, ein Epos von Silius Italicus aus dem 1. Jahrhundert, wo es heißt: „ventis fugit ocior“ (XIII, 242). Auch bei Silius geht es um ein Fahrzeug, nämlich um die Liburna, ein schnelles Ruderschiff der römischen Kriegsflotte, mit deren Kraft und Geschwindigkeit Silius den mächtigen Speerwurf des Scipio vergleicht.
Auf der Rückseite der Medaille steht: EX / INDULGENTIA / FERDINANDI I AUG[USTI] / AUSTR[IAE] IMP[ERATORIS] LONG[OBARDIAE] VEN[ETIAEQUE] REGIS / LAPIDEM AUSPICALEM PONTIS PER VENETA AESTUARIA / AERE SOCIORUM CONSTRUENDI / RAINERIUS ARCHID[UX] AUSTR[IAE] / VICE SACRA / ANNO MDCCCXLI / POSUIT (Durch die Güte Ferdinands I., Kaiser von Österreich, König der Lombardei und Venedigs, hat in dessen Vertretung Rainer, Erzherzog von Österreich, im Jahr 1841 den Grundstein der Brücke gelegt, die aus den Mitteln der Gesellschafter über die Lagune von Venedig gebaut werden soll).
Wer waren die genannten Personen? Ferdinand I., genannt der Gütige, war seit 1835 Kaiser von Österreich, 1848 übergab er die Regierung an seinen Neffen und Nachfolger Franz Joseph I. Zugleich war er König von Lombardo-Venetien (als solcher 1838 gekrönt), eines Staatswesens, das 1815 aus Teilen des Königreichs Italien (dieses bestehend von 1805 bis 1814) gegründet worden war. Lombardo-Venetien umfasste die Gebiete der früheren Herzogtümer Mailand und Mantua, die bereits von 1714 bis 1796/97 österreichisch gewesen waren, sowie große Teile der früheren Republik Venedig, die Österreich von 1797 bis 1805 ebenfalls kurz innegehabt hatte.
Regiert wurde das Königreich theoretisch von einem Vizekönig, der aber de facto wenig Einfluss ausübte, da die Regierung in Wien die Geschäfte bestimmte. Längstdienender und letzter Vizekönig war der auf der Medaille erwähnte Erzherzog Rainer, ein Bruder von Kaiser Franz I. und Onkel von Ferdinand I., der das Amt von 1818 bis 1848 ausübte. Nach der Revolution 1848 amtierte anstelle eines Vizekönigs ein Generalgouverneur, am längsten Feldmarschall Josef Graf Radetzky, der schon seit 1831 Oberkommandeur der österreichischen Armee im Königreich gewesen war und auch im Krieg gegen Sardinien 1848/49 erfolgreich kommandiert hatte. Nach der Niederlage im Sardischen Krieg 1859 musste Österreich die Lombardei abtreten, nach dem Preußisch-Deutschen Krieg 1866 auch Venetien.
Die auf der Medaille ebenfalls genannten Gesellschafter waren die Anteilseigner der Lombardisch-venetianischen Ferdinands-Bahn. Diese Aktiengesellschaft wurde 1837 in Venedig gegründet, Zweck war die Errichtung einer Verbindung zwischen Venedig und Mailand über Padua, Vicenza, Verona, Brescia und Bergamo.[3] Sofort nach Zulassung der Gesellschaft wurde mit dem Abschnitt zwischen Mestre und Padua begonnen, der 1842 eröffnet wurde. Die Verlängerung nach Vicenza wurde vier Jahre später eröffnet, gleichzeitig war der Abschnitt von Mailand nach Treviglio fertig. In den Jahren 1844 und 1845 frequentierten täglich zwischen 700 und 900 Personen die Verbindung von Mestre nach Padua, bei steigender Tendenz.[4] Die normale Geschwindigkeit betrug knapp 30 Stundenkilometer (1851 wurde zwischen Venedig und Verona eine Eilverbindung eingerichtet, die eine Durchschnittsgeschwindigkeit von 45 bis 50 Stundenkilometern erreichte).[5]
Ebenfalls 1837 begannen die Vorbereitungsarbeiten für die Bau der Brücke über die Lagune von Venedig. Die Brücke war etwas über 3.600 Meter lang und ruhte auf 222 Bogen. Sie war, wie die ganze Lombardisch-venetianische Eisenbahn, doppelgleisig und wurde durch einen großen und vier kleine Plätze mit 136 beziehungsweise 100 Meter Länge und 36 Meter Breite gegliedert, die eine Erleichterung für Personen und Verkehr bieten sollten. Außer den Geleisen für die Eisenbahn wurde auch der Einbau einer Wasserleitung geplant, das Wasser aus dem Sile nach Venedig leiten sollte (Venedig war auf Zisternenwasser angewiesen); realisiert wurde eine Wasserleitung nach Venedig dann erst einige Jahrzehnte später. Der eigentliche Brückenbau begann am 7. April 1841, die Grundsteinlegung durch Erzherzog Rainer erfolgte tags darauf. Im Oktober 1845 war die Brücke und damit die Verbindung von Venedig nach Vicenza fertig, der Eisenbahnverkehr wurde 1846 aufgenommen.
Die Brücke wurde als Steinbogenbrücke ausgeführt.[6] Sie wird in manchen Reiseführern (und schon von zeitgenössischen Beobachtern) als die seinerzeit längste Brücke der Welt bezeichnet. Die Ausführung als Steinbrücke entsprach zur Zeit der Errichtung dem Stand der Technik. Bogenbrücken aus Gusseisen wurden zwar schon seit dem Ende des 18. Jahrhunderts gebaut, die ersten Anwendungen im Eisenbahnbau stammen erst aus der zweiten Hälfte der vierziger Jahre des 19. Jahrhunderts. In der Folge ging man bald auf Stahl über, weil Gusseisen für die im Eisenbahnverkehr auftretenden Beanspruchungen nicht sonderlich gut geeignet ist. Steinbogenbrücken wurden freilich auch weiterhin errichtet, auch unter schwierigen Bedingungen, etwa bei der Semmeringbahn, einer Gebirgsbahn, oder dem Franzdorfer Viadukt, der über schlecht tragendem Grund gebaut werden musste.
Unabhängig von der Verbindung Venedig–Mailand wurde eine Verbindung von Mailand nach Norden geplant. Dafür wurden ursprünglich zwei Gesellschaften gebildet, die Strecken von Mailand nach Monza (fertiggestellt 1840) beziehungsweise von Mailand nach Como separat projektierten, aber 1846 miteinander fusionierten. Die Strecke verlief dann nach einer Änderung der Trassenführung von Mailand über Monza nach Como.
Die Lombardisch-venetianische Bahn wurde in weiterer Folge mit der Bahn von Genua nach Turin und dem Lago Maggiore verbunden, im Osten mit der von Wien nach Triest führenden Südbahn. Sie war damit eine wesentliche Verbindung zwischen der italienischen Halbinsel, der Schweiz und dem österreichischen und ungarischen Raum.
Abgesehen von ihrer Bedeutung im Kontext eines mehrere große europäische Regionen verbindenden Verkehrssystems ist diese Bahn auch ein typischer Fall der Verkehrspolitik in der ersten Zeit des Eisenbahnwesens. Bereits in den ersten Jahren der Lokomotiveisenbahnen entstand bei der Wiener Regierung ein Bewusstsein von der Wichtigkeit des neuen Transportmittels für die Wirtschaft, aber auch fürs Militär und die innere Sicherheit. Man befand, dass private Investoren bei der Linienführung von großen, nicht nur lokalen Bahnen zu wenig auf langfristige Bedürfnisse großer Landesteile, auf die Abstimmung mit ausländischen Bahnlinien und dergleichen bedacht seien.[7] Gleichzeitig musste man zur Kenntnis nehmen, dass die Eisenbahnunternehmungen in der ersten Phase übertriebene Gewinnerwartungen geweckt und entsprechend viel Kapital angezogen hatten, dass sich alsbald aber ein realistischeres Bild ergeben hatte, was zum Rückzug von Investoren geführt hatte. Aus Sicht des Fiskus war relevant, dass Eisenbahnprivilegien und -konzessionen auch mit wirtschaftlichen Leistungen des Staates an die Unternehmen verbunden waren, darunter Grundsteuerbefreiungen und Transportmonopole. Dazu kam das Ansinnen mehrerer Bahnunternehmen, für die Fortführung der Bautätigkeit mit Zinsgarantien des Staates abgesichert zu werden. Es sollte also bei schwachen Betriebsergebnissen das Aktienkapital mit einem festen Mindestsatz verzinst werden, wofür der Fiskus haften sollte.
Vor die Aussicht gestellt, Eisenbahnunternehmen mit Zinsgarantien, Darlehen oder Stützungskäufen zu fördern, nahm die ohnehin etatistisch gesonnene österreichische Regierung einen anderen Weg. Sie erklärte Eisenbahnen zur unmittelbaren Angelegenheit des Staates und definierte sie gesetzlich als solche. Dies geschah Ende 1841 mit einem Dekret, das festlegte, welche Eisenbahnen Staatsbahnen sein sollten und welche Implikationen dieser Rechtsstatus haben sollte (für Ungarn galt das Dekret nicht).[8] Der Begriff der Staatsbahn bezog sich zu diesem Zeitpunkt allerdings noch nicht notwendigerweise auf die Eigentumsverhältnisse. So wurde die Verbindung Venedig–Mailand–Como sofort zur Staatsbahn erklärt, obwohl sie zu diesem Zeitpunkt im Privateigentum stand. Der staatliche Aspekt bestand in der „obersten Leitung“ dieser Bahnen durch den Präsidenten der Hofkammer, also der obersten Finanz- und Wirtschaftsbehörde. Diese Leitung bestand in der Festlegung von Standards für Unter- und Oberbau, für Wachhäuser, Bahnhöfe und so weiter. Die private Bauausführung war die bevorzugte Variante. Wo jedoch auf definierten Staatsbahnstrecken keine privaten Unternehmer tätig waren oder wo sie sich als überfordert erwiesen, war der Eisenbahnbau unmittelbar auf Staatskosten vorgeschrieben; in diesen Fällen legte der Staat auch die Trasse fest, was ohnehin ein Hauptanliegen der Regierung war. Dies war auch die für zukünftige Linien vorgesehene Variante. Jedenfalls sollte aber der Fahrbetrieb auf allen Staatsbahnstrecken an Private verpachtet werden.
Obwohl das Dekret prinzipiell die Möglichkeit offenließ, neben den Staatsbahnen auch weiterhin private Bahnen neu zuzulassen, erfolgten außerhalb Ungarns bis auf weiteres keine neuen Konzessionierungen. In der Folge richtete die Hofkammer eine Generaldirektion der Staatseisenbahnen als Dienststelle ein und führte eine Reihe von Eisenbahnbauten selbst aus, darunter auch einige technisch bemerkenswerte Anlagen.
Die im Dekret vorgesehene Rolle als Eisenbahnbauer bei Ausfall der Privaten musste der Staat bald genug übernehmen. Die Verbindung zwischen Vicenza und Treviglio wurde entgegen den Planungen, die eine Fertigstellung der gesamten Verbindung Venedig–Mailand bis 1848 vorsahen, erst ein knappes Jahrzehnt später vollendet.[9] Bereits 1845 suchte die Eisenbahngesellschaft um staatliche Unterstützung an, Anfang 1846 kam die Regierung dieser Bitte nach.[10] Sie übernahm dabei die Fortsetzung des Eisenbahnbaus bis zur Vollendung der Bahn, die Beschaffung des Betriebsmaterials und die Einrichtung des Betriebs auf Kosten des Unternehmens. Dafür wurde ein der Generaldirektion der Staatseisenbahn untergeordnetes Bauinspektorat eingerichtet, das so zu agieren hatte, als würde es sich um die Errichtung einer im Staatseigentum befindlichen Bahn handeln. Die eigenen Verwaltungsstellen der Eisenbahngesellschaft wurden geschlossen. Die Gesellschaft agierte dann nur mehr in Gestalt eines Aktionärsausschusses, der für die Finanzierung und die Durchführung des Betriebs nach Vorgabe der Staatsverwaltung zu sorgen hatte. An der Fertigstellung bis 1848 wurde auch zu diesem Zeitpunkt noch festgehalten.
Die oberitalienischen Eisenbahnen um 1856, aus: Strach, Eisenbahnen, S. 329. Die Streckenführung der
Lombardisch-venetianischen Ferdinands-Bahn ist farbig hervorgehoben.
Dieses Ziel hätte man unter keinen Umständen erreicht, doch trug auch die Revolution 1848 zu weiteren Verzögerungen bei. Der Aufstand begann am 18. März in Mailand und am 22. März in Venedig, am 23. März erklärte das Königreich Sardinien den Krieg. Bis zum Waffenstillstand am 8. August kam es immer wieder zu Kriegshandlungen, und im März 1849 kam der Krieg zwischen Österreich und Sardinien noch einmal für mehrere Wochen in Gang. Der Aufstand in Venedig wurde überhaupt erst am 24. August 1849 beendet. Im Zug dieser Geschehnisse wurden auch Anlagen der Lombardisch-venetianischen Eisenbahn beschädigt, darunter die Brücke über die Lagune. Es wird berichtet, dass die Aufständischen Ende Mai 1849 zwei Brückenpfeiler gesprengt hatten.[11]
Unterdessen hatte die Regierung sich schon längst dem Problem notleidender Eisenbahnen insgesamt zugewandt. Im Herbst 1846 publizierte der Präsident der Hofkammer, Karl Friedrich von Kübeck, im amtlichen Organ Wiener Zeitung einen Beitrag, in dem er ein kurz zuvor ergangenes kaiserliches Dekret erläuterte:[12] Es sei in den Jahren 1843 bis 1845 zu wilden Spekulationen in Eisenbahnaktien und in der Folge zu einer Wirtschaftskrise gekommen. Um den „Minderungen an den Spiel-, den Fictions- und wirklichen Werthen“ zu begegnen, sei es notwendig, einen „redlichen Käufer“ zu finden, der bereit sei, den „wahren Werth“ für Eisenbahnpapiere zu erlegen. Dieser „redliche Käufer“ war der Fiskus in Gestalt einer neu eingerichteten außerordentlichen Credits-Casse. Diese Credits-Casse war eine eigene Verrechnungsstelle in der Zentralverwaltung (der Form nach waren solche Cassen auch davor schon lange beim Ärar und bei ständischen Behörden in den Ländern gebräuchlich), die für diesen speziellen Zweck vorübergehend betrieben wurde.
Die Maßnahme war zunächst als Beruhigung für die Börse gedacht und erreichte dieses Ziel auch wirklich, da erwartungsgemäß die Kurse der Eisenbahnpapiere wieder stiegen. In den folgenden Jahren übernahm allerdings der Staat tatsächlich einen großen Teil der bereits konzessionierten Privatbahnen im Weg von mehr oder weniger kontinuierlichen Aktienkäufen an der Börse. Dies begann noch Ende 1846 und setzte sich im folgenden Jahr fort. Ende 1847 war der Staat Mehrheitseigentümer mehrerer bis dahin privater Bahnen, darunter der Lombardisch-venetianischen Bahn, von deren Aktien die Credits-Casse etwas über 60 Prozent zusammengekauft hatte und die ohnehin bereits unter Kuratel der Staatseisenbahn stand. Die Ausgabenrechnung für 1847 enthält in der außerordentlichen Gebarung unter dem Titel der Einlösung von Aktien inländischer Eisenbahnen eine Summe von 24,2 Millionen Gulden, das entsprach ungefähr 10 Prozent der Ausgaben.[13]
Nach den Revolutions- und Kriegsjahren stellte sich die Aufgabe, endlich die Lücke in der Verbindung zwischen Venedig und Mailand zu schließen. Die privaten Anteilseigner sahen sich dazu nicht in der Lage und boten dem Staat die Übernahme der restlichen knapp 40 Prozent der Aktien an. 1852 war die Lombardisch-venetianische Bahn komplett verstaatlicht. Zusammen mit der Linie Mailand-Monza-Como bildete sie die Lombardisch-venetianische Staatsbahn. Der Staat hatte dafür insgesamt einen Betrag etwa in Höhe des Aktiennominale erlegt, die letzten 40 Prozent in Form verlosbarer Obligationen. Das waren Anleihen mit festem Zinssatz und Seriennummern, die über mehrere Jahre in Tranchen zurückgezahlt wurden, wobei man die Serien, die im jeweiligen Jahr an die Reihe kamen, durch Los bestimmte. Die letzten Spuren dieses Geschäfts findet man im Staatsschuldenausweis noch 1889.
Die staatlichen österreichischen Eisenbahnen warfen Gewinne ab, die sich je nach Linie im Bereich von etwas über 1 Prozent bis 6 Prozent des Anlagekapitals bewegten und im zeitlichen Verlauf einen Trend nach unten aufwiesen. Im Durchschnitt lag die Rendite unter den Zinsen der Staatsschuld. Die lombardisch-venetianischen Linien schnitten schwächer ab als die anderen Staatsbahnen und erreichten 1855 nur eine Rendite von 1,2 Prozent.
Diese erste Staatsbahnära in Österreich dauerte nur wenige Jahre. Bereits die Kosten der Revolutions- und Kriegszeit hatten zu einer Erhöhung der Staatsschuld von etwas über 1 Milliarde Gulden auf knapp 1,5 Milliarden geführt. Die 1854 und 1855 erforderlichen hohen Ausgaben für die Vorbereitung auf den Krimkrieg, in den Österreich dann nicht mehr eintreten musste, brachten einen Sprung auf über 2,2 Milliarden Gulden. Vorsichtig geschätzt, war damit die Staatsschuld von gut 40 Prozent des Bruttoinlandsprodukts 1847 auf über 70 Prozent 1856 gestiegen.[14]
Bereits 1854 entschloss sich daher die Regierung, Staatseigentum zu verkaufen, was im Fall der Lombardisch-venetianischen Bahn 1856 zu einem Übereinkommen mit einem Konsortium aus Credit-Anstalt, dem österreichischen und dem englischen Zweig von Rothschild und einer Reihe weiterer Investoren führte.[15] Die Bestimmungen beinhalteten unter anderem eine Zinsgarantie des Staates für die neu erfolgenden Aufwendungen der Gesellschaft (die Bahn war zu diesem Zeitpunkt ja immer noch nicht fertiggestellt), ein Einlösungsrecht des Staates im Jahr 1889 und das Heimfallsrecht an den Staat im Jahr 1949. Man dachte langfristig.
Nach den Kriegen 1859 und 1866 gingen die Rechte der österreichischen Regierung hinsichtlich der lombardisch-venetianischen Linien auf die italienische Regierung über. Die Wiener Regierung konnte die Einlösung daher nicht mehr vornehmen, wohl aber ab den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts Verstaatlichungen großen Stils in anderen Landesteilen. In den letzten drei Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg erwarb der Staat nach und nach immer weitere Teile des nun viel größer gewordenen Eisenbahnnetzes. Wenige Jahre vor dem Krieg befand sich dann mehr als die Hälfte der österreichischen Eisenbahnen im Staatseigentum. Noch ausgeprägter war die Stellung des Staates im Betrieb: Entgegen den Intentionen der frühen Eisenbahnzeit strebte der Staat nicht den Betrieb seiner Bahnen durch private Unternehmen an, sondern die k. k. Staatseisenbahnverwaltung übernahm im Gegenteil selbst den Betrieb einer Reihe von Bahnen, die noch im privaten Eigentum standen. In diesem Sinn herrschte bereits um die Jahrhundertwende ein Staatsbahnsystem.
Weder in der frühen Eisenbahnzeit noch in der zweiten Staatsbahnära war die tragende Rolle des Staates im Eisenbahnwesen ein österreichisches Spezifikum.[16] Österreich war trotz seiner staatswirtschaftlichen Vergangenheit nicht einmal das erste Land mit Staatsbahnen. Vorreiter war Belgien, wo die Regierung bereits Mitte 1833 einen Gesetzesentwurf einbrachte, der die Errichtung eines staatlichen Eisenbahnnetzes mit dem Mittelpunkt Mechelen einbrachte und der im Frühjahr 1834 angenommen wurde. Als erste Linie dieses Projekts wurde 1835 jene von Brüssel nach Mechelen errichtet.
Auch eine Reihe von deutschen Staaten baute schon früh Staatsbahnen.[17] Im Herzogtum Braunschweig wurde die Bahn von Braunschweig nach Wolfenbüttel durch Beschluss der Landstände auf Staatskosten zwischen Sommer 1837 und November 1838 errichtet; weitere Bahnen folgten. In Baden wurden 1838 die Gesetze über den Bau der Bahn von Mannheim über Heidelberg nach Basel beschlossen, die Inbetriebnahme erfolgte etappenweise ab 1840. In Bayern wurde, nachdem die ersten Privatbahnen bereits errichtet waren, der Bau der Eisenbahn von Hof nach Nürnberg und Augsburg auf Staatskosten 1840 beschlossen. Die München-Augsburger Bahn wurde 1844 in den Staatsbetrieb übernommen, 1846 auch ins Staatseigentum. Die sächsische Regierung dekretierte 1843, dass Bahnen prinzipiell als Privatunternehmen ausgeführt werden sollten, der Staat werde sich aber durch die Übernahme von Aktien beteiligen (dazu kamen staatliche Zinsgarantien). Die Verbindung Dresden-Bodenbach wurde dann 1845 zur Gänze auf Staatskosten errichtet. Auch Württemberg beschloss 1843 ein Gesetz über die Errichtung von Eisenbahnen auf Staatskosten. Ab Anfang der 1850er-Jahre baute der sächsische Staat eine Reihe weiterer Bahnen. In Preußen förderte der Staat den Eisenbahnbau zunächst durch Zinsgarantien, ab 1847 folgten diverse Pläne und Vorschläge für den Staatseisenbahnbau und die Verstaatlichung bestehender Linien, was Ende 1849 zum Gesetz über den Bau der Ostbahn, der westfälischen und der Saarbrücker Bahn führte.
Die Erwägungen waren durchwegs ähnlich: Die Regierungen sahen einen gewissen Unterschied zwischen privaten kommerziellen Interessen und staatlichen Interessen, in denen sich kommerzielle Erwägungen mit regionalpolitischen, außenpolitischen und militärischen Überlegungen mischten. Dass man Investitionen in Eisenbahnen als sonderlich lukrativ und für die Staatseinnahmen förderlich angesehen hätte, war hingegen kein relevanter Beweggrund, denn die meisten Eisenbahnen erwiesen sich, gleich ob im privaten oder im staatlichen Betrieb, als Unternehmen mit nur schwach positiver Kapitalrendite.
Die Eisenbahnbrücke von Mestre nach Venedig besteht immer noch. In den Jahren 1931 bis 1933 wurde neben der Eisenbahnverbindung eine weitere Verbindung für den Straßenverkehr errichtet. In den 1970er-Jahren wurde die Eisenbahnbrücke von zwei auf vier Geleise erweitert. Auf diese Weise verändert, dient mehr als 170 Jahre nach der Grundsteinlegung die alte Brücke über die Lagune immer noch ihrem ursprünglichen Zweck.
[1]Essay zu den Quellen: Bronzemedaille aus Venedig (1841) / von Kübeck, Karl Friedrich: Über die Spekulation in Eisenbahnaktien (1846).
[2] Vgl. die zu diesem Essay veröffentlichte Quelle 1: Bronzemedaille aus Venedig (1841)/ von Kübeck, Karl Friedrich: Über die Spekulation in Eisenbahnaktien (1846).
[3] Wiener Zeitung, 2.8.1837, S. 139; ausführlich zur Geschichte dieser Bahn: Kupka, P. F., Die Eisenbahnen Österreich-Ungarns 1822–1867, Leipzig 1888, S. 81–83, S. 130–137; Strach, Hermann, Geschichte der Eisenbahnen Oesterreich-Ungarns. Von den ersten Anfängen bis zum Jahre 1867, in: Geschichte der Eisenbahnen der Oesterreichisch-Ungarischen Monarchie, I/1, Wien 1898, S. 73–497, hier S. 212–216, S. 284.
[4] Wiener Zeitung, 19.2.1844, S. 397; 12.3.1844, S. 559; 3.1.1846, S. 17.
[5] Wiener Zeitung, 12.10.1851, S. 2963.
[6] Ausführlich zu diesem Projekt: Facchinelli, Laura, Il ponte ferroviario in laguna, Spinea 1987; dies., Il ponte ferroviario fra Venezia e la terraferma, in: Storia dell’Ingegneria. Atti del 1° Convegno Nazionale, Napoli, 8.–9. März 2006, S. 1031–1040.
[7] Wiener Zeitung, 22.12.1841, S. 2645.
[8] Hofkanzley-Decret, 23.12.1841, Sr. k. k. Majestät Ferdinand des Ersten politische Gesetze und Verordnungen für sämmtliche Provinzen des Oesterreichischen Kaiserstaates, mit Ausnahme von Ungarn und Siebenbürgen, Bd. 69, Nr. 145, Wien 1843, S. 332–335.
[9] Österreichischer Beobachter, 2.3.1845, S. 244.
[10] Ebd., 21.1.1846, Außerordentliche Beilage zu Nr. 21.
[11] Wiener Zeitung, 1.6.1849, Abendbeilage, S. 521. Zur Eisenbahn im Krieg in Italien: Köster, Burkhard, Militär und Eisenbahn in der Habsburgermonarchie 1825–1859, München 1999, S. 118–125.
[12] Vgl. die zu diesem Essay veröffentlichte Quelle 2: Anonym [Karl Friedrich von Kübeck], Wiener Zeitung, 20.11.1846, S. 2591. Der Beitrag war nicht gezeichnet, als Autor wird aber der Hofkammerpräsident angesehen. Strach, Eisenbahnen, S. 250. Im Folgenden stammen alle Quellenzitate, soweit nicht anders vermerkt, aus der hier mit veröffentlichten Quelle 2.
[13] Tafeln zur Statistik der österreichischen Monarchie für die Jahre 1847 und 1848, Wien 1853.
[14] Pammer, Michael, Public Finance in Austria-Hungary, 1820–1913, in: Cardoso, José Luís; Lains, Pedro (Hgg.), Paying for the Liberal State. The Rise of Public Finance in Nineteenth-Century Europe, Cambridge 2010, S. 132–161.
[15] Die 1855 gegründete Oesterreichische Credit-Anstalt für Handel und Gewerbe entwickelte sich zur größten Bank Österreichs und später Österreich-Ungarns und war nach dem Prinzip des französischen Crédit mobilier an der Gründung zahlreicher Unternehmen in Industrie und Verkehr beteiligt.
[16] S. die einschlägigen Artikel in: Freiherr von Röll, Viktor, Enzyklopädie des Eisenbahnwesens, 10 Bände, 2. Aufl., Berlin 1912–1922 (digitale Ausgabe (CD-Rom) Berlin 2007).
[17] Ziegler, Dieter, Eisenbahnen und Staat im Zeitalter der Industrialisierung. Die Eisenbahnpolitik der deutschen Staaten im Vergleich, Stuttgart 1996; Klee, Wolfgang, Kleine bayerische Eisenbahngeschichte, Hövelhof 2006; ders., Preußische Eisenbahngeschichte, Stuttgart 1982.
Literaturhinweise
Bernardello, Adolfo, La prima ferrovia fra Venezia e Milano: Storia della imperial-regia privilegiata strada ferrata Ferdinandea Lombardo-Veneta (1835–1852), Venedig 1996.
Facchinelli, Laura, Il ponte ferroviario fra Venezia e la terraferma, in: Storia dell’Ingegneria. Atti del 1° Convegno Nazionale, Napoli, 8.–9. März 2006, S. 1031–1040.
Geschichte der Eisenbahnen der Oesterreichisch-Ungarischen Monarchie, I/1, Wien 1898.
Köster, Burkhard, Militär und Eisenbahn in der Habsburgermonarchie 1825–1859, München 1999.
Ziegler, Dieter, Eisenbahnen und Staat im Zeitalter der Industrialisierung. Die Eisenbahnpolitik der deutschen Staaten im Vergleich, Stuttgart 1996.